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Objektive Hermeneutik

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Bei der objektiven Hermeneutik oder auch hermeneutischen Erfahrungswissenschaft handelt es sich um ein qualitatives, interpretatives Verfahren aus den Sozialwissenschaften. Als Begründer der objektiven Hermeneutik gilt Ulrich Oevermann.

Objektbereich

Der Objektbereich der objektiven Hermeneutik ist, was der Philosoph Popper als dritte Welt bezeichnet. Die dritte Welt ist das Resultat interaktiver Schaffung von Neuem (Emergenz) auf der evolutiven Ebene des Menschen. Popper unterscheidet zwischen drei Welten: die erste Welt des Physisch-Materiellen (der erfahrbaren Welt), der zweiten Welt des Subjektiv-Psychischen (der menschlichen Interaktionen und Gedanken) und der dritten Welt des Objektiv-Geistigen. Die Strukturen der dritten Welt werden erzeugt durch ein System generativer Regeln. Der generative Regelbegriff stammt von Noam Chomsky. Ein generatives Regelsystem kann durch eine endliche Zahl von Regeln eine unendliche Zahl von Ergebnissen produzieren. Chomsky griff hierbei auf die mathematische Theorie der rekursiven (auf sich rückbezogenen) Funktionen zurück. Generative Regeln beziehen sich auf universale, wie auf historische Strukturen. Universale Strukturen sind nicht veränderbar, historische hingegen schon. Universal sind diese Strukturen aber nur in Bezug auf die Menschen. Zu den universalen Regeln gehören u.a. die Regeln der Sozialität als zweckfrei sich reproduzierende Reziprozität (Wechselseitigkeit), die universalgrammatischen Regeln der Phonologie und Syntax, sowie die universalpragmatischen Regeln. Es kann also gesagt werden, dass generative Regeln in Form von rekursiven Algorithmen objektive Sinnstrukturen erzeugen und so wohlgeformte Handlungen und Äußerungen ermöglichen. Die objektive Hermeneutik versucht diese Strukturen zu rekonstruieren.

Strukturen

In Zusammenhang mit der objektiven Hermeneutik sind Strukturen jene Gesetzmäßigkeiten, mit der eine Lebenspraxis (Individuum, Gruppe, Gemeinschaft, Institution, Gesellschaft) über einen bestimmten Zeitraum typische Selektionen aus den nach Regeln erzeugten offen stehenden Optionen vornimmt.

Struktur lässt sich in vier Ebenen unterscheiden:

  1. Ebene 1 mit Parameter 1: Sie enthält die Menge aller Strukturgesetzlichkeiten, die rekursiv algorithmisch wohlgeformte Möglichkeiten eröffnet.
  2. Ebene 2 mit Parameter 2: Sind die typischen Auswahlen einer Lebenspraxis aus Ebene 1. Die Zweite Ebene ist die Ebene der Subjektivität.
  3. Ebene 3 als Resultat der Selektion: Sie beinhaltet die Objektive Fall-strukturgesetzlichkeit bzw. die objektive Identität.
  4. Ebene 4 als immer nur partielles Begreifen: Sie beinhaltet ein bewusstseinsfähiges Selbstbild und intersubjektive Identität.

Diese Strukturen sind durch Latenz geschützt. Es können Strukturschichten unterschieden werden. Diese werden nach der Latenz der Zugänglichkeit unterschieden. Die universalen Strukturen sind dem Unbewussten zu zurechnen, bei den historischen Strukturen (epochenspezifische, gesellschaftsspezifische, subkulturelle, milieuspezifische Regeln) hingegen finden sich Stufen der Latenz vom Unbewussten, Vorbewussten bis zum partiell Bewussten. Nach der Definition von Luhmann hat strukturfunktionale Latenz die Funktion des Strukturschutzes. Demnach hat Latenz die Funktion, Strukturen vor der Zerstörung durch Aufdeckung zu bewahren. Dies gilt vor allem für die historisch variablen Strukturen. Die universalen Strukturen sind allerdings invariabel und somit auch durch Aufdeckung nicht zu verändern.

Methoden

Gegenstand des Verfahrens sind Texte. Wenn man Texte unter dem Gesichtspunkt der Trägerschaft von Sinn und Bedeutung betrachtet, so kann man diese auf das gesamte menschliche Schaffen erweitern. Dazu gehören dann auch Landschaften, Filme, Bilder, Gemälde, usw.. Diese werden in Form von Protokollen vergegenständlicht. Die Protokolle ihrerseits sind von der Lebenspraxis ( der protokollierte Wirklichkeit) zu trennen. Unter Lebenspraxis versteht Oevermann z.B. Personen, Familien, sich selbst als Einheiten verstehende [Gruppe]n, Organisationen, Firmen oder nationale Gesellschaften. Die Unmittelbarkeit der Lebenspraxis verhindert ein sofortiges analysieren .

Im Gegensatz zu anderen qualitativen Verfahren, sowie den traditionellen Hermeneutiken geht es der objektiven Hermeneutik nicht darum, einen vom Autor intendierten Sinn nachzuvollziehen, sondern den latenten Sinn - die Struktur - des Textes zu ermitteln. Dabei geht die objektive Hermeneutik davon aus, dass eine Sprache von Individuen intersubjektiv geteilte Regeln und Bedeutungen aufweist, die man rekonstruieren kann. Die Rekonstruktion der Struktur der dritten Welt erfolgt durch Interpretieren. Dabei gelten folgende Interpretationsregeln :

  1. Im Zentrum eines Falles steht ein Strukturkern, welchen man auch als Strukturformel oder generatives Prinzip bezeichnen kann. Ziel wissenschaftlicher Arbeit muss also sein die Strukturformel des Falles zu rekonstruieren (entschlüsseln).
  2. Das Interpretieren muss dem Sequentialitätsprinzip folgen. Es soll Sequenz für Sequenz, Interakt für Interakt rekonstruiert werden.
  3. Der wissenschaftliche Interpret soll dem Phänomen möglichst viel Sinn unterstellen und somit auch die unwahrscheinlichsten Lesearten berücksichtigen.
  4. Die im Interpretationsprozess nicht ausgeschiedenen Interpretationen müssen dann den Strukturkern des Falles beschreiben.

Bei der Datenerhebung wird nicht standardisiert vorgegangen. Es wird darauf geachtet keine „Kleinigkeit“ zu übersehen, deshalb werden Aufzeichnungsgeräte benutz. Dadurch ist gewährleistetet, dass es zu keiner Selektion im Voraus kommt.

Lesarten entwerfen heißt, Kontextbedingungen zu konstruieren, die den jeweiligen Interakt (auch Sequenz) sinnvoll erscheinen lassen. Diese Vorgehensweise hat nichts mit willkürlichem Interpretieren zu tun, sondern trägt der Struktur der dritten Welt Rechnung, da diese verborgen ist. Sie unterscheidet sich gerade durch diese Vorgehensweise von der „Alltagsinterpretation“, da im Alltag gerade eine Richtung ohne Umwege bei der Interpretation eingeschlagen werden muss. Dies muss im Alltagsgeschehen auch so sein, da der Versuch auch das Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche oder Abenteuerliche mit einzubeziehen, das Handeln erheblich erschweren würde. Diese Art des Interpretierens setzt eine Einstellungsänderung bei den wissenschaftlichen Interpreten voraus. Der Interpret muss versuchen den Gegenstand zu verfremden, sich ihm gegenüber „naiv“ zu stellen. Das hat die Funktion, Kritik, sowie fest gefügte Vorstellungen zu Lesarten zu unterbinden. Es soll ihm außerdem helfen kein „Vorwissen“ über den Fall in die Konstruktion von Kontexten einfließen zu lassen.

Sequenzialität ist ein Charakteristikum des menschlichen Handelns . Jeder Handlungsvollzug stellt eine Sequenzstelle dar, an welcher sich ein Prozess der Schließung und Öffnung von Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Menschliches Handeln basiert auf dem sozialen Akt und für den gilt,

  1. dass er regelgeleitet (generative Regeln) ist,
  2. dass er im Sinne eines rekursiven Algorithmus funktioniert,
  3. dass er einen geschlossenen Handlungskreis (Geste, Reaktion, Resultan-te) darstellt.

Deshalb ist die Sequenzanalyse die methodisch angemessene Antwort auf die Sequentialität von menschlichem Handeln. Bei der Interpretation einer Sequenz sind zwei Parameter zu unterscheiden: Der erste Parameter bezieht sich auf die Gesamtheit der offen stehenden Handlungsmöglichkeiten – er gibt die Gesamtzahl der Sequenzierungsregeln an, welche an dieser Stelle eine logischen Anschluss an die Handlung bieten. Der zweite Parameter bezieht sich auf die Auswahl unter den offen stehenden Handlungsmöglichkeiten – dieser umfasst alle Elemente der beteiligten Lebens- oder Handlungspraxen welche zu einer Auswahl führen.

Das Totalitätsprinzip legt fest, dass bei der Rekonstruktion eines Protokollabschnitts prinzipiell alles zu berücksichtigen ist. Alles ist zu interpretieren, jedes Detail egal wie unscheinbar muss mit einbezogen werden.

Das Wörtlichkeitsprinzip besagt, dass nur das zur Erschließung einer Sache heranzuziehen ist, was sich auch an deren Ausdrucksgestalt festmachen lässt. Das heißt es kann nur das zur Rekonstruktion der Fallstruktur herangezogen werden, was wörtlich im Text, bzw. Protokoll zu finden ist.

Das Darstellungsprinzip legt fest, in welcher Weise ein Fall dargestellt, d.h. prä-entiert werden soll. Die Darstellung erfolgt hierarchisch. Zuerst wird die Analyse der Fragestellung vorgestellt. Es ist erforderlich, dass die Fragestellung mit objektiv hermeneutischen Mittel rekonstruiert und das Ergebnis schriftlich festgehalten wird, bevor die weiteren Schritte in Angriff genommen werden. Als Zweites folgt die Interpretation der objektiven Daten, d.h. der Geschichte des Falls, sowie der sozialen Eingebundenheit. An dritter Stelle folgt die Interpretation der erhobenen Daten, wobei mit der Eröffnungssequenz zu beginnen ist. Dieses Prinzip gilt auch für die Reihenfolge von Fallanalysen.

Es stellt sich noch die Frage nach der Überprüfbarkeit - also Gültigkeit - der, von den hermeneutischen Erfahrungswissenschaft aufgestellten Hypothesen. Hierbei kommt das Falsifikationsprinzip Poppers zum Zug. Demnach lässt sich eine Hypothese nicht verifizieren (belegen), sondern muss falsifiziert (widerlegt) werden. Die einzige Möglichkeit eine Hypothese zu entkräften, ist sie zu widerlegen. In der objektiven Hermeneutik werden deshalb folgende Verfahrensschritte verwendet:

  1. Aufstellung einer Hypothese
  2. Überprüfung der Hypothese
    1. auf ihren empirischen Gehalt
    2. auf ihren logischen Gehalt
  3. Formulierung der Hypothese in Reinform
  4. Widerlegungsversuch
    1. Hypothese
    2. Randbedingungen
    3. Prognose

Wenn eine Entscheidung bei der Überprüfung negativ ausfällt, so gilt die Hypothese und damit das System aus dem sie stammt als falsifiziert und hat somit keine Gültigkeit. Das Falsifikationsprinzip wird an zwei Stellen in der hermeneutischen Erfahrungswissenschaft angewendet. An erster Stelle findet sich das Falsifikationsprinzip in der Sequenzanalyse durch die Einführung der Parameter I und II. Denn werden auf der Ebene von Parameter II – konkrete Auswahl - aus den offen stehenden Handlungsmöglichkeiten (Parameter I), Entscheidungen getroffen die nicht zur Strukturhypothese passt, so gilt diese als falsifiziert. Die zweite Stelle befindet sich am Ende der Interpretation eines Falles, wenn alle Lesarten darauf überprüft werden, ob sie wirklich zur Strukturhypothese passen. Somit zeigt sich, dass die Ergebnisse der objektiv hermeneutisch verfahrenden Wissenschaft doppelt auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. „Ein strengeres Falsifikationsverfahren ist in der Methodologie der Humanwissenschaften schlechterdings nicht zu haben.“ (Oevermann)


Intepretationsbeispiel

Jemand schreibt: "Ich bin in Berlin geboren."

Mögliche Interpretation:
Was bedeutet das "Ich bin"?
Man kann sagen "Ich bin Berliner." oder "Ich bin stolz ein Berliner zu sein."
Alternativ könnte man den obigen Satz formuliere: "Ich wurde in Berlin geboren." Dies hätte eine andere Bedeutung als "Ich bin in Berlin geboren.":
"Ich wurde Berliner." oder "Ich wurde stolz ein Berliner zu sein."
Der latente Sinn von "Ich bin" scheint eher eine Zustandsbeschreibung zu sein wie bei "Ich bin stolz". "Ich wurde stolz" kann man im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel nicht sagen. Aber wenn man in Berlin auf die Welt kam, warum sagt man nicht "Ich bin Berliner"?
Was bedeutet das "in Berlin geboren"?
"Ich bin in Deutschland geboren" gegenüber "Ich bin Deutscher". Die meisten in Deutschland würden sich sicherlich für die erste Formulierung entscheiden, da die zweite eher bei nationalsozialistischen Tendenzen vermutet wird. Sagt man "in Deutschland", grenzt man sich, vom latenten Sinn her gesehen, von "Deutschland" ab. Die Formulierung lässt deshalb die Hypothes eines Stigma zu.
"Ich bin im Taxi geboren" klingt demnach ähnlich wie "Ich bin ein Taxi-Kind."

Schreibt demnach jemand "Ich bin in Berlin geboren" könnte man ein Trauma wie eine schlechte Kindheit oder etwas ähnliches vermuten. Jedoch, dies muss absolut nicht stimmen. Es handelt sich um den latenten Sinn, den man, liest man dies, mitdenkt. Der Autor muss sich dabei aber nichts gedacht haben, noch muss eine Stigma-Geschichte dahinterstehen, die Wahrscheinlichkeit ist aber vorhanden.


Literatur

  • Hans-Josef Wagner: Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001
  • Andreas Wernet: "Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermenutik". Opladen: Leske + Budrich 2000