Ensel und Krete
Ensel und Krete ist ein Roman von Walter Moers. Er spielt, wie auch andere Werke Moers', auf dem fiktiven Kontinent Zamonien und stellt eine Parodie des Grimmschen Märchens Hänsel und Gretel mit zwei "Fhernhachen"kindern in den Hauptrollen dar.
Moers setzt hier zum ersten Mal die Figur des zamonischen Dichterfürsten Hildegunst von Mythenmetz als fiktiven Autor des Buches, das man gerade in Begriff ist zu lesen, ein. In der Tradition romantischer Romane (vgl. z.B. E.T.A. Hoffmanns Kater Murr) fungiert der eigentliche Autor Walter Moers nur als 'Übersetzer' des Textes aus dem Zamonischen. Dieser übersetzt es jedoch nicht nur, sondern greift zusätzlich in das angebliche Original ein, indem er es mit zahlreichen Abbildungen, Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, einigen Kommentaren zur Schwierigkeit des Übersetzens sowie der halbe[n] Biographie des Hildegunst von Mythenmetz ergänzt.
Inhalt des Märchens
Ensel und Krete ist ein zamonisches Märchen. Es spielt in Zamonien, ganz im Norden des Kontinents, im sog. "Großen Wald" östlich der Finsterberge unter der Bärenbucht. Der große Wald wurde vor Jahrzehnten von den Buntbären bevölkert und zu einer riesigen Touristenattraktion ausgebaut. Allerdings ist nur ein kleiner Teil von den Bären bewohnt, ein paar Dörfchen, die zusammengefasst „Bauming“ genannt werden. Hier verbringt die Familie „von Hachen“ ihre Ferien. Die zwei Kinder, der Junge Ensel und seine Schwester Krete haben aufgrund des geringen Freizeitangebotes für Kinder nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag Himbeeren zu pflücken. Eines Tages hängen Ensel die Himbeeren dermaßen zum Fhernhachen-Hals raus, dass er sich mit seiner Schwester verbotenerweise in den unerforschten Wald begibt. Um den Rückweg zu finden, legen sie eine Himbeer-Spur, doch ein machthungriges Erdgnömchen isst sämtliche Beeren auf. Ein Stollentroll führt sie später auch noch in die falsche Richtung.
Ensel und Krete laufen planlos durch den großen Wald, immer auf der Suche nach Anzeichen einer Buntbärensiedlung oder einem Holzweg. Als sie endlich einen Buntbären-Trupp finden, und um Hilfe rufen, wecken sie einen Laubwolf auf. Ensel und Krete klettern schnell auf einem Baum hinauf, und entdecken dort ein Astloch mit wo der Laubwolf seine Opfer verspeist, und sich demnach ein gewaltiger Schatz dort befindet. Dummerweise kann der Wolf klettern, und kurz bevor er sie fressen kann, werden sie von einer geheimen Spezial-Jäger-Einheit der Buntbärenförster gerettet, die sie zum Bürgermeister bringen. Er dankt ihnen für ihre Mithilfe beim Kampf gegen den Laubwolf, doch gerade als Ensel dem Buntbärenvolk erklären will, dass er einen riesigen Schatz gefunden hat, den er dem Forst spenden will, wachen die beiden auf. Die ganze Geschichte um den Laubwolf war nur ein Traum, ausgelöst durch die pechschwarzen giftigen Hexenhutpilze, die auf einer Lichtung im Großen Wald wachsen und Halluzinationen hervorrufen.
Entmutigt wandern sie weiter, bis sie zu einem See kommen. Ensel macht einen Schritt hinein und erfährt, dass der See früher ein gewaltiger Eismeteorit mit telepatischen Kräften war, der ihn nun zu einer imaginären Spritztour durch das Universum mitnimmt. Der Meteorit lockt Ensel mit großartigen Bildern von sterbenden Planeten und dem Hintern des Pferdenebels weiter in sich hinein, doch Krete kann ihn gerade noch herausziehen. Weiter gehts, die Fhernhachen begegnen drei Sternenstaunern, die seit dem Anbeginn der Zeiten im großen Wald leben und viele tausend Augen besitzen, damit sie auch ja alles beobachten können, was um sie herum geschieht. Sie gelten als sehr weise, doch die beiden Kinder müssen feststellen, dass sie trotz ihres Alters dennoch nicht sonderlich klug sind, und auch nur egoistisch sind.
Eines Nachts, am Lagerfeuer hören sie, wie sich ihnen etwas nähert, was sehr merkwürdig ist, denn sie hatten bis jetzt noch keine Tiere im Wald gesehen. Das unheimliche Wesen spricht in vielen verschiedenen Tierstimmen, doch immer wieder tönt ein tiefes HORRRR aus dem Getuschel heraus. Die Geräusche entfernen sich und am Morgen darauf haben sie wieder alles vergessen.
Zwei Tage später laufen sie durch eine Lichtung und plötzlich verschwindet Krete im hohen Gras. Ensel will ihr hinterher, doch eine große Orchidee am Rand der Lichtung warnt ihn, das sei kein normales Gras, das sei Treibgras, und Krete werde von dem Monster gefressen, das darin wohnt. Ensel bittet sie, Krete zu helfen, doch die Orchidee willigt nur ein, wenn die beiden Kinder sie dafür an einen schöneren Ort verpflanzen. Ensel verspricht es ihr, und sie lässt ihre Zunge hinabgleiten und rettet so Krete vor der Halmmuräne, die im Treibgras auf Opfer wartet. Wie versprochen graben Ensel und Krete die Orchidee aus und tragen sie fort.
Die Hexe: Ihre Geschichte kennt jedes Kind in Zamonien. Sie soll seit Urzeiten im großen Wald leben und von ihr sollen auch die Hexenhutpilze stammen. Angeblich hat sie allen Tieren im Wald die Seelen ausgesaugt und sich von ihnen ernährt. Dummerweise stellt sich heraus, dass die Hexe ihr Haus nicht gebaut hat um darin zu wohnen, sondern um arme kleine Fhernhachenkinder anzulocken, und sobald sie das Haus betreten haben, verschließen sich Türen und Fenster und Magensäfte strömen hinein, um die Opfer aufzulösen. Als Retter in letzter Not eilt ihnen ein Buntbär zu Hilfe: Boris Boris. „Hallo, Kinder! Mein Name ist Boris Boris. Ich bin verrückt. Ich bin gekommen um euch zu retten und die Hexe kaltzumachen.“ Ensel und Krete können so aus dem Haus entkommen, und erleben nun den Kampf Hexe gegen Boris Boris. Der Buntbär ist allerdings nicht allein: sämtliche verbliebenen Tiere gehorchen seinem Befehl, denn er kann alle Tierstimmen sprechen, seitdem er verrückt geworden ist. Als erstes greifen Erdgnömchen das Haus an, sie stoßen zu den Wurzeln vor und beißen sie durch. Danach kommt der Angriff der Fledertratten, die mit Ultraschall angreifen, was die Hexe gar nicht ausstehen kann. Danach saugen sie soviel Saft aus dem Haus wie nur möglich. So geht es weiter, Biber, Bisamratten, Mäuse, Einhörnchen, Waldhasen und Schmetterlinge beißen, kratzen, wühlen oder setzen sich ganz einfach auf das Hexenhaus. Das alles beeindruckt die Hexe aber nicht sonderlich, so muss Boris Boris schließlich schwere Geschütze auffahren: Schuhus, Schlangen, Hirsche und Spechte attackieren sie, und schließlich kommen die Leuchtameisen. Diese kleinen Insekten spritzen ihr tödliches, fluoreszierendes Gift millionenfach in die Blutbahnen der Hexe, diese kreischt und stöhnt, doch sie stirbt nicht. Die Leuchtameisen verlassen das Schlachtfeld, denn langsam immunisiert sich die Hexe gegen das Gift, ja, sie fängt an es zu genießen. Aus ihrem Kreischen wird ein hohes, saugendes Geräusch, sie will mit ihrem Gesang die Seelen auf der Angreifer einsaugen, doch Boris Boris packt seine Axt, um den Sack, in dem die Seelen sind, zu zerstören. Er schafft es, und die Seelen wirbeln umher, doch sie greifen die Tiere und die Kinder nicht an. Stattdessen wenden sie sich gegen die Hexe, bilden einen leuchtenden Tornado, der sich in die Hexe bohrt und sie tödlich verwundet. Langsam beginnt sie, in die Erde zu sinken, und Boris Boris ist in ihr gefangen, doch dank der Zunge der Orchidee können Ensel und Krete ihn doch noch retten. Die Tierseelen fliegen zu den Friedhofssümpfen und Boris Boris führt die Kinder zurück nach Hause.
Verschiedene Ebenen des Romans
Ein "Moerschen": Die Märchenmotivik und ihre Variationen
Mythenmetzsche Abschweifung
Die Mythenmetzsche Abschweifung ist ein literarisches Stilmittel, das Moers' Figur Hildegunst von Mythenmetz angeblich für Ensel und Krete erfunden hat. Sie erlaubt dem Autor - ein Begriff, der an dieser Stelle sowohl Mythenmetz als auch Moers bezeichnen kann - den Erzählfluss seiner Geschichte zu unterbrechen und entweder zu einem ganz anderen Thema abzuschweifen (z.B. das Mittagessen, das Wetter, etc.), um dann unvermittelt mit der Geschichte fortzufahren, oder seine eigenen literarischen Techniken zu reflektieren und stolz vor dem Leser auszubreiten, um dadurch seine Leistung als Autor hervorzuheben ("Darf ich an dieser Stelle einmal auf meine schriftstellerische Raffinesse hinweisen? Natürlich darf ich das, innerhalb einer Mythenmetzschen Abschweifung darf ich alles."). Erzählereinschübe dieser Art sind keineswegs neu: Es gibt sie in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Eine besondere Ausformung erfuhr diese Spielart der Metafiktion in der Romantik. Der Witz liegt in Moers spezifischen Umgang damit: Er nutzt sie, um den Auftritt des überaus eitlen und von sich selbst hybrisch überzeugten "größten Dichters Zamoniens", dessen Name und Größe dem Leser bereits aus dem Blaubär bekannt ist, plastisch zu inszenieren. Dass diese an sich eher unoriginelle literarische Technik von Mythenmetz selbst als seine persönliche Erfindung deklariert und mit seinem eigenen Namen versehen wird, ist Teil dieser Inszenierung.
Dabei geht Moers ins Extrem, wenn er seine Autorfigur eben nicht nur für den Verlauf des Romanes wichtige Techniken der Literaturproduktion preisgeben lässt, sondern den Inhalt der Abschweifungen teilweise besonders banal gestaltet, indem er den Autor z.B. seinen Schreibtisch beschreiben lässt. Dass sich dies wiederum keinesfalls banal, sondern äußerst vergnüglich liest, liegt natürlich daran, dass es sich hierbei um den Schreibtisch eines hypochondrischen Lindwurms handelt und nicht etwa um den des realen Autors.
"Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz"
Der Roman dient hauptsächlich dazu, die Figur des Hildegunst von Mythenmetz für Moers' Zamonien-Projekt zu etablieren. Als angebliches Nachwort, aber für das Verständnis der Figur von essentieller Bedeutung, hat Moers deshalb an die eigentliche Abenteuergeschichte - die wie alle seine Bücher auf der Oberfläche auch als solche lesbar ist (s. Inhalt) - "Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz" angefügt. Unter dem Titel "Von der Lindwurmfeste zum Bloxberg" erzählt er eine Künstlerbiographie, die kein Klischee dieser Gattung auslässt. Die lange Lebensdauer der Lindwürmer ermöglicht es Moers dabei, seinen Helden die verschiedensten Formen von Dichterleben - von der drogenabhängigen Kaffeehausliteratenexistenz bis zur Korrumpierung durch die Industrie - durchlaufen zu lassen.
Immer wieder wird dabei - wie sich das für eine gute Künstlerbiographie gehört - auch die schriftstellerische Leistung des "Dichterfürsten" gewürdigt. Dabei verarbeitet Moers Elemente der Weltliteratur, indem er auf berühmte Romane anspielt (Im "Natifftoffenhaus" kann man unschwer Thomas Manns Buddenbrooks erkennen) oder die Charakteristika bestimmter Gattungen ironisch auf die Spitze treibt (So wird die barocke "Dingdichtung" zur "Totmateriedichtung", die ihren Anfang und Höhepunkt in Mythenmetz' Roman "Der sprechende Ofen" findet). Das Ganze nutzt Moers zu einigen Seitenhieben auf die Literaturwissenschaft, indem er pseudowissenschaftliche Fußnoten und Belege einfügt, die den Anschein erwecken, dass es sich bei der Biographie um das Werk eines Literaturwissenschaftlers handelt.
Bezüge zu anderen Zamonien-Romanen
Der Vorläufer: Der Blaubär - ein Buntbär
Als zweiter Roman in der Serie der Zamonien-Romane muss Ensel und Krete die Fans enttäuschen, denn die Figur des Käpt'n Blaubär kommt selbst nicht vor. Es sind jedoch auf mehreren Ebenen Elemente des Blaubär-Romans aufgegriffen worden. An erster Stelle ist hier der Ort, der "große Wald" und die Buntbärenkolonie, zu nennen, sowie das Volk des Blaubären. Der Blaubär endet mit einem Happy End, einer leicht überzogenen Idylle (Zitat?). Dieses Motiv greift Moers in Ensel und Krete ironisch auf und steigert es ins Sarkastische, indem er die Buntbären in einer ätzend-süßlichen und von einer Militärherrschaft aufrecht gehaltenen sauberen Touristen-Idylle leben lässt.
Einzelnen Figuren bzw. "zamonische Daseinsformen" aus dem Blaubär begegnen wir jedoch wieder: Der Stollentroll, der einst im Blaubär von dem weichherzigen aber kurzsichtigen Flugsaurier Mac im Buntbärenwald abgesetzt wurde, hat nichts von seiner Fiesheit eingebüßt. Er spielt nun eine tragende Rolle, indem er die verirrten Kinder immer wieder aufs Neue absichtlich in die falsche Richtung schickt. Die Waldspinnenhexe, der der Blaubär nur mit Mühe entrinnen konnte, kommt zwar nicht mehr direkt vor, doch ihr Tod hat seine Spuren in den Giftpilzen hinterlassen, die für die beiden Fhernhachenkinder zur Gefahr werden. Der "große Wald" erweist sich als noch ebenso unwegsam wie seinerzeit im Blaubär.
Hildegunst von Mythenmetz: Facetten einer Figur
Mythenmetz' Beziehung zum Blaubären
Auch auf der Ebene der fiktiven Autoreinschübe wird der Blaubär erwähnt. Abgesehen davon, dass die Figur des Mythenmetz als "größter zamonischer Dichter" dort bereits eingeführt wurde, wissen wir über ihn, dass er "Die Finsterbergmade" verfasste, (der wir persönlich mit dem Blaubären begegnet waren). Dies erwähnt die Biographie des Dichters selbstverständlich (Zitat?). Der Blaubär selbst taucht - wenngleich nicht namentlich genannt - auf, wenn Mythenmetz den "Lügengladiator in Atlantis" erwähnt, der das Happy End in die zamonische Dichtkunst eingeführt habe (Zitat?). An dieser Stelle verweben sich das "literarische Leben" des Blaubären als Lügengladiator mit dem des Schriftstellers von Zamonien. Für Ensel und Krete ist dies auf der Ebene der Literaturreflexion von Bedeutung, denn indem das Buch die Gattung "Märchen", die klassischerweise mit dem Happy End par excellence verbunden ist, aufruft, erwartet der (menschliche) Leser ein Happy End, wobei der zamonische Leser angeblich stets ein negatives Ende erwartet. Dies diskutiert Mythenmetz in seinem Märchenroman - er verfasst sogar zwei verschiedene Schlüsse - und verweist wie gesagt dabei auf den erfolgreichen Lügengladiator. So hat also die Lügentechnik des Blaubären Auswirkungen auf die Schreibweise des Mythenmetz und somit auf den Verlauf der Geschichte, die in Ensel und Krete erzählt wird.
Zeitliche Inkohärenzen muss der Leser hierbei allerdings in Kauf nehmen: Das gesamte Buntbärenszenario legt nahe, dass Ensel und Krete viele Jahre nach der Blaubär-Handlung spielt. Dann wäre der Blaubär als Lügengladiator längst Geschichte und Mythenmetz könnte sich nicht darauf als eine neue populär-literarische Strömung berufen. Dass dies trotzdem möglich ist, verweist auf die Überlegenheit von Fiktion über die Realität, die Moers bereits im Blaubär etablierte.
Ausgaben
Walter Moers: Ensel und Krete (Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller), 2. Aufl. Frankfurt : Eichborn, 2000, ISBN 3-8218-2949-4.
Weblinks
www.zamonien.de (Seiten des Eichborn-Verlages mit Auszügen aus Ensel und Krete)