Der Tod in Venedig
Der Tod in Venedig ist eine 1912 erschienene Novelle von Thomas Mann.
Inhalt
Die Novelle ist in fünf Kapitel gegliedert, eine Anspielung auf die fünf Akte des griechischen Dramas.
Im ersten Kapitel begegnet der fünfzig Jahre alte, stark zwanghaft veranlagte Schriftsteller Gustav Aschenbach, dessen Habitus dem Äußeren des Komponisten Gustav Mahler angeglichen ist, bei einem Spaziergang auf einem Münchener Friedhof einem Fremden, dessen seltsame Erscheinung in ihm eine Reiselust weckt. Da er gerade eine Schaffenskrise durchmacht, beschließt er, seinem Gefühl zu folgen.
Im zweiten Kapitel erfahren wir etwas über die Vergangenheit und die Charakterzüge des Schriftstellers. Der Gustav von Aschenbach, der dem Leser in den ersten Kapiteln präsentiert wird, ist ein nahezu emotionsloser, hart arbeitender Künstler. Ein scharfsinniger Beobachter sagt über ihn: „Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt – und der Sprecher schloss die Finger seiner Linken fest zur Faust - ; niemals so – und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen.“ Dieses Bild von der krampfhaft geballten Faust beschreibt sehr anschaulich sein privates wie künstlerisches Leben. Diese Härte sich selbst und seiner Kunst gegenüber liegt schon in der Abstammung und Jugend Aschenbachs begründet. Sein Vater war ein Preuße, der streng auf Ordnung und Zucht achtete. Den Hang zum Schriftstellertum hat er von seiner Mutter geerbt.
Im dritten Kapitel fährt Aschenbach zunächst in die kroatische Stadt Pola, in der es ihm nicht gefällt, und wählt Venedig als sein nächstes Reiseziel. Dabei begegnet er einem Schiffszahlmeister, der ihm die Stadt anpreist, und auf dem Schiff beobachtet er einen alten Mann, der krampfhaft versucht jugendlich zu wirken. In Venedig angekommen wird er von einem Gondoliere gefahren, der keine Lizenz hat.
Danach begegnet Aschenbach in seinem Hotel einem polnischen Knaben, der vollkommen schön ist. Er verliebt sich augenblicklich in den Jungen, welcher den Jünglingen aus den griechischen Sagen gleicht, will dies aber nicht wahrhaben. Dennoch beobachtet er den Jungen, dessen Name Tadzio (Aussprache: Tadsio oder Tadscho) lautet, in den folgenden Tagen am Strand und im Hotel ständig.
Da ihm die Wetterlage in Venedig nicht bekommt, möchte er abreisen, dies wird aber durch die falsche Aufgabe seines Gepäckes verhindert. Aschenbach muss sich eingestehen, dass er nicht sehr unglücklich darüber ist. Er fährt fort Tadzio diskret zu beobachten und vergleicht ihn immerzu mit Figuren aus der griechischen Antike. Im Verlauf seines Venedigaufenthalts wird Aschenbach mit der Gefahr der Cholera, die sich in der Stadt ausbreitet, konfrontiert. Obwohl er nichts Genaues darüber weiß, gibt es deutliche Anzeichen, die ihm allerdings verheimlicht werden sollen, was seine Unruhe und seine Unklarheit über sein Dasein noch bestärkt. Als er Tadzio eines Tages unvorbereitet gegenübersteht, muss er sich letztendlich eingestehen, dass er den 14-Jährigen liebt und es nicht übers Herz brächte, diesen vor der Cholera zu warnen und somit zu verlieren. Er bleibt also in der Stadt und stirbt am Ende, vermutlich durch eben jene Krankheit.
Analyse
"Der Tod in Venedig" ist eine bedeutende Novelle im Werk Thomas Manns. Wesentliche Gestaltungselemente und Ideen entlehnte der Autor den Schriften Nietzsches und Platons.
Ein zentrales Thema des Textes ist der Konflikt zwischen dem Dionysischen (Leidenschaftlichen, Zügellosen) und dem Apollinischen (Geistigen, Idealen), einer philosophischen Anschauung, die Nietzsche in seinen Werken formuliert. Daran geknüpft sind die Themen des Künstlertums um 1900 und die Thematik des Verfalls des Menschen, aber auch von Normen und Sitten.
Der Schriftsteller Aschenbach lebte ursprünglich nach streng apollinischen Anschauungen. Jeder Satz aus seiner Feder war das Resultat von Willensdauer und Zähigkeit, am Morgen quälte er sich mit kalten Bädern. Er wünschte sich sehnlichst, alt zu werden. Dieses Leben brachte ihm Ruhm und Ehre in der Welt der Schriftsteller, verschafft ihm aber offensichtlich nicht die Befriedigung, die er braucht. Denn, so Nietzsche, es muss eine Verschmelzung der Kunst-, und Lebenstriebe stattfinden, damit der Mensch zufrieden ist. Das Apollinische ist der Ursprung von Aschenbachs „Skrupel der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu befriedigende Ungenügsamkeit“, seiner Kunst darstellt.
Animiert durch den Wanderer beginnt er seine Reise. Schon am Anfang wird sein Weg von einem falschen Jüngling gewiesen, über die Lagune setzt ihn ein falscher Gondoliere (ohne Konzession) und Venedig selbst präsentiert sich als falsche Schöne, durch die er schließlich als ein falscher Knabe streifen wird. Das Prinzip des Dionysischen (hier: des Falschen) zieht sich ab seinem Entschluss durch das Buch und findet seinen Höhepunkt in der Gestalt des Jungen Tadzio.
Aschenbach bemerkt seine Zuneigung zu dem Jungen, kann aber nicht von seiner, von dem apollinischen geprägten Lebensweise und seinem Selbstverständnis lassen. Um seine Würde zu wahren flüchtet er gedanklich auf eine höhere Ebene, auf der er sich selbst zu überzeugen versucht, dass Tadzios Schönheit im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht, da er als Künstler an dem Schönen interessiert sei. Er versucht seine Empfindungen, die er nicht versteht umzuwandeln und auf einer Ebene zu rechtfertigen, die er verstehen kann, die ihm bekannt ist. Die Idee, die dem zu Grunde liegt, ist Platons Ideenlehre. Platons Abgrenzung des der Idee und des Körpers in zwei getrennte Sphären, trägt, indem dem Ersteren das Wahre, Gute und Schöne zugeordnet ist, durch den Begriff des Guten einen moralischen Aspekt mit sich. Das Moralische ist auch Grundlage für Aschenbachs bürgerliche Existenz.
Würde er also von dieser Idee ablassen, würde er seine selbst geschaffene Identität vernichten. Er ist aber bestrebt diese Aufrecht zu erhalten und will Tadzio nur als Objekt des Schönen, nicht als Objekt seiner Begierde begreifen. Als Aschenbach Tadzio aber unverhofft und unvorbereitet antrifft, kann der Schriftsteller nicht mehr an seiner bewussten Lüge festhalten und gesteht, dass er Tadzio liebt. Er vermag es nicht länger, „denn der Leidenschaft ist, wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß“, und „du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft“. Er erkennt also, dass ein Schriftsteller, um wahrhaft künstlerisch tätig zu sein, niemals nur dem Apollinischen folgen kann, sondern auch dem dionysischen nachgeben muss. Das dionysische Prinzip birgt aber wiederum eine Gefahr, denn dem Künstler ist „eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren“. Dieser Gefahr kann er aber nicht entgehen, denn der Hang zu Immoralismus und zum Dionysischen wohnt dem künstlerischen Menschen notwendig inne. Nietzsches „Wille zum Untergang“ wird somit auch zu Aschenbachs letztem Ziel.
Daran ändert auch die vermeintliche Verschmelzung des apollinischen und dionysischen nichts, die Aschenbach durch seinen plötzlichen Wunsch zu Schreiben herstellen will, denn die eher bescheidenen „anderthalb Seiten erlesener Prosa“ lassen Aschenbach „erschöpft, ja zerrüttet“ zurück. Somit ist der Schriftsteller gescheitert: Er hat ein Leben geführt, das nicht wirklich künstlerisch war, er kann aber auch kein künstlerisches Leben führen, da es ihn zerstört.
Schließlich ist seine Leidenschaft Tadzio gegenüber unmöglich, nicht nur, weil es sich um gleichgeschlechtliche Liebe handelt, sondern auch, weil Tadzio praktisch noch ein Kind ist. Es bleibt also nur noch der Tod, welcher dann auch eintrifft. Es ist nicht unwesentlich zu erwähnen, dass zur Zeit Thomas Manns kein Schriftsteller ein anderes Ende hätte schreiben können, da es unweigerlich einen Skandal gegeben hätte. Außerdem hätte man noch stärkere Parallelen zum Verfasser des Textes gezogen. Die Frage allerdings, ob Aschenbachs Tod wirklich ein Scheitern ist wird vom Autor selber nicht beantwortet. Die Meinungen und Interpretationen gehen hier auseinander.
Motive
Durch das Gesamte Werk ziehen sich Motive, die dem Leser den Tod Aschenbachs schon ankündigen, bevor er überhaupt eintrifft.
- Das entscheidende und zentrale Motiv ist das des Todesboten.
Die in der Novelle vorkommenden Figuren des Schiffszahlmeisters, des Gecken und des Gondolieres enthalten Anspielungen auf die mittelalterliche Darstellung des Todes z.B. Skelett oder Schädel. Wie in vielen alten Kunstwerken sehen wir in diesen Figuren weiße oder gelbe Zähne, eine Grimasse, rotes Haar, und eine kurze, meistens aufgeworfene Nase. Der Reisende, zum Beispiel, dem Gustav von Aschenbach am Nördlichen Friedhof in München begegnet, wird so dargestellt: Er ist „mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig“, er gehört „zum rothaarigen Typ und [besitzt] dessen milchige und sommersprossige Haut.“ (Kapitel I) Die rote Farbe des Haares ist hier repräsentativ für den Tod, zum Teil weil sie ein Anzeichen des Teuflischen ist, aber auch weil sie uns an Blut, Feuer, und Zerstörung erinnert. Auch bilden die Bartlosigkeit und die Magerkeit eine eindeutige Metapher für ein Totengerippe. Die gekreuzten Beine sind eine mytologische Anspielung auf den Tod. Auch wird diese Person oft mit Hermes, dem Götterboten und Begleiter Dionysos verglichen.
Auch der Gondoliere weist ähnliche Merkmale auf. Er hat rötliche Brauen und eine kurze aufgeworfene Nase, und er trägt eine gelbe Schärpe. (Kapitel II) Die gelbe Farbe dieser Schärpe deutet wieder auf die alten Todesbilder an: sie ist ein typisches Zeichen des Verfalls und der Verwesung, vielleicht weil sie mit Krankheiten wie Gelbsucht assoziiert ist. Anhand der Beschreibungen lassen sich also einige Figuren benennen, die mit diesen Personen im Zusammenhang stehen.
Auch der Todesgott Thanatos taucht in Manns Novelle auf. Zum Einen verkörpert der Fremde, den Aschenbach auf dem Friedhof findet Thanatos (des Weiteren auch noch Hermes, daher auch die Reiselust, und diabolische Symbole) und in dem Jüngling Tadzio, der zeitweise angelehnt, mit gekreuzten Füßen und einem Gurtanzug im Hotel steht.
- Hermes (Gott der Reisenden, (Bast-)Hut, Reisetasche)
- griechischer Unterweltsfährmann Charon (Schiffe)
- christlicher Tod (stumpfe Nasen, gebleckte Zähne, bleiche Gesichter, Alter)
- Teufel (rote Haare, Grinsen, hornähnliche Stirnfalten)
- Satyr = Dionysosbegleiter (stumpfe Nasen, Grinsen)
- Thanatos = Gott der Toten (gekreuzte Beine; gesenkte Fackel, gelber Gurtanzug)
Ein anderes Todesmotiv ist das Schiff des Gondolieres, das an einen Sarg erinnert oder der Granatapfelsaft, den er trinkt. (Angelehnt an die Geschichte von Persephone)
- Ein weiteres Motiv ist die Stadt Venedig. In Aschenbachs Erinnerungen erscheint sie schön und zauberhaft, als er sie erblickt, erblickt er ein negatives Bild. Auch das Stadtbild Venedigs, das von Verfall geprägt ist und eher morbiden Charme versprüht, deutet auf das Thema des Verfalls hin.
- Das Wetter kann man ebenfalls als Motiv benennen. Als er in Venedig ankommt ist es trüb und nebelig, als er abfahren will, scheint die Sonne und das Wetter ist klar. Dann entschließt sich Aschenbach zu bleiben und der Schirokko drückt daraufhin stark auf Aschenbachs Gesundheit. Am Ende, als er dem Sterben nahe ist, schwenkt das Wetter wieder und ist fortan bewölkt und windig.
- Das Motiv des Meeres symbolisiert einerseits den Fluss der Unterwelt, über den der Fährmann fährt. Es steht für Aschenbach aber auch für Ruhe (wenn er allein ist) und für Chaos (wenn Tadzio anwesend ist).
- Das letzte Motiv sind die Gebärden Aschenbachs. Wie am Anfang beschrieben, hat Aschenbach immer züchtig und angespannt gelebt. Dementsprechend sind seine Handbewegungen geschlossen und sittsam. Im Laufe der Geschichte erschlafft seine Haltung allerdings, er lässt den Arm lässig über der Lehne hängen und zeigt die Handflächen offen. Hier wird sein Fall vom Würdevollen, Moralischen zur Unwürde und dem unmoralischen verdeutlicht.
Die Motive deuten Aschenbachs Ableben schon an und spiegeln seinen gesundheitlichen und seelischen Zustand, welche in expliziter Form im Buch nicht genannt werden. Um es deutlicher auszudrücken, dass Aschenbach der Tod auflauert, kann man sich auf die Charaktere zurückbeziehen, dessen Dasein das des Todes ist.
Biographische Parallelen
Aus seinen Tagebüchern wird deutlich, in welcher Weise der Autor Thomas Mann selbst homosexuell oder zumindest bisexuell gewesen ist, dass ihn besonders die Erotik junger Männer faszinierte - und dass er diese Seite seiner Persönlichkeit absichtsvoll und konsequent nur in Gedanken und Träumen, niemals in der Tat ausgelebt hat. Er hat sich den Schein eines anständigen bürgerlichen Lebens gegeben und ist sehr anerkannt gewesen. Der Schriftsteller Aschenbach gleicht dem Autor in vielerlei Hinsicht. Da sind zum Beispiel die Werke, die er geschrieben hat (die im Buch genannten sind allesamt Werke Thomas Manns), oder der gleiche Geburtsort, die Parallelen zu den Eltern, die Reise nach Venedig (im Jahre 1911). Allerdings gibt es auch wesentliche Unterschiede. Im Gegensatz zu Thomas Mann hat es Aschenbach nicht geschafft, Apollinisches und Dionysisches zu verbinden. Zudem ist er seiner Leidenschaft eher nachgegangen als Thomas Mann.
Der Name der Hauptfigur scheint jedoch auch eine Anspielung auf den Dichter August von Platen zu sein (August --> Gustav; Ansbach, von Platens Geburtsort --> Aschenbach).
Entstehungsgeschichte
Im Jahre 1911 machte Thomas Mann mit seiner Frau Katia Mann Urlaub am Lido in Venedig. Zur gleichen Zeit verweilte dort auch Christian August Moes (Bruder von Friedrich Karl Moes) mit seinem Sohn Wladyslaw Moes. Der Romancier fand Gefallen an dem schönen polnischen Jungen und verewigte ihn als Tadzio in der Novelle. Thomas Manns Tadzio ruht in Warschau neben seinem Großoheim F.K. Moes.
In seinen Notizen wurden Aufzeichnungen gefunden, denen zufolge die Idee zur Novelle die war, einen Künstler im Verfall zu beschreiben. Anlass dazu sei der alte Johann Wolfgang von Goethe gewesen, der sich mit ca. 70 Jahren in eine sehr junge Frau verliebt hatte.
Bearbeitungen
1970 wurde die Novelle von dem italienischen Regisseur Luchino Visconti mit Dirk Bogarde als Aschenbach verfilmt.
1973 wurde Benjamin Brittens Oper Death in Venice uraufgeführt, die ähnliche biographische Parallelen zum Komponisten zulässt wie die Vorlage zu Thomas Mann.
Literatur
- Oldenbourg Interpretationen Nr. 61, Der Tod in Venedig, München 1993, ISBN 3-486-88660-6
- Ursula Geitner: Männer, Frauen und Dionysos um 1900: Aschenbachs Dilemma. In: Kritische Ausgabe 1/2005, 4ff. ISSN 1617-1357