Lernen durch Lehren
Lernen durch Lehren ist eine Unterrichtsmethode, im Rahmen derer Lernende (Schüler, Studenten, Teilnehmer von Weiterbildung) den Unterricht selbst - mit Hilfe des Lehrers - vorbereiten und durchführen. Die Methode ist eine Alternative zum klassischen Klassenunterricht. Die alternative Unterrichtsform kann einzelne Unterrichtssequenzen betreffen oder auch längere Einheiten. Bei einigen Lehrern übernehmen die Lernenden sogar den gesamten Unterricht von der ersten Stunde bis zum Ende des Schuljahres. Seit dem Einzug der sog. Lernerorientierung in die Schulrealität ist die Anzahl der Menschen und Institutionen, die sich mit Lernen durch Lehren befassen, stark gewachsen. Im Zuge dieser Popularisierung wurde der Begriff "Lernen durch Lehren" teilweise auf alle Verfahren ausgedehnt, die Unterweisung von Laien durch Laien vorsehen.
Geschichte
Schon im Altertum formulierte Seneca in seinen Briefen an Lucilius den Gedanken, dass man beim Lehren selbst lernt (epistulae morales I, 7, 8): docendo discimus (lat.: "durch Lehren lernen wir"). Versuche, Schüler als Lehrer einzusetzen, gab es immer schon, weniger aus didaktischen Gründen, sondern um die Lehrer zu entlasten. 1795 beschrieb der Schotte Andrew Bell [1] das Prinzip des gegenseitigen Unterrichtens, das er in Madras beobachtet und angewandt hatte. Der Londoner Joseph Lancaster griff das Konzept auf und setzte es in seinen Schule um. Eingesetzt wurde die Methode ferner ab 1815 in Frankreich in den "écoles mutuelles" (vgl.Link), um der ansteigenden Schülerpopulation Herr zu werden; nach 1830 zählten sie bis zu 2000 Schulen. Ausschließlich aus didaktischer Sicht verfassten in jüngerer Zeit in den USA Gartner 1971[2], und in Deutschland Krüger 1975[3] Monographien zu Lernen durch Lehren. In der Folgezeit wurde diese Methode immer wieder beschrieben und untersucht z.B. - im Fremdsprachenunterricht - von Wolfgang Steinig 1985[4] oder in unterschiedlichen Fächern in Ursula Drews (Hrsg): "Themenheft: Schüler als Lehrende" 1997[5] . Ebenfalls 1997 erschien eine Studie, die allerdings unter Laborbedingungen entstanden war[6] Eine breitere Fundierung erhielt die Methode in Deutschland ab 1980 vor allem durch Jean-Pol Martin, der das Konzept im Französischunterricht systematisch entwickelte und in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen dokumentierte [7]. In der Praxis wurde das Verfahren unter dem Kürzel LdL mit Hilfe eines 1987 von Martin gegründeten Kontaktnetzes verbreitet, das mehr als tausend Lehrer umfasste [8]. Die beteiligten Pädagogen erprobten die Methode in allen Fächern, dokumentierten ihren Unterricht und stellten LdL in Lehrerfortbildungen vor. Seit 2001 erlebt LdL einen Aufschwung im Zusammenhang mit den in allen Bundesländern eingeleiteten Schulreformen (vgl.insbesondere den Bayerischen Modellversuch Modus 21). Inzwischen hat "Lernen durch Lehren" auch Einzug in die Erwachsenenbildung gefunden (Hochschulbereich, sonstige Bildungsträger).
Lernen durch Lehren nach Martin (LdL)
Das Konzept "Lernen durch Lehren" nach Martin (LdL) wurde im Französischunterricht entwickelt und enthält eine pädagogisch-anthropologische sowie eine fremdsprachendidaktische Komponente.
Die pädagogisch-anthropologische Komponente
Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Bedürfnispyramide von Maslow. Die Aufgabe, anderen einen Wissensstoff zu vermitteln, soll die Bedürfnisse nach Sicherheit (Aufbau des Selbstbewusstseins), nach sozialem Anschluss und sozialer Anerkennung sowie nach Selbstverwirklichung und Sinn (Transzendenz) befriedigen. Während im lehrerzentrierten Unterricht in der Regel eine rezeptive Aufnahme von bereits linear geordneten Lerninhalten stattfindet (Linearität a priori), wird bei LdL die Konstruktion von Wissen durch die Lerner angestrebt. Ausgehend von im Unterricht bereitgestellten, aber noch nicht geordneten Informationen, stehen die Lerner bei LdL vor der Aufgabe, diese Informationen durch Bewerten, Gewichten und Hierarchisieren zu Wissen umzuformen (Linearität a posteriori). Dieser Prozess kann nur auf der Grundlage intensiver Kommunikation erfolgen. Hierzu kann metaphorisch die Struktur von neuronalen Netzen angestrebt werden, indem durch intensive multipolare Interationen zwischen den Schülern Problemlösungen als Ergebnis "emergieren". So betrachtet lernt die Gruppe als Ganzes, indem stabile Interaktionsstrukturen zwischen den Schülern entstehen, wie dies beim Lernen im Gehirn erfolgt, wenn stabile synaptische Verbindungen zwischen den Neuronen aufgebaut werden.
Die fremdsprachendidaktische Komponente
Sprachdidaktischer Aspekt: Die traditionelle Didaktik sieht einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen den drei klassischen Lern-Paradigmen Habitualisierung (behavioristische Komponente), Stoffbezogenheit (kognitivistische Komponente) und authentischer Interaktion (kommunikative Komponente):
- 1). Der kognitive Ansatz geht davon aus, dass man sich intensiv mit den Strukturen z.B. einer Sprache (Grammatik, Wortschatz) befassen muss, um sie zu lernen. Dann bliebe allerdings keine Zeit mehr, um zu sprechen und authentisch zu kommunizieren;
- 2). Der habitualisierende Ansatz (Bildung von Reflexen) geht davon aus, dass man nur dann z.B. eine Sprache erlernt, wenn man ständig nachahmt und wiederholt (man glaubt, dass nur so Reflexbildung entsteht). Zur Grammatik und zur echten Kommunikation bliebe dann keine Zeit mehr;
- 3). Der kommunikative Ansatz geht davon aus, dass man vorwiegend durch die Mitteilung echter Botschaften lernt. Formale Strukturen (etwa Grammatik, Syntax) sind hier zweitrangig und daher wird zu ihrer Erlernung im Unterricht weniger Zeit aufgewendet (hohe Fehlertoleranz).
LdL möchte die Sequentialität aufbrechen und die drei Ansätze parallelisieren: Die Schüler müssen a) die Inhalte kognitiv durchdringen, b) miteinander intensiv sprechen, um den anderen den Stoff zu vermitteln und c) dadurch bestimmte Sprachstrukturen immer wieder anwenden. Diese drei Schritte greifen dabei ineinander, da sie im Rahmen der Lernmethode iterativ und über Rückkopplungen gesteuert immer wieder von neuem vorgenommen werden müssen.
Inhaltlicher Aspekt: In der Lehrbuchphase präsentieren die Schüler die Inhalte des Lehrwerkes. Wenn die Lehrbuchphase abgeschlossen ist, liegt es in der Logik des Ansatzes, dass die Schüler selbst im Rahmen von Projekten neues Wissen erarbeiten und im Klassenverband weitergeben. In dieser Phase (11.Klasse bis Abitur) hängt die Motivation der Schüler stark von der Qualität der Inhalte ab. Die Schüler sollen spüren, dass sie bei deren Behandlung auf die Zukunft vorbereitet werden (transzendentaler Bezug: Bedürfnis nach Sinn).
Praktische Anwendungen
Lernen durch Lehren nach Martin (LdL)
Von den Anhängern des Lernen durch Lehren Ansatzes nach Martin (LdL) wird die Methode ausschließlich als unterrichtsgestaltende Methode innerhalb eines Klassenverbandes angewandt. Vor jeder Lektion teilt der Lehrer den Stoff in bearbeitbare Teilabschnitte ein. Es werden Lernergruppen (maximal drei Schüler) gebildet und jede Gruppe bekommt einen abgegrenzten Stoffabschnitt sowie die Aufgabe, diese Inhalte der Gesamtgruppe zu vermitteln. Die Schüler bereiten den Stoff didaktisch auf (spannende Impulse, Abwechslung in den Sozialformen usw.). Bei dieser Vorbereitung, die im Unterricht stattfindet, steht der Lehrer den einzelnen Lernergruppen zur Seite und gibt Impulse und Ratschläge. Grundsätzlich neigen Lehrer dazu, die didaktischen Fähigkeiten von Lernern stark zu unterschätzen. Nach einer Eingewöhnungsphase zeigen Schüler meist ein beachtliches pädagogisches Potenzial. Im Sinne optimaler Didaktik verlangt LdL, dass die selbstgestalteten Lehreinheiten nicht als ein durch Lerner gehaltener Frontalunterricht oder ein Unterricht durch Vortrag von Referaten missverstanden werden. Die unterrichtenden Schüler sollen sich ständig mit geeigneten Mitteln versichern, dass jede Information von den Adressaten verstanden wird (kurz nachfragen, zusammenfassen lassen, kurze Partnerarbeit einflechten). Hier muss der Lehrer intervenieren, wenn er feststellt, dass die Kommunikation nicht gelingt oder dass die von den Lernern eingesetzten Motivationstechniken nicht greifen.
Die meisten Lehrer verwenden die Methode nicht flächendeckend, sondern phasenweise und/oder nur in einigen, besonders geeigneten Gruppen und berichten über folgende Vor- bzw. Nachteile:
Die Vorteile:
- Der Stoff wird intensiver erarbeitet und die Schüler sind wesentlich aktiver
- Die Schüler erwerben zusätzlich zum Fachwissen weitere Schlüsselqualifikationen:
- Teamfähigkeit
- Planungsfähigkeit
- Zuverlässigkeit
- Präsentation und Moderation
- Selbstbewusstsein
Die Nachteile
- Höherer Zeitaufwand bei der Einführung der Methode
- Höherer Arbeitsaufwand bei Schülern und Lehrern/Dozenten
- Gefahr der Eintönigkeit, wenn der Lehrer keine didaktischen Impulse liefert
Praktische Anwendungen außerhalb des LdL-Kontextes
Bitte ergänzen.
Quellen
- ↑ Andrew Bell: Expériences sur l'éducation faite à l'école des garçons à Madras, 1798
- ↑ Alan Gartner et al.: Children teach children. Learning by teaching. Harper & Row, New York 1971
- ↑ Rudolf Krüger: Projekt „Lernen durch Lehren“. Schüler als Tutoren von Mitschülern'.' Klinkhardt, Bad Heilbronn 1975
- ↑ Wolfgang Steinig: Schüler machen Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr.1985
- ↑ Ursula Drews (Hrsg.): Themenheft: Schüler als Lehrende. PÄDAGOGIK. 11/49/1997. Beltz-Verlag, Weinheim
- ↑ Renkl, Alexander: Lernen durch Lehren. Zentrale Wirkmechanismen beim kooperativen Lernen. Deutscher Universitätsverlag: Wiesbaden, 1997.
- ↑ Jean-Pol Martin:Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes. Dissertation. Tübingen: Narr. 1985 Jean-Pol Martin: Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 4/1986. S. 395-403 (PDF), Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch fundierten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Habilitation. Tübingen: Narr 1994. Jean-Pol Martin: Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz. In: Henrici/Zöfgen (Hrsg.): Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL). Themenschwerpunkt: Innovativ-alternative Methoden. 25. Jahrgang (1996). Tübingen: Narr, S. 70-86 (PDF; 0,2 MB), Jean-Pol Martin (2002a): Weltverbesserungskompetenz als Lernziel? In: Pädagogisches Handeln – Wissenschaft und Praxis im Dialog, 6. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 71-76 (PDF), Jean-Pol Martin (2002b): Lernen durch Lehren (LdL). In: Die Schulleitung - Zeitschrift für pädagogische Führung und Fortbildung in Bayern, 4/2002, S. 3-9 (PDF; 70 KB)
- ↑ Jean-Pol Martin (1989): Kontaktnetz: ein Fortbildungskonzept, in: Eberhard Kleinschmidt,E.(Hrsg.), Fremdsprachenunterricht zwischen Fremdsprachenpolitik und Praxis: Festschrift für Herbert Christ zum 60. Geburtstag, Tübingen. 389-400, (PDF 62 KB)
Weblinks
Geschichte
Lernen durch Lehren nach Martin (LdL)
- Treibhäuser der Zukunft (2004) Umfangreiche Film-Dokumentation von Reinhard Kahl zu neuen Pädagogischen Ansätzen, darunter auch "Lernen durch Lehren".
- Hauptportal LdL
- LdL-Theorie nach Martin (Anthropologische Basics)
- Materialien für verschiedene Unterrichtsfächer auf LdL.de