Nariokotome-Junge

Nariokotome-Junge[1] oder Turkana Boy bezeichnet das Fossil eines männlichen, jugendlichen Individuums der Gattung Homo, dessen außergewöhnlich vollständig erhalten gebliebenes Skelett im August 1984 in Kenia am Trockenfluss Nariokotome, rund 5 km westlich des Turkana-Sees, entdeckt wurde.[2]
Entdeckung
Am 22. August 1984 entdeckte Kamoya Kimeu auf einem baumbestandenen Hügel ein kleines, rechtwinkeliges, zweieinhalb mal fünf Zentimeter großes Fragment eines homininen Stirnbeins;[3] die Suche nach weiteren Oberflächenfunden blieb erfolglos. Kimeu war der seit langem zunächst für Louis Leakey und später für Richard Leakey tätige Leiter einer Gruppe von Kenianern, deren Aufgabe darin bestand, die Erdoberfläche nach Fossilien abzusuchen, hominine Funde zu markieren und sie so den Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Kimeu war zudem so erfahren, dass er den Fund aufgrund seiner vom Druck des Gehirns glatt gewordenen Innenwand (die entsprechenden Knochen von Schwein oder Gazelle sind innen rau) und der Dicke des Knochens korrekt als zu Homo erectus gehörig identifizierte. Sowohl Richard Leakey, Inhaber der Grabungslizenz für das erstmals erkundete Areal am Nariokotome-Flussbett und erfahrene im Bergen von Fossilien, als auch der Paläoanthropologe Alan Walker, zuständig für die erste morphologische Bewertung von Knochenfunden, hielten sich an diesem Tag in Nairobi auf, um Arbeiten im Labor und im Büro zu erledigen. Per Funk von dem Fund informiert, flogen beide tags darauf ins Nariokotome-Camp.
Am 24. August begannen Kimeus Helfer, die Fundstelle des Stirnbeins großflächig von Steinen, Ästen und anderem Material zu befreien, die oberste Erdschicht abzutragen und alles Aushubmaterial abseits der Fundstelle durch Siebe zu rütteln. Tatsächlich wurden beim Sieben weitere Fragmente des Stirnbeins gesichtet, ferner das rechte Schläfenbein (der Teil des Schädels, der das rechte Ohr umgibt) sowie das rechte und linke Scheitelbein (das Dach des Schädels). Alle Fossilien gehörten zweifelsfrei zu Homo erectus, eine erste Abschätzung ihres Alters anhand der Bodenschichten ergab 1,2 Millionen Jahre. Daraufhin informierte Leakey die National Geographic Society, einen der Geldgeber für die Ausgrabungen, die ihren Fotografen David Brill ins Nariokotome-Camp entsandte, in der Hoffnung, die Bergung weiterer Funde für die Leser des Magazins National Geographic dokumentieren zu können. Nachdem Brill das Lager erreicht hatte, wurden die Ausgrabungen fortgesetzt, und tatsächlich wurde das zweite Schläfenbein gefunden, Stücke eines Wangenbeins und etliche andere Knochenfragmente, schließlich auch der weitgehend komplett erhaltenen Oberkiefer ohne heraus ragende Weisheitszähne – ein Hinweise darauf, dass es sich um das Fossil eines Jugendlichen handelte.
Als erste Stücke aus dem Bereich unterhalb des Kopfes wurden wenig später mehrere Rippen entdeckt: Rippen gelten als besonders ungewöhnliche Funde, denn da Homo erectus seine Toten nicht begrub, wurden sie – wie alle anderen Tiere – von Aasfressern zerbissen, um an die inneren Organe zu gelangen; zudem sind Rippenknochen in der Regel nicht hart genug, um zu fossilisieren. Aber erst als auch ein Stück von einem Schulterblatt geborgen war, zeichnete sich ab, dass es sich um einen sensationellen Fund handeln könnte – das erste Skelett eines Homo erectus und – nach Lucy – das erst zweite fossile Skelett eines Individuums aus der Ahnenreihe des Menschen. Kurz darauf wurden weitere Teile eines Skeletts freigelegt: ein Wirbelknochen und das rechte Sitzbein (ein Teil des Beckens). Bis zum 1. September waren dann u.a. weitere Wirbelknochen und mehrere komplette Rippen entdeckt worden, ferner Teile eines Kreuzbeins und das untere Ende eines Schienbeins. Es folgten die Oberschenkelknochen, das zweite Schienbein, zwei intakte Schlüsselbeine, die Oberarmknochen und der Unterkiefer. Am 21. September 1984 wurden die Ausgrabungen beendet – tatsächlich war der von seinen Entdeckern als „Nariokotome-Junge“ bezeichnete Fund[4] bereits zu diesem Zeitpunkt das am besten erhaltene Skelett eines frühen Individuums der Hominini. In den folgenden vier Jahren bis 1988 wurden jedoch weitere Knochen geborgen, indem der gesamte Fundhügel – 1400 Kubikmeter Erde und Steine – von Hand abgetragen und gesiebt wurde. Es fehlten am Schluss nur die kleinen Hand- und Fußknochen, die vermutlich als erste aus der Erde heraus erodiert und von den Hufen der Turkana-Ziegen zertreten worden waren.
Beschreibung

In der Erstbeschreibung wurde das Fossil zu Homo erectus gestellt und auf 1,6 Millionen Jahre datiert.[2] Das Alter des Jugendlichen bei Eintritt des Todes wurde aufgrund der noch nicht vollständig durchgebrochenen dauerhaften Zähne und des Knochenbaus zunächst auf 11 bis 13 Jahre (später auf 8 bis 9 Jahre) und seine Körpergröße auf 169 cm geschätzt; in einer späteren Analyse des Knochenbaus wurde das Alter des Fossils mit 1,53 ± 0,05 Millionen Jahren und die Körpergröße bei Eintritt des Todes mit 141 bis 147 cm ausgewiesen.[5] Der Schädel weist große Ähnlichkeit mit den Homo-erectus-Funden aus Asien auf, insbesondere zu den Java-Menschen.[6] Bernard Wood schlug 1992 gleichwohl vor, das Fossil – zusammen mit anderen Funden vergleichbaren Alters und vergleichbaren Aussehens – zu Homo ergaster zu stellen,[7] einer Art, deren Merkmale allerdings nie genau gegen Homo erectus und gegen andere vergleichbar alte Arten der Hominini abgegrenzt wurden.
Als Erwachsener wäre der Nariokotome-Junge einer 2015 publizierten Schätzung zufolge 176 bis 180 cm groß und 80 bis 83 kg schwer geworden,[8] eine weitere Studie aus dem Jahr 2018 bestätigte diese Schätzung, vergrößerte jedoch die Spannweite auf 160 bis 177,7 cm für die Körpergröße und 60 bis 82,7 kg für das Gewicht.[9]
Aufgrund seiner mehr als 90-prozentigen Vollständigkeit – es wurden rund 80, zum Teil allerdings zerbrochene Körperknochen aus der Region unterhalb des Halses entdeckt – konnten anhand dieses Fundes erstmals wichtige Unterschiede zwischen Homo erectus und Homo sapiens studiert werden; einzig die Mehrzahl der Fuß- und Handknochen fehlte, und der Schädel war in rund 70 Fragmente zerbrochen. Die Rekonstruktion des Schädels lässt auf ein Innenvolumen von ca. 880 cm³ schließen, das sich beim Erwachsenen vermutlich auf ca. 910 cm³ vergrößert hätte (zum Vergleich: das Gehirnvolumen des Jetztmenschen beträgt ca. 1400 cm³). Der Bau des Beckens, der Schultergelenke und der großen Arm- und Beingelenke steht im Einklang mit einer – im Unterschied zu den Arten der Gattung Australopithecus – sehr weitgehenden Anpassung an eine zweibeinige Fortbewegungsweise.[10] Ein besonders auffälliger Unterschied zum modernen Menschen besteht darin, dass der Wirbelkanal wesentlich enger als bei Homo sapiens ist.
Die anfängliche Fehleinschätzung des Lebensalters beruhte darauf, dass zunächst der von Homo sapiens bekannte Fortschritt der Verknöcherung seiner Schädelnähte auf den Nariokotome-Jungen übertragen wurde. Eine genaue Analyse der Wachstumslinien des Zahnschmelzes ergab jedoch Hinweise darauf, dass dessen körperliche Entwicklung weit schneller verlief als bei anatomisch modernen Menschen, die Kindheit damals also wesentlich kürzer war als heute.[11]
Die wissenschaftliche Bezeichnung des Fundes lautet KNM-WT 15000, Verwahrort ist das Nairobi National Museum (früher: Kenya National Museum, daher KNM; WT für die Westseite des Turkana-Sees). Bis zur Bekanntgabe der Funde von Homo naledi im Jahr 2015 war – abgesehen von rund 100.000 Jahre alten Neandertaler-Skeletten – kein vergleichbar vollständig erhaltenes Skelett einer Chronospezies der Gattung Homo entdeckt worden.
Literatur
- Alan Walker, Richard E. Leakey (Hrsg.): The Nariokotome Homo erectus Skeleton. Springer, Berlin und Heidelberg 1993, ISBN 978-3-662-10384-5 (zugleich: Harvard University Press, Cambridge, MA, USA, 1993)
- Alan Walker, Pat Shipman: Turkana-Junge. Auf der Suche nach dem ersten Menschen. Galila Verlag, Etsdorf am Kamp 2011, ISBN 978-3-902533-77-7 (überarbeitete deutsche Ausgabe von The Wisdom of Bones, Weidenfeld & Nicolson, London 1996)
- M. Christopher Dean und B. Holly Smith: Growth and Development of the Nariokotome Youth, KNM-WT 15000. In: Frederick E. Grine, John G. Fleagle, Richard E. Leakey (Hrsg.): The First Humans. Origin and Early Evolution of the Genus Homo. Springer, Dordrecht 2009, S. 101–120, ISBN 978-1-4020-9979-3, doi:10.1007/978-1-4020-9980-9_10
- Ronda R. Graves et al.: Just how strapping was KNM-WT 15000? In: Journal of Human Evolution. Band 59, Nr. 5, 2010, S. 542–554, doi:/10.1016/j.jhevol.2010.06.007
Siehe auch
Weblinks
- Abbildung des Skeletts und des rekonstruierten Schädels Auf: talkorigins.org
- Turkana boy: A 1.5-Million-year-old Skeleton. ( vom 19. Januar 2015 im Internet Archive) Ausführliche Fundbeschreibung (auf Englisch, PDF; 594 kB)
Einzelnachweise
- ↑ ausgesprochen als sechssilbiges Wort: na-ri-o-kot-o-me
- ↑ a b Frank Brown, John Harris, Richard Leakey und Alan Walker: Early Homo erectus skeleton from west Lake Turkana, Kenya. In: Nature. Band 316, 1985, S. 788–792, doi:10.1038/316788a0
- ↑ Die Beschreibung der Entdeckung folgt Alan Walker, Pat Shipman: Turkana-Junge, S. 21–40.
- ↑ Quelle: Alan Walker, Pat Shipman: Turkana-Junge, S. 39.
- ↑ James C. Ohman et al.: Stature-at-death of KNM-WT 15000. In: Human Evolution. Band 17, Nr. 3–4, 2002, S. 129–141, doi:10.1007/BF02436366.
- ↑ Java Man and Turkana Boy. Ein Vergleich der Homo erectus-Funde aus Afrika und Asien auf talkorigins.org
- ↑ Bernard Wood: Origin and evolution of the genus Homo. In: Nature. Band 355, 1992, S. 783–790, Volltext (PDF) ( vom 13. September 2014 im Internet Archive)
- ↑ Christopher B. Ruff und M. Loring Burgess: How much more would KNM-WT 15000 have grown? In: Journal of Human Evolution. Band 80, 2015, S. 74–82, Zusammenfassung
- ↑ Deborah L. Cunningham et al.: The effect of ontogeny on estimates of KNM-WT 15000's adult body size. In: Journal of Human Evolution. Band 121, 2018, S. 119–127, doi:10.1016/j.jhevol.2018.04.002
- ↑ Damiano Marchi et al.: Relative fibular strength and locomotor behavior in KNM-WT 15000 and OH 35. In: Journal of Human Evolution. Band 131, 2019, S. 48–60, doi:10.1016/j.jhevol.2019.02.005
- ↑ Ian Tattersall: The Strange Case of the Rickety Cossack – and Other Cautionary Tales from Human Evolution. Palgrave Macmillan, New York 2015, S. 152, ISBN 978-1-137-27889-0