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Gregorius

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Gregorius oder Der gute Sünder ist eine in Versen verfasste mittelhochdeutsche Legende von Hartmann von Aue.

Inhalt

Im Prolog des Gregorius entwickelt Hartmann allgemeine theologische Gedanken über Schuld und Buße. Herausgehoben ist seine Warnung vor dem zwîvel (desperatio) (V. 56--75) und die Darstellung des biblischen Samaritergleichnises (Lk. 10, 30-35; V. 97-143). Dieses vermengt er mit anderen biblischen Gleichnissen und deren zeitgenössischen Auslegung. Außerdem warnt er vor dem vürgedanc, worunter wohl die Sünde der praesumptio zu verstehen ist (V. 7-34).

Die eigentliche Erzählung beginnt mit der Vorgeschichte des armen Sünders, nämlich der Biographie seiner Eltern (V. 177-922). Der Herr des Landes Aquitanien (Equitânjâ), der nach dem Tod seiner Gattin seine zwei Kinder allein aufzuziehen hat, gerät selbst unerwartet auf das Sterbebett und wird hier von Reue erfasst, die Tochter nicht versorgt zu haben (V. 239-242). So anempfiehlt er das Heil der Tochter dem Sohn (V. 259ff.) und präfiguriert so den Inzest der beiden Geschwisterkinder (V. 273-410), zu dem die Einflüsterungen des Teufels noch beitragen. Die Frucht des geschwisterlichen Beischlafes ist dann das später Gregorius genannte Kind (V. 411-500), das auf den Rat eines väterlichen Freundes in ein Fass gesteckt wird und in einem Kahn auf das Meer geschickt wird, auf dass Gott es - gemäss seiner Bestimmung - verderben lasse oder an ein fernes Ufer treibe, wo es gerettet werde. Derweil begibt sich der Bruder auf einen Kreuzzug (V. 501-922). Zu dem Knaben im Fass wird aber eine Tafel gelegt, die die vornehme Herkunft des Kindes bescheinigt (V. 719-751).

Das weitere Heranwachsen des Kindes wird nun in Vers 923-1824 (bzw. 1841) beschrieben: Der Knabe wird auf eine Kanalinsel getrieben und von dem Abt eines Klosters aus dem Wasser gefischt und in die Obhut einer Fischerfamilie gegeben, derweil der Geistliche selbst die Erziehung und auch die Taufe des Gregorius (V. 1136) übernimmt. Eine umfangreiche Bildung des Knaben und auch einige argumentative Finten des Abtes vermögen jedoch nicht zu verhindern, dass der herangereifte Knabe, statt sich in den Stand der Geistlichkeit zu fügen, Ritter werden will. Der Standeswechsel wird aber mit der Übergabe der Herkunftstafel belastet.

Wurde mit den Wassermotiven, die an den biblischen Jona und deutlicher noch an Moses erinnerten, noch eine Heilswendung in Aussicht gestellt, verfertigt sich mit dem Verlassen des Klosters nun erst einmal das ödipale Inzest-Motiv des Eingangsberichts. Die Verse 1825-2750 berichten, wie der Jungritter eine Stadt von einem Belagerer befreit. Dass es sich bei der Herrin der Stadt, die als alleinregierende Frau so die Begehrlichkeit eines »Römerherzogs« (V. 1999) geweckt hatte, um die Mutter des Gregorius handelt, ist schon mit den Versen 899-922 aufgedeckt worden, sodass die »Verfertigung des Schicksals« durchsichtig bleibt. Der um seine êre bemühte Gregorius stellt sich so dem Zweikampf mit dem Belagerer und freit, nachdem er diesen gewonnen hat, die Herrin der Stadt, die so zu seiner Gattin wird. Erst eine Magd (V. 2295ff.) entdeckt das Geheimnis des neuen Herren, der seine auf der mitgeführten Tafel dokumentierte Abkunft täglich beweint und verrät dies an ihre Herrin, die so erfährt, dass sie Mutter und Gattin desselben Mannes ist (V. 2471ff.).

Die Reue wegen der Tat, die für die Mutter zudem eine Wiederholungstat ist, fordert empfindlichere Bußen. Während die zuvor schon einem christlichen Lebenswandel zugeneigte Mutter nun vollends den Schleier nimmt und auf Hab und Gut verzichtet, zieht sich Gregorius auf einen Inselfelsen als Eremit zurück. Die Verse 2751-3136 beschreiben diese ungewöhnlich scharfe und über siebzehn Jahre (V. 3139) währende Bußform. Nach dem Tod des Papstes in Rom (V. 3144) erscheint der Herr dann zwei angesehenen, mit der Suche eines Nachfolgers betrauten Römern und verkündet ihnen, einen heiligen Mann, der auf einer Insel in Aquitanien lebe, als nächsten Papst bestimmt zu haben. Die Verse 3137-3740 berichten, wie der »Erwählte« gesucht und gefunden wird. Der Romreise, Papstkrönung und Lossprechung der Mutter (V. 3741-3958) schließt sich dann noch ein resümierender und vermeintlich falsche Schlussfolgerungen (praesumptio) abwehrender Epilog (V. 3959-4006) an.

Entstehung und Besonderheiten

Herr Hartmann von Aue (fiktives Autorenporträt im Codex Manesse, fol. 184v, um 1300)

Die Entstehungszeit des Gregorius lässt sich zwischen 1187/89 oder 1190 und 1197 ansiedeln. Die Grundlage dürfte eine volkstümliche Erzählung gewesen sein, die Hartmann vielleicht in der im 12. Jahrhundert verfassten Form der Vie du pape Grégoire zur Kenntnis kam, ohne diese Vorlage jedoch zu bearbeiten. Die legendarischen Motive wie auch die ungewöhnlichen topoi des Werkes brachten immer wieder die Vermutung auf, der Autor könne am dritten Kreuzzug teilgenommen haben. Bemerkenswert am Gregorius selbst ist aber nicht nur die religiöse, »antihöfische Wende« (Wapnewski) Hartmanns, sondern auch die ungewöhnliche Exposition des Erzählers, der alleine mit einem 170 Verse umfassenden Prolog die Einheit von Autor und Erzähler aufzulösen und so zum »mythischen Weltschöpfer« (Kayser 1958) zu werden scheint. Die Funktion dieses Erzählers wird in der neuzeitlichen Adaption des Stoffes durch Thomas Mann in dessen Roman Der Erwählte weiter exponiert.

Rezeption

Überlieferung

Eine Handschrift des Gregorius aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts (Salzburg, Universitätsbibl., Cod. M I 137, 2r-3v).

Der Gregorius ist in fünf (annähernd) vollständigen Handschriften und sechs Fragmenten von der Mitte des 13. bis ins 15 Jahrhunderts überliefert, die mehrheitlich dem oberdeutschen Sprachraum angehören. Nur vom Iwein gibt es unter den Werken Hartmanns mehr Textzeugen. Der Prolog fehlt in den beiden ältesten und in der jüngsten Handschrift, ansonsten ist die Überlieferung relativ konstant.

Die vollständigen Handschriften finden sich alle in Sammelhandschriften, die Epen aus dem historisch-heilsgeschichtlichen Bereich überliefern, wie Strickers Karloder Seifrits Alexander. Ab dem 14. Jahrhundert wird der Gregorius auch mit Legenden und anderen geistlichen Texten überliefert. Mit Konrads von Würzburg Alexius findet sich in Handschrift B eine ähnliche höfische Verslegende. Stoffe, die als Fiktiv verstanden wurden, sind nicht in die Sammelhandschriften aufgenommen worden - ein klares Indiz dafür, daß auch die Gregorius-Erzählung als 'Realität' aufgefasst wurde. Auch die anderen Romane Hartmanns gehören nicht zur Mitüberlieferung des Gregorius.

Bearbeitungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Der Gregorius wurde bis 1450 in drei lateinischen und zwei deutschen Adaptionen verarbeitet. Bedeutend ist insbesondere die lateinische Übertsetzung Arnolds von Lübeck, Abt des Johannisklosters in Lübeck, im Auftrag Herzog Wilhelms von Braunschweig-Lüneburg (spätestens 1213). Dabei veränderte er vor allem die laienhaften theologischen Aussagen des höfischen Dichters zum Teil stark.

Eine lateinische Sammelhandschrift aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verarbeitet den Gregorius in 453 Hexametern. Seit etwa 1330 ist der Stoff in ganz Europa durch die Aufnahme in die Exempelsammlung Gesta Romanorum verbreitet gewesen.

In einer Prosaversion geht Hartmanns Werk in die populärste deutsche Legendensammlung Der Heiligen Leben ein (über 150 Handschriften und mehr als 40 Drucke bis 1521). Noch 1692 nimmt der Kapuzinerpater Martin von Cochem diese Fassung in sein Außerlesenes History-Buch auf. Über den Weg des Predigtexempels gelangt sie im 18. Jahrhundert in die Sphäre des Volksbuches.

Aus dem 15. Jahrhundert ist eine Buchanzeige aus der Schreibwerkstatt des Diebold Lauber überliefert, die eine Handschrift von sante gregorius dem súnder zum Kauf anbietet. Welche Version sich dahinter verbarg, ist heute nicht mehr festzustellen.

Moderne Bearbeitungen

In der Neuzeit bearbeitet Franz Kugler den Gregorius in einer Ballade (1832), die Carl Loewe als fünfsätzige Legende für Gesang und Klavier vertont.

Die bei weitem bedeutendste Bearbeitung erfährt das Hartmannsche Werk in dem Roman Der Erwählte von Thomas Mann (1951).

Ausgaben

  • Gregorius; hg. v. Hermann Paul, neu bearb. v. Burkhart Wachinger, (=Altdeutsche Textbibliothek 2), Tübingen 2004 (ISBN 3-484-20001-4, ISBN 3-484-21102-4)
  • Gregorius der gute Sünder. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch; n. d. Ausg. v. Friedrich Neumann, Übertragung v. Burkhard Kippenberg; Stuttgart (Reclam) 1963
  • Gregorius – Der arme Heinrich. Text – Nacherzählung – Worterklärungen von Ernst Schwarz; Darmstadt (WBG) 1967

Literatur

(Eine umfassende Aufstellung der Arbeiten von 1927-1997 bieten die bei Hartmann von Aue aufgeführten Bibliographien)

  • Ulrike Beer, Das Gregorius-Motiv. Hartmanns von Aue »Gregorius« und seine Rezeption bei Thomas Mann; Meldorf 2002
  • Ulrich Ernst, Der »Gregorius« Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum; (=Ordo 7); Köln u.a. 2002
  • Oliver Hallich, Poetologisches, Theologisches. Studien zum »Gregorius« Hartmanns von Aue; (=Hamburger Beiträge zur Germanistik 22), Frankfurt a.M. u.a. 1995
  • Hermann Henne, Herrschaftsstruktur, historischer Prozeß und epische Handlung. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zum »Gregorius« und »Armen Heinrich« Hartmanns von Aue; Diss., Frankfurt a. M. 1981
  • Ingrid Kasten, Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin. Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns »Gregorius«; in: PBB 115 (1993), 400-420
  • Bernd Lorenz, Bemerkungen zum Motiv der »Zwei Wege« in Hartmanns Gregorius; in: Euph. 71 (1977), 92-96
  • Volker Mertens, Gregorius Eremita: Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in * ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption; (=Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. d. Kommission f. dt. Literatur d. Mittelalters der Bayerischen Akademie d. Wissenschaften, 67); Zürich u. München 1978
  • Friedrich Ohly, Desperatio und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit; in: Helmut Birkhan (Hg.), Festgabe für Otto Höfler zum 75. Geburtstag, (=Philologica Germanica 3), Wien u. Stuttgart 1976, 499-556
  • Bernward Plate, Gregoire und Gregorius. Eine Legende wird zum »Epos der Adelskritik«; in: CoGer 19 (1986), 97-118
  • Wolfgang Spiewok, Zum »Gregorius« Hartmanns von Aue; in: ders., Mittelalterstudien, Bd. 2, Göppingen 1989, 128-137
  • Edith Wenzel u. Horst Wenzel, Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit; in: Harald Haferland u. Michael Mecklenburg (Hg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit; München 1996, 99-114