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Gesundes Volksempfinden

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Der Begriff Gesundes Volksempfinden ist eine mindestens seit dem wilhelmischen Kaiserreich verwendete Umschreibung für die angeblich unverbildete Meinung einer "gesunden Volksgemeinschaft". Im Nazi-Regime wurde ein für die NS-Justiz fundamentaler Rechtsbegriff daraus.

Der Begriff diente im Sinne konservativer und völkischer Auffassungen dazu, die mentale Gesundheit eines "Volks" angeblich bedrohende Verhaltensweisen wie Homosexualität oder lebensreformerische Aktivitäten und auch künstlerische Werke, die als „entartete Kunst[1] bzw. „entartete Musik“ diffamiert wurden, für „volksfremd“ zu erklären. Begründet wurde dieses Vorgehen mit einem unterstellten Willen des Volkes[2] bzw. einer vorgeblich existierenden Volksgemeinschaft.

Vorgeschichte

Zurückgeführt wird der Begriff mit seinen spezifischen Inhalten, soweit es dessen Anwendung auf das Rechtssystem angeht, in der Literatur auf den zu seiner Zeit führenden Juristen Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Savigny sah im Staat eine „unsichtbare ... organische Erscheinung“, eine „beseelte Naturgröße“ und die „leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft“, die er mit einem „Volksgeist“ ausstattete. Das Rechtssystem leitete er als „organisiertes Naturprodukt“ ab. An Savigny knüpften führende NS-Jurasprofessoren an, betrachteten ihn als „großdeutsch“ und als den, der „die völkischen Wurzeln des Rechts“ offengelegt habe, dabei als „tiefste Rechtsquelle das völkische Rechtsbewußstsein“ herausarbeitend.[3] Die Savagny-Analyse ergibt nach Joachim Rückert, dass „die Savigny- und NS-Texte zu Volk/Volksempfinden in einer methodischen Parallele“ stehen.[4]

Mit „Volk“ im Sinne von Savigny und der Verwender des Wortes vom „gesunden Volksempfinden“ sind nicht die unteren Bevölkerungsschichten (plebs) oder die wahlberechtigte Bevölkerung eines Staats (demos) gemeint, sondern ein „Volk“ im Sinne einer nationalistisch-ethnischen Bestimmung des Begriffsinhalts (ethnos).

Kaiserreich und Weimar

Die Reduzierung der Begriffsverwendung auf die Nazizeit, die gelegentlich stattfindet, ist unzutreffend, denn spätestens im wilhelminischen Kaiserreich beriefen sich bereits Vertreter der bürgerlichen Parteien in den Medien, der Politik und der Justiz auf das „gesunde Volksempfinden“. Ein spektakulärer Fall, in dessen Mittelpunkt dieser Terminus und die mit ihm verbundenen Vorstellungen standen, war das Theaterstück „Der Reigen“ von Arthur Schnitzler (1896/97), das 1900 publiziert, 1903 teiluraufgeführt und 1920 zum ersten Mal vollständig gezeigt wurde.[5][6] Es würde, hieß es, „jedem gesunden Volksempfinden Hohn“ sprechen und „mit Recht in weiten Kreisen der Bevölkerung Anstoß“ erregen.[7] Den "Reigen" begleiteten durch die Jahrzehnte mediale und politische Verurteilungen wegen Verletzung des gesunden Volksempfindens.

Berufungen auf das gesunde Volksempfinden waren ein ständiges Thema in der Weimarer Republik. "Unter dem Vorzeichen 'gesundes Volksempfinden' lassen sich nach Hans Hattenhauer "Entwicklungslinien" in die Nazizeit erkennen, "die bereits in Kaiserreich und Weimarer Republik angelegt waren", die sich seit 1933 nur "fortsetzten".[8]

So erklärten etwa die der DNVP nahestehenden Kieler Neuesten Nachrichten 1919, zur "Krankheit" der Homosexualität, es gehe dabei nicht um die Frage, "wie der einzelne Kranke zu heilen oder zu behandeln ist, sondern darum, ob das gesunde Volksempfinden sich an den Neigungen dieser Entarteten zu orientieren" habe.[9]

1925 urteilte die Oberfilmprüfstelle Berlin über den Film „Muß die Frau Mutter werden?“, er werde eine verheerende Wirkung „auf das gesunde Volksempfinden“ haben und verbot ihn.[10]

Der Reichstagsabgeordnete Rudolf Schetter des Zentrums, der die Bestrafung der Homosexualität vertrat, erklärte 1929 in dem entsprechenden Ausschuss, dass „die Beseitigung der Strafbarkeit dem gesunden Volksempfinden widersprechen würde“, während KPD, SPD und die linksliberale DDP der Berufung auf das Volksempfinden widersprachen.[11]

Richard J. Evans zitiert mit den Worten "das gesunde Empfinden des Volkes" fordere "für schwerste Schuld auch schwerste Sühne" ein Plädoyer zugunsten der Todesstrafe in der bürgerlichen Deutschen Tageszeitung vom 26.10.1927, und merkt an, dass "tatsächlich schon während der gesamten Dauer der Weimarer Republik" das gesunde Volksempfinden über Parteigrenzen hinweg "(von allen) zur Rechtfertigung angeführt" wurde, die für den Fortbestand der Todesstrafe eintraten."[12]

Nationalsozialismus

Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935[13] wurde das gesunde Volksempfinden zu einem wichtigen Rechtsbegriff. In § 2 hieß es nun: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. [...]“ Im Gesetz über den Ausgleich bürgerlich-rechtlicher Ansprüche hieß es, dass Nachteile, welche durch die politischen Vorgänge "im Rahmen der nationalsozialistischen Erhebung" zugefügt worden seien, Ausgleich erfahren sollten, insofern dieser Anspruch nach gesundem Volksempfinden zur Beseitigung unbilliger Härte erforderlich sei. Die Entscheidung oblag dem Reichsinnenminister nach billigem Ermessen. § 48 Abs. 2 Testamentgesetz bewirkte die Nichtigkeit eines Testamentes, wenn in einer gesundem Volksempfinden widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstoßen wurde, die ein verantwortungsbewusster Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat. Auch das Vollstreckungsmissbrauchsgesetz vom 13. Dezember 1934[14] rekurrierte auf ein gesundes Volksempfinden.

Durch die Einführung ins Gesetz sollte es als politische Kategorie rechtlichen Kategorien vorrangig sein.[15]

Mit der Generalklausel eines Gesunden Volksempfindens erhielten die Richter einen größeren Ermessensspielraum. Es ging darum, Entscheidungen zu treffen, die „der Volksgeist noch nicht vorgeformt“ habe und die „noch in dem Fühlen und Denken des Volkes“ ruhen würden, ohne dass dergleichen „sich schon zur Regel konkretisiert hätte“.[16] Für den Richter, so interpretierte es Heinrich Lange, ergebe sich dadurch die „hohe Aufgabe, das Recht nicht nur verstandesmäßig zu erfassen und anzuwenden, sondern aus der Gemeinschaftsverbundenheit heraus das deutsche Recht zu erfühlen und zu gestalten“.[17]

Der Rekurs auf ein gesundes Volksempfinden war in der Zeit des Nationalsozialismus unter Rechtswissenschaftlern allerdings umstritten.[18] Leopold Zimmerl kritisierte die Versuche, das bestehende Recht umzuformen. Das ständige Verweisen auf das gesunde Volksempfinden biete dem Richter gerade nicht, was er braucht. Das gesunde Volksempfinden sei viel zu unterbestimmt und sein Gehalt offensichtlich strittig.[19] argumentierte: „So wenig derjenige der beste Nationalist sein muß, der am häufigsten und lautesten ‚Heil Hitler’! schreit, so wenig ist es ein Beweis für die Volksnähe des Gesetzes, wenn es immer wieder behauptet, es zu sein.“[20]

Bundesrepublik Deutschland

Immer wieder wurde von konservativen Politikern das Wort vom gesunden Volksempfinden aufgegriffen. In den 1960er Jahren versuchte der vormalige Präsident des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofs, spätere Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Trier und CDU-Politiker Adolf Süsterhenn mit Hilfe einer Unterschriften-"Aktion Saubere Leinwand" und einer Kritik an der Verletzung des gesunden Volksempfindens durch Filmdarbietungen eine Grundgesetzänderung durchzusetzen. Der Passus, "Wirtschaft, Forschung und Lehre sind frei", sollte um die Formulierung erweitert werden, diese Freiheit gelte nur "im Rahmen der allgemeinen sittlichen Ordnung".[21] Auch bei Diskussionen um die Wiedereinführung der Todesstrafe,[22] zu deren Befürwortern Süsterhenn gehörte, oder bei der Bewertung von Kunst[1] wurde der Terminus im Sinne einer allgemeinverbildlichen konservativen "sittlichen Ordnung" eingesetzt.

1994 sah der Verfassungsrechtler Ingo von Münch in Kritik an der Verwendung des Begriffs eine "überzogene Sprachkritik",[23] und 2018 meinte der Intendant des WDR, Tom Buhrow, in Reaktion auf eine Kritik durch die Strafverteidiger Vereinigung NRW und unter Berufung auf von Münch, das Wort sei im Sinne einer "umgangssprachlichen Variante des Begriffs 'Rechtsempfinden'" ungeachtet seiner NS-Vergangenheit durchaus verwendbar.[24]

Der Journalist Henryk M. Broder wiederum sieht im gesunden Volksempfinden ein besonderes "deutsches Pendant zu Common sense", das sich "in den Jahren von 1933 bis 1945 zur vollen Blüte und zum Ersatz für Recht und Gesetz entwickelt habe, jedoch anschließend "eine Weile" habe ruhen müssen, "bis es sich von seinen Exzesssen so weit erholt hatte, dass es in den 50er Jahren wieder zum Leben erwachen konnte." Seither habe "das gesunde Volksempfinden etliche Metamorphosen durchgemacht."[25]

Der Filmwissenschaftler und Autor Joachim Hammann formuliert unter Verweis auf Adolf Süsterhenn eine Kritik. Das gesunde Volksempfinden sei "berühmt-berüchtigt". Hammann geht über die enge Fassung der NS-Juristen weit hinaus, indem er feststellt, um gesundes Volksempfinden gehe es immer dann, "wenn bewiesen werden soll, dass der Irrsinn, den man verzapft nicht nur wahr und richtig und gesund(!) ist, sondern dass darüber hinaus alle so denken" würden.[26]

Namensgleichheit

Literatur

Primärliteratur

  • H. Lange: Generalklauseln und neues Recht, in: Juristische Wochenschrift, 62 (1933), S. 2858f.
  • Karl Peters: Das gesunde Volksempfinden. Ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts. DStR 1938, S. 337–350
  • Erich Mirievsky: Die Volksanschauung und ihre Berücksichtigung in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Dresden 1940 (Diss. 1940)
  • Robert Bartsch: Das ‚gesunde Volksempfinden’ im Strafrecht. Hamburg 1941 (Diss. 1940)
  • Ferdinand Kadeçka: Gesundes Volksempfinden und gesetzlicher Grundgedanke. ZStW 62 (1942/44), S. 1–27
  • Adolf Süsterhenn, Gegen die Diktatur der Unanständigkeit, in: Rheinischer Merkur, 30.4.1965
  • Droht eine Diktatur der Unanständigkeit? Spiegel-Gespräch mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Professor Dr. Adolf Süsterhenn über die Freiheit der Kunst, in: Der Spiegel, Nr. 21, 19.5.1965
  • Adolf Süsterhenn, Schriften zum Natur-, Staats- und Verfassungsrecht, hrsgg. von Peter Bucher, Mainz 1991

Sekundärliteratur

  • Joachim Rückert: Das ‚gesunde Volksempfinden’ – eine Erbschaft Savignys?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 103 (1986), S. 199–247
  • Angelika Kleinz: Individuum und Gemeinschaft in der juristischen Germanistik. Die Geschworenengerichte und das ‚gesunde Volksempfinden’. Heidelberg 2001
  • Sybille Steinbacher: Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, Siedler München, 2011, ISBN 978-3-88680-977-6

Einzelnachweise

  1. a b Kardinal Joachim Meisner: Kardinal-Meisner kritisiert entartete Kultur auf welt.de
  2. Rheinische Post Der Sünderin-Prozeß - eine Lehre, 1. November 1952.
  3. Joachim Rückert, Unrecht durch Recht. Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, 2018 Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, 2018 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, B. 96), Tübingen 2018, S. 92.
  4. Joachim Rückert, Unrecht durch Recht. Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, 2018 Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, 2018 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, B. 96), Tübingen 2018, S. 73.
  5. Gerd K. Schneider, Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen, 1897-1994: Text, Aufführungen, Verfilmungen Pressespiegel und andere zeitgenössische Kommentare, Riverside (California) 1995.
  6. Manfred Schmitz: „Der Reigen“ und das gesunde Volksempfinden. Über die Technik der politischen Diffamierung, in: Hans Otto Horch (Hrsg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, Tübingen 1988, S. 267–288.
  7. Gerd K. Schneider, Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen, 1897-1994. Text, Aufführungen, Verfilmungen Pressespiegel und andere zeitgenössische Kommentare, Riverside (California) 1995, S. 230.
  8. Hans Hattenhauer, Wandlungen des Richter-Leitbildes im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im "Dritten Reich", Frankfurt/M. 1989, S. 9-33, hier: S. 26, 28.
  9. Kiler Neueste Nachrichten, 7.9.1919, zit. in: Thorsten Eitz, Isabelle Engelhardt, Diskursgeschichte der Weimarer Republik, Hildesheim 2018, S. 234.
  10. Jürgen Peter, Gerhard Baader, Public Health, Eugenik und Rassenhygiene in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Gesundheit und Krankheit als Vision der Volksgemeinschaft, Frankfurt/M. 2018, S. 98.
  11. 16.10.1929, 85. Sitzung des 21. Aussch., zit. in: Thorsten Eitz, Isabelle Engelhardt, Diskursgeschichte der Weimarer Republik, Hildesheim 2018, S. 252.
  12. Richard J. Evans, Todesstrafe in der Weimarer Republik, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlef Peukert zum Gedenken hrsgg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm, Hamburg 1991, S. 145-167, hier: S. 162.
  13. RGBl. 1935 I, S. 839.
  14. RGBl. 1934 I, S. 1234.
  15. Bernd Mertens: Rechtsetzung im Nationalsozialismus, Tübingen 2009, S. 103.
  16. Karl Peters: Das gesunde Volksempfinden. Ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts, DStR 1938, S. 337–350, S. 343.
  17. Heinrich Lange: Generalklauseln und neues Recht, in: Juristische Wochenschrift, 62 (1933), S. 2858–2859, S. 2859.
  18. Vgl. Robert Bartsch: Das ‚gesunde Volksempfinden’ im Strafrecht, Hamburg 1941 (Diss. 1940).
  19. Leopold Zimmerl: Gesetz und materielle Gerechtigkeit im Strafrecht
  20. Leopold Zimmerl: Gesetz und materielle Gerechtigkeit im Strafrecht, in: Beiträge zur Neugestaltung des Deutschen Rechts. Festgabe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marburg zum 70. Geburtstag des o. Professors Dr. jur., Dr. phil., Dr. rer. pol. h.c. Erich Jung, Marburg 1937, S. 222–242, S. 241.
  21. Kurt Marti, Notizen und Details 1964-2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio, Zürich 2010, S. 77.
  22. Gesundes Volksempfinden, Der Spiegel, 1965.
  23. Ingo von Münch: Tabuisierung von Begriffen, NJW 1994, S. 634.
  24. WDR. Der Intendant an Strafverteidiger Vereinigung NRW, 4.7.2018, [1].
  25. Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxeiner, Früher war alles besser. Ein rücksichtsloser Rückblick, München 2015.
  26. Joachim Hammann, Sex, Drogen, Rock 'n' Roll und Jesus: Der Roman der Sixties, Norderstedt 2018, S. 59 (Hervorh. i. Orig.).