Gletsch
Die Siedlung Gletsch gehört zur Gemeinde Oberwald im Bezirk Goms des Kantons Wallis in der Schweiz.
Sie liegt auf einer Höhe von 1759 m unterhalb des Rhonegletschers, an der Verzweigung der 1865 und 1895 gebauten Passstrassen von Oberwald zu den Pässen Furka und Grimsel und wird nur in den Sommermonaten von Juni bis September bewohnt. Im Winter ist die Strasse ab Oberwald gesperrt.
Entstehen und Blüte der Hotelsiedlung
In den 1830er Jahren eröffnete Joseph Anton Zeiter am Fusse des Rhonegletschers ein erstes Wirtshaus mit etwa zwölf Betten. Die Hoteliersdynastie Seiler erweiterte diese Zeitersche Herberge seit den 1850er Jahren zum Hotel Glacier du Rhône und erwarb beträchtliche Teile des umliegenden Geländes, zu welchem auch Teile des Gletschers gehörten. Das Haus erlebte seine Blüte während der Gründerzeit und Belle Epoque.
Der Ort Gletsch war Relais und Pferdewechselstation vor oder nach der Fahrt über die Pässe (eine Fahrt talaufwärts von Brig her oder über die Furka nach Göschenen beispielsweise dauerte sieben bis acht Stunden, eine Tagesreise); zur Bedeutung trugen wesentlich die Nähe des Gletschers (zu Hotel und Strasse) und ein gastgewerbliches Angebot, das auch höchsten Ansprüchen (wie jenen des europäischen Hochadels) genügte, bei.
Vor dem Ersten Weltkrieg bot das Haus samt Dependance unter der Leitung von Joseph Seiler knapp 300 Gästebetten an, in den 1920er Jahren rund 200 und bis in die 1980er Jahre noch 150. Um 1882 entstand über dem Talkessel an der Gletscherflanke und mit panoramischem Blick auf die Walliser Alpen das Hotel Belvedere.
Joseph Seiler war in der Hotelwelt seiner Eltern in Zermatt - dem damals wohl grössten Hotelunternehmen der Schweiz - aufgewachsen und hatte sich in Rom und London fachlich weitergebildet. In Gletsch schuf er seit den 1890er Jahren mit bedeutenden Walliser Möbeln des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Wert in der Region damals noch kaum erkannt wurde, nach englischen Kompositionsprinzipien ein aussergewöhnliches Hotelinterieur, das dem Geschmack seiner internationalen Klientel entsprach.
Das Glacier du Rhône galt als „ausgezeichnet geleitete[s]“ Hotel „in grossartiger Lage“. „In diesem [fand] bei höchst vornehmer internationaler Gesellschaft, die in ein-, zwei- und dreispännigen Wagen herbeiströmt[e], auch der Turist Berücksichtigung.“ (Karl Kinzel: Wie reist man in der Schweiz?, Schwerin 1913, S. 89.) Im letzten Jahrzehnt der Belle Epoque verlassen an Hochsommertagen vor sieben Uhr morgens regelmässig 100 bis 120 Hotelgäste in Pferdekutschen den Ort in Richtung Brig, Grimsel und Furka. Es stehen Stallungen für 200 Pferde zur Verfügung. (Gazette du Valais, August 1906 Nr. 97.)
In den 1920er Jahren sind die Ansprüche Reisender, die an der Passstrassenkreuzung Halt machen, teils noch so hoch wie heute in der Schweiz in keinem Hotel mit ausgeprägter Relaisfunktion mehr: man wird „von Kellnern im Frack bedient, isst das Menu eines Grand Hotels und hat als Tischgenossen Gentlimen im Smoking und Ladies in tiefster Ausgeschnittenheit". (Hans Schmid, in: St. Jodern-Kalender: Gletsch, Sitten 1928.)
Da Joseph Seiler um die Bedeutung seines Hotels als Relais und Pferdewechselstation wusste, sah er den Bau der Brig-Furka-Disentis Bahn vor dem Ersten Weltkrieg nicht ohne Bedenken. Er stellte, im Gegenzug für die Überlassung von Land für das Bahntrassee, die Forderung, die Züge zur Mittagszeit eine Stunde in Gletsch warten zu lassen, um die Passagiere zur Einnahme einer Mahlzeit zu bewegen. Die abendlichen Züge endeten in Gletsch, um die Anzahl der Übernachtungen zu erhöhen. So versuchte er der Bahn den Reiserhythmus der Pferdekutschen aufzuerlegen.
Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg in Gletsch und andernorts
Eduard Seiler, ein Sohn von Hermann Seiler (Gemeindepräsident von Brig, Walliser Staatsrat, Nationalrat, Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins), erdachte und verwirklichte seit den 1930er Jahren mannigfache Angebote, die während der kurzen Sommersaison die Auslastung der Hotels erhöhten: so Führungen durch die Antiquitätensammlung des Hotels Glacier du Rhône, in Zusammenarbeit mit dem Automobil-Club der Schweiz Auto-Rallies als Sternfahrten mit Ziel Gletsch, Schweizerische Auto-Ski-Meetings am Rhonegletscher (vgl. z.B. Walliser Nachrichten, 1934 Nr. 44), Bergsteiger- und Sommerskikurse, Beleuchtung des Gletscherabbruchs mittels hoteleigener Scheinwerferinstallation mit nächtlicher Fahrt zum Gletscher.
Aus den beiden Hotels in Gletsch entwickelten sich seit Beginn der 1940er Jahre an Orten ohne strikte betriebszeitliche Beschränkung auf einen Jahresbruchteil, in Bern und bei Zürich, gastgewerbliche Unternehmen, die - nach Stil, qualifiziertem Interieur und hervorragender Lage - tradierte Vorgaben fortführten und variierten: in der ersten Hälfte der 1940er Jahre das Restaurant Ermitage in der Berner Altstadt (dessen Carnotzet auf das Walliser Interieur des Glacier du Rhône verwies), „eine Gaststätte, die zu den schönsten im ganzen Lande“ (Berner Tagblatt vom 30. November 1946) gezählt werden konnte, und um 1950 das „traumhaft gelegen[e]“ (Neue Zürcher Zeitung vom 30. September 2005) Restaurant und später auch Hotel Ermitage am Zürichsee in Küsnacht (welches das Thema der vorzüglichen Lage im Kanton Zürich weiterführte). Letzteres Haus war seit den 1970er Jahren eines der damals in der Schweiz noch sehr wenigen Mitglieder der exklusiven Relais & Château-Gruppe, für deren Entwicklung sich Eduard Seiler als Vizepräsident der Schweizer Sektion einsetzte.
Hotelunternehmerische Problemstellung, wasserwirtschaftliche Nutzung und Übergang an den Kanton Wallis
In den 1950er Jahren stand für Hermann Seiler (der das Walliser Finanzdepartement durch den Ersten Weltkrieg geführt und sich als - so oft wie nie jemand vor ihm jeweils mit Akklamation bestätigter - Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins in der Krise zwischen den Weltkriegen und während des Zweiten Weltkrieges besonders mit Fragen der Hotelrentabilität und -finanzierung beschäftigt hatte) längst ausser Frage, dass ein Hotelbetrieb mit für jede Investition auf 1/3 des Üblichen eingeschränkter jährlicher Amortisationszeit nicht nur kein Geschäftsmodell, sondern langfristig nicht überlebensfähig war. Ein Reflex der im Kreis um den Verbandspolitiker geführten Diskurse über Fragen der Rentabilität betriebszeitlich beschränkter Unternehmen ist der Aufsatz des Berner Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, Alfred Walther, unter dem Titel ‚Die Festen Kosten – der Feind des Hotelunternehmens‘ in der Festschrift des Schweizer Fremdenverkehrsverbandes, die Hermann Seiler als dessen Vizepräsident zum 75. Geburtstag dargebracht wurde (Zürich 1946). Zur Stringenz der Problemanalyse aus heutiger Sicht Andreas Deuber, Direktor der Schweizerischen Gesellschaft für Hotelkredit, und Roland Flückiger-Seiler in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Mai 2006: „Hat das klassische Hotel vor diesem Hintergrund ausgedient? [...] Matchentscheidend ist ein Standort mit einer guten Grundauslastung über das ganze Jahr oder zumindest zwei starke Saisons hinweg.“
Aus diesem Grunde nannte der Finanzmann die Aktiengesellschaft, in die er die beiden Hotels samt Liegenschaften in den 1950er Jahren einbrachte, nicht (in Entsprechung zur mit seinen Geschwistern 1908 gebildeten Zermatter Gesellschaft) Hotels Seiler Gletsch AG, sondern, mit Blick auf eine nichtgastgewerbliche Verwendung, Immobilien Gletsch AG. Zur Frage stand seit der Mitte des Jahrhunderts, ob die öffentliche Hand die in den 1930er Jahren von Hermann Seiler behutsam eingeleitete wasserwirtschaftliche Nutzung mit einem grossen Projekt im Talbecken von Gletsch fortführen wollte.
Somit bewogen zur Aufgabe des Hotelbetriebs in der Tradition der Schweizer Grande Hôtellerie (mit zuletzt noch fünf Dutzend Mitarbeitenden, von denen 80-90% fünf und mehr Saisons, die qualifiziertesten mehrere Jahrzehnte und einige länger als ein halbes Jahrhundert nach Gletsch zurückzukehren pflegten) an diesem Ort im Jahre 1984 in erster Linie die lage- und witterungsbedingte Beschränkung der gastgewerblichen Betriebszeit auf dreieinhalb Monate - die Hermann Seiler als Generaldirektor und Miteigentümer der Seiler Hotels in Zermatt im Dezember 1927 durch die Etablierung der Wintersaison für diesen wintersporttauglichen Ort überwunden hatte, nachdem er bereits 1902 im Matterhorndorf als Präsident der Sektion Monte Rosa des Schweizer Alpen-Clubs den "bahnbrechenden" (Neue Zürcher Zeitung vom 8. Februar 1952, Nr. 282) ersten Skikurs in der Schweiz organisiert hatte: eine mise en valeur, die, wie für ihn seit jeh feststand, in Gletsch wegen der Lawinengefahr nicht denkbar ist -, weiter die reisekulturellen Veränderungen, die mit dem Ende der Pferdekutschenzeit um 1920 begonnen hatten und mit dem Ausbau der Strassen insbesondere seit den 1970er Jahren, der damit verbundenen Zunahme von Reisegeschwindigkeit, -komfort und Durchgangsverkehr unmittelbar vor dem Hotel sich rapid fortsetzten, der Rückzug des Gletschers, aber auch die Abnahme der landschaftlichen Attraktivität des Talkessels insgesamt - all dies ideell verbunden mit dem Verblassen des hallerschen, rousseauschen, romantischen und victorianischen reisekulturgeschichtlichen Topos der Swiss Tour in den Alpen bei teilweise sehr anspruchsvollen Gästen.
Seitens der neuen Eigentümerschaft, dem Kanton Wallis, standen bis in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre rechtliche, landschaftliche und wasserwirtschaftliche Betrachtungsweisen und Interessen im Vordergrund. Das gastgewerbliche Angebot sollte in stark vereinfachter Form mit einem Pächter und einigen wenigen Mitarbeitenden vorläufig weitergeführt geführt werden. (Diesbezüglich kritisch z.B. der Walliser Aristokrat und Querdenker Peter von Roten, Ehemann der Iris von Roten, als Kolumnist im Walliser Boten vom 14. September 1984.) In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden die seit den 1950er Jahren verfolgten Projekte, das Tal durch eine Staumauer abzuriegeln und einen Rhonestausee zu bilden, jedoch verworfen.

Daraufhin tätigten die neuen Eigentümer umfangreiche Investitionen in die gastgewerblichen Betriebe, deren Folgen die weitsichtige betriebswirtschaftliche und touristische Analyse Hermann Seilers und dessen wegen der in verschiedener Hinsicht grundlegend veränderten Verhältnisse entschieden negatives Urteil über die an diesem Ort sich in der Zukunft abzeichnenden hotelunternehmerischen Chancen und Risiken nicht zu widerlegen vermochten (vgl. z.B. Walliser Bote vom 8. Mai 1996; Neue Zürcher Zeitung vom 15. Mai 1996).
Neben dem Hotel mit seinen Nebengebäuden und einer Tankstelle ist in Gletsch der Bahnhof der Dampfbahn Furka-Bergstrecke (bis 1981 Teil der Furka-Oberalp-Bahn) zu finden. Die Schienenverbindung wurde 1915 hergestellt, seit 1922 ist Gletsch auch mit Postautolinien erschlossen.
Literatur
Zu Alexander Seiler:
- Nachruf Alexander Seiler der Ältere (von Leslie Stephen), in: The Alpine Journal, 1891 Nr. 113.
- Gustav Anthamatten: Alexander Seiler 1819 - 1891. Gedenkschrift zum 100. Todestag, Zermatt 1991.
Zu Joseph Seiler:
- Nachruf Joseph Seiler, in: The Alpine Journal, 1929 Nr. 239.
Zu Hermann Seiler:
- Nachruf Dr. Hermann Seiler, in: Neue Zürcher Zeitung vom 21. August 1961 und vom 24. August 1961.
- Vita Dr. Hermann Seiler, in: Gegenwarts- und Zukunftsprobleme des schweizerischen Fremdenverkehrs. Festgabe für Hermann Seiler, hrsg. vom Schweizer Fremdenverkehrsverband, Zürich 1946, S. 167 ff.
- Louis Carlen: 27 Walliser. Leute, die das Land prägten, Visp 1994.
- Arthur Fibicher: Walliser Geschichte, Bd. 3.2, Sitten 1995, S. 250 ff.
- Geschäftsberichte des Schweizer Hoteliervereins der Jahre 1928 bis 1945.
Zu Eduard Seiler:
- Nachruf Dr. Eduard Seiler, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 1976.
- Nachruf Dr. Eduard Seiler, in: Walliser Bote vom 3. August 1976.
Zur hotelunternehmerischen Tätigkeit der Familie Seiler insgesamt:
- Fred Ammann: Schweizer Gastgeberfamilien. Folgeheft 14, Biel 1980.
Zur elektrizitätswirtschaftlichen Pionierrolle im Wallis:
- Alois Grichting: 111 Jahre Elektrizitätswerk Zermatt, Visp 2005.
Zu Gletsch allgemein:
- Neue Zürcher Zeitung vom 26./27.August 1977.
- Neue Zürcher Zeitung vom 31. August 1978.
- 24 heures vom 7. August 1984.
- Tages Anzeiger vom 25. September 1984.
- 24 heures vom 4. November 1984.
- Die Weltwoche vom 6. Dezember 1984.
- Roland Flückiger: Vom Basislager für Erstbesteigungen zum Aussichtshotel im Gebirge. Walliser Hotelbauten auf 1500 bis 2500 Meter über Meer, in: Kunst + Architektur in der Schweiz, hrsg. von der Gesellschaft für Schweizer Kunstgeschichte, 1999, Heft 3, passim.
Zum Besuch der englischen Königin Victoria im August 1868 in Gletsch:
- Peter Arengo-Jones: Queen Victoria in Switzerland, London 1995, S. 95 f.
Zum komplexen akademischen Wahrnehmungs- und Reflexionshorizont victorianischer Reisender, Künstler und Bergsteiger in den Alpen z.B.:
- Alexandra Lavizzari: Die Schrift auf dem Antlitz des Schneehangs. Leslie Stephens und John Ruskins Erlebnis der Schweizer Berge, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1./2. Juli 2006.
Zum überbordenden Durchgangsverkehr und zur Krise des Gastgewerbes in der Region um die Jahrtausendwende:
- Neue Zürcher Zeitung vom 5. August 1996.
- Neue Zürcher Zeitung vom 5. Oktober 2000.