Binaurale Tonaufnahme
Eine Binaurale Tonaufnahme ist eine Aufnahme von Schallsignalen mit Mikrofonen, die bei der Wiedergabe über Kopfhörer einen natürlichen Höreindruck mit genauer Richtungslokalisation erzeugen sollen. Bei der Aufnahme in Kunstkopfstereofonie wird häufig ein Kunstkopf verwendet.
Stereo und binaural
Die Bezeichnung „binaural“ wurde früher häufig mit Stereo gleichgesetzt.
Allgemein werden Stereo-Tonaufnahmen allein über Lautsprecheranlagen beim Abhören gemischt; daher der Name „Lautsprecher-Stereofonie“. Dabei werden die vom Menschen zur Lokalisation verwendeten Eigenschaften wie die Kopf- oder Ohrmuschelformen zu Recht nicht berücksichtigt. Dieses liegt daran, dass beim natürlichen Hören und bei der Wiedergabe über die Stereo-Lautsprecher im Stereodreieck das jeweilige Gehör des Zuhörers die Ohrsignale selber bildet.
Binaurale Aufnahmen sind „Stereo“-Aufnahmen mit besonderer Aufnahmetechnik, die jedoch typischerweise nur mit Kopfhörern korrekt wiedergegeben werden sollten; daher der Name „Kopfhörer-Stereofonie“. Binaurale Aufnahmen - welche die durch Kopfhörerwiedergabe unterbundenen natürlichen Ohrsignale ersetzen - sind die beste Möglichkeit, einen räumlichen Höreindruck realitätsnah zu reproduzieren.
Grundlagen des Hörens
Definition eines Hörereignisses
Ein Schallereignis wird erst dann zu einem Hörereignis, wenn die Schallwellen das Gehör durchdrungen haben und im Gehirn als Reiz anliegen. Man kann Schall- und Hörereignis auch nicht direkt vergleichen, da im Mittel- und Innenohr die Reizgestalt verändert wird. Das bedeutet, dass das Ohr das Signal gewissermaßen verzerrt. Diese Reize sind Empfindungen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind und die von Frequenz, Dauer und dem Schalldruckpegel des Schallerereignisses abhängig sind. Empfindungen sind nicht messbar, jedoch durch Hörstudien psychoakustisch erfassbar.
Lokalisation von Schallereignissen
Ein Mensch ist in der Lage, seine wahrgenommenen Hörereignisse bestimmten Richtungen zuzuweisen. Dieses geschieht in verschiedenen Wahrnehmungsrichtungen, deren Lokalisationsschärfe unterschiedlich ist. Dieser Umstand könnte daraus hervorgegangen sein, dass bestimmte Richtungen von Menschen in der Frühzeit besonders gut lokalisierbar sein mussten, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Es wird zwischen Horizontalebene, Medianebene und Frontalebene unterschieden. Alle diese Wahrnehmungsrichtungen sind auf den menschlichen Kopf bezogen und werden in einem kopfbezogenen Koordinatensystem dargestellt. Die 0°-Achse geht, wie in der Abbildung erkennbar, von frontaler Ansicht des Kopfes aus. Die Lokalisation von impulshaltigen Signalen mit einem breitbandigen Frequenzgang, wie zum Beispiel bei Musik, gelingt dem Menschen recht leicht.

oben: 1. Horizontalebene (Transversalebene)
mitte: 2. Medianebene (Sagittalebene)
unten: 3. Frontalebene
Horizontalebene: Sobald die Schallquelle nicht mehr direkt auf der 0°-Achse liegt, kommt es zu unterschiedlichen interauralen Signalen, also interauralen Laufzeitdifferenzen (ITD) und interauralen Pegeldifferenzen (ILD). Laufzeitdifferenzen (Laufzeitunterschiede) können durch das menschliche Gehör bereits ab einer Größe von 10 µs zur Richtungslokalisation ausgewertet werden. Dieses entspricht einer Lokalisationsschärfe in der Horizontalebene von etwa einem Grad. Bis zu einer Laufzeitdifferenz von 0,63 ms erhöht sich die seitliche Lokalisation in etwa proportional zum Laufzeitunterschied. Eine Laufzeitdifferenz von 0,63 ms entspricht einer Wegstreckendifferenz des Schalls 21,5 cm. Diese, auch „Hornbostel-Wertheimer Konstante“ genannte Größe, entspricht der Wegstreckendifferenz bei Schalleinfall aus 90° bzw. 270° Einfallsrichtung bei einem durchschnittlichen Abstand der beiden Ohren am menschlichen Kopf.
Die Duplex-Theorie wurde von Lord Raleigh (J. W. Strutt 1907) angegeben. Diese Theorie trägt wesentlich zum Verstehen des Vorgangs beim „natürlichen Hören“ beim Menschen bei. Es ist die sehr einfache Erkenntnis, dass die interauralen Laufzeitdifferenzen ITD bei Frequenzen als Phasendifferenzen unterhalb 800 Hz bei der Richtungslokalisation als Ohrsignale bedeutsam sind, während bei Frequenzen oberhalb von 1600 Hz allein die interauralen Pegeldifferenzen ILD wirksam sind.
Interaurale Pegeldifferenzen entstehen nicht nur durch die unterschiedlichen Weglängen und die dadurch unterschiedliche Dämpfung, sondern auch durch Abschattungen durch den Kopf. Beide Phänomene, besonders aber das letztere, sind stark frequenzabhängig, da Frequenzen mit Wellenlängen in der Größenordnung des Hindernisses kaum noch gebeugt werden, sondern am Hindernis reflektiert werden. Tiefe Frequenzen unterhalb von etwa 300 Hz bilden dagegen keinen Schallschatten und damit keine wahrnehmbaren Pegeldifferenzen aus.
Schallereignisse, die bei der Aufnahme mit dem Kunstkopf genau aus der Mitte kommen, also auf der 0°-Achse liegen, können beim späteren Abhören nicht lokalisiert werden. Dass in der Realität solche Schalle dennoch lokalisiert werden können, liegt möglicherweise daran, dass ein Mensch seinen Kopf nie vollkommen ruhig hält und dadurch Pegel- und Laufzeitunterschiede entstehen.
Medianebene: Bei der Medianebene kann man davon ausgehen, dass es keine Laufzeit- und Pegeldifferenzen an den Ohren gibt. Dennoch kann ein Schallereignis in dieser Ebene lokalisiert werden (wenn auch weniger gut). Dieses geschieht mit Hilfe von Klangfarbenunterschieden, den Spektraldifferenzen, die man aber nicht direkt als Klangunterschied wahrnimmt. Es sind bestimmte Frequenzbereiche, die Blauertschen Bänder, auch „richtungsbestimmende Frequenzbänder“ genannt. Es sind sehr komplexe Formen von Frequenzanhebungen und Absenkungen notwendig, um ein Hörereignis lokalisieren zu können. Naturgemäß dürfen Hörereignisse für diese Art der Lokalisation nicht zu schmalbandig sein. Es macht im allgemeinen bei einer Kunstkopfaufnahme keinen Sinn, die gemessenen Signale mit einem Equalizer zu bearbeiten. Durch eine Manipulation des Frequenzgangs werden ansonsten unter Umständen auch richtungsbestimmende Frequenzbänder verändert, was dann zu einer Fehllokalisation führt.
Die Lokalisationsschärfe liegt bei unbekannten Signalen bei rund 17 Grad, bei bekannten Signalen um 9 Grad. Diese Werte gelten für den Blick nach vorne. Je weiter ein Signal aus der Vorwärtsrichtung austritt, desto schlechter wird die Lokalisationsgenauigkeit.
Im-Kopf-Lokalisation
Die Im-Kopf-Lokalisation ist ein als unangenehm empfundener Effekt, der vor allem bei der Kopfhörerwiedergabe, aber auch bei Lautsprecherwiedergabe eintreten kann. Die Hörereignisse werden dann nicht mehr außerhalb des Kopfes lokalisiert, sondern im Kopf. Das Gehirn vergleicht die eintreffenden Signale mit bekannten Signalen. Wenn die neuen Signale unbekannt sind, kann es zu einer Im-Kopf-Lokalisation kommen. Bei Lautsprechern tritt dieser Fall bei Verpolung ein und wenn man sie in einem Winkel von mehr als 90 Grad aufstellt.
Eine solche Lokalisation kann experimentell simuliert werden, indem man bei einem Stereosignal, dessen beide Kanäle identisch sind, die Amplitudenwerte eines der beiden Kanäle spiegelt (invertiert) und sich das resultierende Signal mit Kopfhörern anhört.
Diffusfeldentzerrung und Freifeldentzerrung
In den Anfangszeiten dieses Aufnahmeverfahrens waren alle Kunstköpfe freifeldentzerrt. Anfang der 80er Jahre entwickelte das Institut für Rundfunktechnik mit der Firma Neumann den KU80 zum KU81, dessen einziger Unterschied die Entzerrung der Mikrofone war. Der KU80 war nicht geeignet, die Kunstkopfaufnahmen über Lautsprecher wiederzugeben, weshalb die damals verwendete Freifeldentzerrung in Frage gestellt wurde.
Messungen im freien Schallfeld (Freifeld) werden ohne reflektierende akustische Begrenzungsflächen, durchgeführt. Diese Bedingungen erhält man mit guter Näherung in einem reflexionsarmen Raum. Der daraus entstehende Freifeldfrequenzgang gilt nur für eine bestimmte Schalleinfallsrichtung. Da ein ebener Frequenzgang gewünscht ist, muss man das Signal mit Hilfe eines Filters entzerren. Bei Druckmikrofonen wie sie bei einem Kunstkopf verwendet werden, unterscheidet sich der Diffusfeldfrequenzgang sehr stark vom Freifeldfrequenzgang. Das liegt daran, dass bei Druckmikrofonen bei Direktschall aus 0°-Besprechungsrichtung, bei einem Membrandurchmesser von ca. 18 mm, eine Pegelanhebung um 6 dB bei 10 kHz im Übertragungsmaß stattfindet. Das wird durch die Schallwellen verursacht, deren Wellenlänge dem Membrandurchmesser entsprechen oder kleiner sind. Diese werden an der Membran reflektiert und der Schalldruck verdoppelt sich somit an der Membran. Im Diffusfeld führt das zu einem Höhenabfall, da Frequenzen mit kleinerer Wellenlänge nicht mehr um die Mikrofonkapsel gebeugt werden. Das betrifft allerdings nur Frequenzen aus seitlicher oder rückwärtiger Schalleinfallsrichtung. Für Schallwellen, die von vorne auf die Membran auftreffen, also aus der Nähe der Vorne-Schalleinfallsrichtung, kommt es zu einer Pegelanhebung um 6 dB. Da der Kunstkopf aber nicht für die Aufnahme im Nahfeld gedacht ist, sondern eher eine größere Entfernung zur Schallquelle hat, spielt der Diffusfeldfrequenzgang eine erheblich größere Rolle. Das Diffusfeld ist gekennzeichnet durch gleichmäßig einfallende Schallanteile aus allen Richtungen. Es gibt im diffusen Schallfeld also nicht nur eine Schalleinfallsrichtung, wie es beim freien Schallfeld der Fall ist.
Datei:FrequenzgangDruckempfänger.png Bild: Übertragungsmaße eines Druckmikrofons
Bei der Wiedergabe über Kopfhörer sollte ebenfalls ein diffusfeldentzerrter Kopfhörer verwendet werden. Die Kopfhörer mit einem ebenen Diffusfeldübertragungsmaß bieten eine optimale Klangneutralität. Besser wäre dazu ein Kopfhörer mit einer speziellen IRT-Entzerrung.
Aufnahmetechnik
Ohne Kunstkopf
Bei der einfachsten binauralen Aufnahmemethode braucht man zwei Mikrofone, die seitwärts voneinander weg zeigen und einen Abstand (Mikrofonbasis) von etwa 17 cm bis 22 cm zueinander haben. Beliebt sind die geheimnisvollen 17,5 cm. Dieser Ohrabstand und die Platzierung stellen angenähert die Position der Gehörgänge (Ohrkanäle) eines durchschnittlichen Menschen dar. Ein den Schall absorbierender oder auch reflektierender Trennkörper, wie beispielsweise ein Fußball oder eine Metallplatte, wird zwischen die Mikrofone platziert, um einen Kopf angenähert zu simulieren. Eine bekannte Ausführung dieser Anordnung ist die Jecklin-Scheibe OSS, eine absorbierende, 30 cm große Scheibe zwischen zwei Mikrofonen mit Kugelcharakteristik bei einer Mikrofonbasis von 16,5 cm. Die Mikrofone werden dabei leicht nach außen gedreht. In den Scripten von Jecklin findet man neuerdings den vergrößerten Scheibendurchmesser von 35 cm und die jetzt sogar mehr als verdoppelte Mikrofonbasis von 36 cm. Siehe pdf-Scipt Seite 32 ganz unten: OSS - Technik (Jecklin-Scheibe)
Und keiner hat's bemerkt, denn man nimmt immer noch die veralteten 30-cm-Scheiben-Abmessungen und die zu kleine 16,5 cm Mikrofonbasis.
Eine weitere kopfähnliche Anordnung ist das Kugelflächenmikrofon.
Kunstkopfaufnahmen
Aufwändigere Techniken bestehen aus genauen Kopfnachbildungen mittels eines Kunstkopfes. Ein typisches binaurales Aufnahmegerät hat zwei Kondensator-Studiomikrofone mit Kugelcharakteristik, die im Gehörgang des Kunstkopfs eingesetzt sind. Hier werden die in psychoakustischen Forschungsgemeinschaften erarbeiteten kopfbezogenen Übertragungsfunktionen (KBÜF), besser bekannt unter der Bezeichnung HRTF (Head Related Transfer Function), nachgebildet.
Der erste Stereo-Kunstkopf mit Nachbildung des menschlichen Gehörganges wurde bereits 1933 gebaut. Die Kunstköpfe KU-81 und KU-100 der Firma Neumann sind heute die am meisten benutzten binauralen Geräte. Das KEMAR-System ist eine andere Alternative. Das teurere und aufwändigere System von Head Acoustics aus Aachen hat eine automatische Frequenzgangeinstellung und soll einen besseren Rundumeindruck vermitteln. Es ist vor allem in der akustischen Messtechnik verbreitet.
Das erste im deutschen Radio ausgestrahlte Hörspiel in Kunstkopf-Stereofonie war zur Funkausstellung 1973 in Berlin die RIAS/BR/WDR-Produktion „Demolition“ (The demolished man) nach dem Roman von Alfred Bester.
Weitere Alternativen
Es gibt auch Alternativen, die ähnlich arbeiten.
Ohrstecker mit Mikrofon: Diese „Ohrstöpsel mit Mikrofon“, auch unter der Bezeichnung „Originalkopf-Mikrofon“ (OKM) bekannt, sehen aus wie ganz normale Kopfhörer wie man sie von einem Walkman kennt. Sie sind mit Elektretmikrofonkapseln mit Kugelcharakteristik versehen. Die Mikrofone sind mit ganz normalen 3,5-mm-Klinkensteckern ausgestattet und eignen sich somit sehr gut für den mobilen Einsatz, da man mit ganz normalen MiniDisc-Playern oder DAT-Recordern aufnehmen kann. Man kann sich aus dem Nachteil, dass man immer an einen menschlichen Kopf gebunden ist, der sicher nie ganz still gehalten wird, einen Vorteil machen. Es sind für Hörspiele Choreographien möglich, die mit einem herkömmlichen Kunstkopf nicht ohne weiteres möglich wären. Man kann somit nicht nur Bewegungen um den Kunstkopf machen, sondern auch den Kunstkopf ganz bewusst in das Stück mit einbeziehen. Viele Bootlegs von Live-Konzerten werden mit Hilfe dieser Mikrofone produziert, da sie sehr unauffällig zu tragen sind und hervorragende Ergebnisse liefern.
Die Wiedergabe
Eine so hergestellte binaurale Tonaufnahme kann nur bei der Verwendung eines Kopfhörers als „räumlich“ erfahren werden. Die Wiedergabe über Lautsprecher ergibt keinen räumlichen Eindruck, sondern nur einen etwas „hohl“ klingenden Stereo-Effekt. Der Versuch, Kunstkopfaufnahmen mit diffusfeldentzerrtem Kunstkopf auch für Lautsprecherwiedergabe kompatibel zu erklären, ist wegen klanglicher Schwächen nicht angenommen worden.
Das Abhören mit Kopfhörern ergibt eine Hörerfahrung, die die Räumlichkeit des üblichen Lautsprecher-Klangbildes übertreffen kann, da es eine präzisere binaurale Abbildung der Schallwellen ermöglicht. Obwohl die rechts-links-Lokalisation sicher erfolgt, ist die Identifizierung der oben-unten-Position von Tonsignalen schwieriger. Auch die Lokalisierung eines frontalen Schallereignisses bereitet Probleme, da es in einem bestimmten Winkel in die Höhe verschoben scheint. Typisch ist, dass eigentlich vorne vorhandene Signale nur hinten gehört werden.
Lautsprecherwiedergabe
Die Lautsprecherwiedergabe ist eines der größten Probleme der Kunstkopfaufnahmen. Bei der Wiedergabe der Signale sollte darauf geachtet werden dass beide Signale, also das der rechten Seite und das der linken Seite, völlig getrennt an den beiden Ohren ankommen. Das heißt genauer: Das linke Ohr darf nur Signale des linken Stereo-Kanals erhalten und das rechte nur Signale des rechten Kanals. Bei der Kopfhörerwiedergabe ist das selbstverständlich der Fall, jedoch bei einer normalen Stereo-Aufstellung der Lautsprecher nicht. Weiterhin kommt noch hinzu, dass die jeweiligen Nachhallzeiten des Abhörraumes zu den schon aufgenommenen hinzugefügt werden. Hiergegen kann man allerdings nicht viel tun.
Für das Problem der Kanaltrennung gibt es einen Lösungsvorschlag des Heinrich-Hertz-Instituts in Berlin und dem Institut für technische Akustik der TU Berlin. Hier werden, wie in der Skizze zu erkennen, vier Lautsprecher aufgestellt. Die jeweils gegenüberliegenden Lautsprecher „arbeiten zusammen“. Das heißt, die hinteren Lautsprecher sind jeweils phasengedreht, mit einem Filter bearbeitet (Höhenabsenkung) und jeweils so laufzeitverzögert, dass eine Auslöschung hervorgerufen wird. Es ist bei dieser Lautsprecheraufstellung notwendig, die richtige Hörposition einzuhalten.
Der zweite Lösungsvorschlag stammt vom 3. physikalischen Institut in Göttingen. Hier wird jedes Ohr mit einem Lautsprecher beschallt. Man verwendet hier aber nicht mehr die übliche Stereo-Aufstellung der Lautsprecher, sondern die Lautsprecher werden neben dem Hörer positioniert. Es kommt zu Pegel- und Laufzeitunterschieden an den Ohren und auch der Frequenzgang ist verändert. Alle Frequenzen, die im Bereich der Kopfgröße und kleiner liegen, werden am Kopf reflektiert und nicht mehr gebeugt. Die Signale, die immer noch am anderen Ohr ankommen werden durch die entstandenen Laufzeitunterschiede phasenverschoben und dadurch möglicherweise ausgelöscht. Dieses Verfahren erfordert ebenfalls eine feste Einhaltung der Hörposition und ist noch dazu empfindlich gegen Kopfdrehungen. Kann ein Hörer nicht die optimale Hörposition einhalten und sitzt außerhalb, bekommt er immer noch eine der Stereo-Aufstellung ähnliche Klangübertragung, allerdings muss mit Klangfärbungen gerechnet werden.
Anwendungen
Der Kunstkopf ist im Prinzip überall einsetzbar, wo es darum geht eine möglichst naturgetreue Aufnahme von dem zu bekommen, was ein Hörer an der Stelle erhalten würde. Daher kommt der Kunstkopf bei Messungen, Hörspielen und, wenn auch selten, bei Musikaufnahmen zum Einsatz. Bei diesen verschiedenen Anwendungsgebieten werden auch verschiedene Kunstkopfmodelle mit verschiedenen Eigenschaften verwendet.
Messungen
Oft werden bei Messungen ganz normale Messmikrofone verwendet, die sich allerdings für viele Anwendungen nicht wirklich gut eignen, da sie eben den räumlichen Eindruck, also auch das menschliche Hörempfinden, bei der Auswertung der akustischen Signale nicht berücksichtigen. Untersuchungen, die menschliche Eigenschaften mit einbeziehen, sind nur mit Hilfe des Kunstkopfes zu realisieren. Bei Messungen in der Industrie wird der Kunstkopf oft als eine Art „Dummy“ verwendet, der sich in unmittelbarer Nähe von Explosionen, Unfällen, lauten Maschinen oder ähnlichem befindet. Die Kunstköpfe für Messungen sind meistens auch mit speziellen Computerschnittstellen verbunden, um die akustischen Signale auszuwerten. Messungen, die auch noch psychoakustische Parameter, wie zum Beispiel eine Erwartungshaltung des Hörers beinhalten, werden dann meistens auch im Zusammenhang mit Hörstudien ausgewertet.
Hörspiele
Vor allem in den 70er Jahren wurde der Kunstkopf auch bei kreativen Hörspielen eingesetzt. Aber auch heute findet man noch vereinzelt Hörspielproduktionen, die mit dem Kunstkopf aufgenommen wurden. Vor allem bei den öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten. Bei Hörspielen kann man ganz deutlich hören, dass alleine die Aufstellung des Kunstkopfes mit in die Handlung des Stückes und die darin aufkommende Stimmung eingeht, was auch bewusst so eingesetzt wird.
Musikproduktionen
Nur bei sehr wenigen Musikproduktionen wird die Kunstkopftechnik eingesetzt. Dieses liegt nicht an den damit verbundenen Kosten, sondern an der nicht vorhandenen Lautsprecherkompatibilität. Kunstkopfaufnahmen klingen mulmig verfärbt über Lautsprecher, weil zu den kunstkopfeigenen Spektraldifferenzen noch die eigenen Ohrsignale hinzukommen und das doppelt und überkreuz.
Grundsätzlich ist bei Musikaufnahmen zwischen dem im Rock- und Pop-Bereich üblichen „Take-by-Take-Verfahren“ auf mehreren Einzelspuren und reinen Stereo-Aufnahmen zu unterscheiden. Dieses Verfahren ist auch bei Kunstkopfaufnahmen möglich. Man muss, bevor man die Aufnahme beginnt, alle Instrumente so um den Kunstkopf verteilen, wie sie später im Klangbild platziert sein sollen. Man kann die einzelnen Instrumente dann auf einem Multitrack-Recorder wie gewohnt nacheinander aufnehmen. Beim späteren Mixdown ist nur darauf zu achten dass man die einzelnen Signale nicht mehr uneingeschränkt mit einem Equalizer bearbeiten darf, da dieses die richtungsbestimmenden Frequenzbänder beeinträchtigen könnte, die zur Lokalisierung des jeweiligen Instruments wichtig sind. Auch ein Bearbeiten mit dem Pan-Pot ist nicht möglich.
Siehe auch
- Lokalisation (Akustik) | Ohrabstand | Lateralisation | Stereofonie |
- Interaurale Signale | Interchannel-Signal |
- Laufzeitstereofonie | Intensitätsstereofonie | Äquivalenzstereofonie |
- Jecklin-Scheibe | Kugelflächenmikrofon |
Tonträger in Kunstkopfstereofonie
Auf der LP/CD „Tales of Mystery and Imagination“ von „Alan Parsons Project“ wurde im Titel „The Fall of the House of Usher“ das Gewitter in Kunstkopf-Technik aufgenommen.
- Edgar Froese: „Aqua“. LP 1974
- Jane (Rockband): „Fire, Water, Earth & Air“. LP 1976
- Lou Reed: „The Bells“, LP 1979
- delta-acoustic-Sampler: „Kunstkopf-Dimensionen“, LP 10-130-1
- Code III: „Planet of Man“, Delta-Acoustic LP 25-125-1
- Seedog: „We hope to see you“, Delta-Acoustic LP 25-126-1
- Kopfsongs: „Folklore“, Delta-Acoustic LP 25-127-1
- Golem: „Golem“, Delta-Acoustic LP 25-127-1
- alte Musik-Sampler: „Kostproben“, Delta-Acoustic LP 25-129-1
- Pearl Jam: „Binaural“, CD aus dem Jahr 2000 enthält einige binaurale Stücke
Artikel zum Weiterlesen
- „Zur Theorie der optimalen Wiedergabe von stereofonen Signalen über Lautsprecher und Kopfhörer“, Rundfunktechnische Mitteilungen, 1981
- Hudde, H.; Schröter, „Verbesserungen am Neumann-Kunstkopfsystem“, JRTM, 1981
- Kürer, R.; Plenge G.; Wilkens H., „Wiedergabe von Kunstkopfsignalen über Lautsprecher“; Radio Mentor, 1973
- Funkschau, „Natürliches Hören mit künstlichem Kopf“, 1983
- Neumann Broschüre, „Der Kunstkopf – Theorie und Praxis“
- Theile, G., „Die Bedeutung der Diffusfeldentzerrung für die stereofone Aufnahme und Wiedergabe“, München, Institut für Rundfunktechnik IRT
- Kohemann, R. und Genuit K., „Einsatz der Kunstkopftechnik bei Musikproduktionen“
Weblinks
- Kunstkopf der Firma HEAD acoustics, Herzogenrath, Deutschland
- Kunstkopf 4100 - Firma Brüel & Kjaer A/S, Dänemark
- KEMAR Kunstkopf - Firma G.R.A.S. Sound & Vibration A/S, Dänemark
- Kunstkopf „KU 100“ - Firma Georg Neumann GmbH, Berlin
- Kunstkopf „HMS III“ - Firma HEAD acoustics GmbH, Aachen
- Kugelflächenmikrofon - Firma Schalltechnik Dr.-Ing. Schoeps GmbH, Karlsruhe
- Über die Lokalisation im überlagerten Schallfeld - pdf
- OKM-Mikrofone - Soundman, Berlin
- Viele Kunstkopfaufnahmen verschiedener Geräusche zum Download