Journalismustheorie
Mit der Professionalisierung des Journalismus im 19. Jhdt. begann die theoretische Beschreibung des Phänomens. Schon vor 150 Jahren lieferte Max Weber den „Vorbericht über eine vorgeschlagene Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens“, der eine theorie- und empiriegeleitete Bestandsaufnahme der deutschen Presse darstellt und die Produktions- und Arbeitsbedingungen beleuchtet. Viele theoretische Ansätze folgen, die Aussagen basieren auf Beobachtungen, wobei individuelle, kulturelle und sozialstrukturelle Unterschiede miteinzubeziehen sind. Den Journalismus an sich gibt es nicht, aber Beschreibungen werden durch Theorien (vgl. auch Theorie) und Versuche, die Ansätze zu systematisieren, gelenkt. Martin Löffelholz unterscheidet acht Journalismuskonzepte:
Normativer Individualismus
Fokus auf Begabung und Gesinnung von Journalisten. Komplexität sehr gering, Ertrag gering. Personenbezogen, was durch geschichtliche Ereignisse mitgeprägt wurde, z.B. durch individualistische Weltanschauung (Ende 18. Jhdt.), die die Basis für den Utilitarismus (Nützlichkeit = Grundlage sittlichen Verhaltens) war. Stichworte: Individualismus, Begabungsideologie. Journalisten galten als "geistige Führer", vor allem in der NS-Zeit: Subjektivität und Normativität machten die Zeitungswissenschaft zur "akademischen Instanz der Rechtfertigung". Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden manche Prämissen beibehalten, z.B. von Dovifat, der die zentral gesteuerte Propaganda gut hieß. Die "Gesinnungspublizistik" war die Basis für den personenbezogenen Journalismus-Begriff (sehr altes Verständnis, das weit hinter Max Weber zurückreicht). Dovifats Einfluss auf Begabungsideologie und wissenschaftliche Theoriebildung ist bis heute erkennbar. Weitere Vertreter: Bücher, Boventer, Hagemann, Groth.
Materialistische Medientheorie
Fokus auf Klassen und Kapitalverwertung. Komplexität gering, Ertrag sehr gering. Stammt aus Leipzig/DDR als Zweig der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften (nach Marx, Lenin und Engels). Journalismus wird als "ausgeprägt klassenmäßig bestimmte Institution des politischen Überbaus der Gesellschaft" gesehen. Daraus wurden die "Genretheorie der proletarischen Presse" und die "journalistische Methodik" entwickelt. Berufspolitisch waren diese in der DDR erfolgreich, im Westen eher nicht. Vertreter sahen den Journalismus als Produktionsprozess von Medienaussagen. Stichworte: klassenabhängig, Kapitalverwertung (Medien als Unternehmen, Nachrichten als Waren), Produktivkraft. Diese Ökonomisierung bzw. Hinweise auf Kommerzialisierung sind Standard von empirischen Journalismusanalysen, haben Komplexität und Relevanz aber stark vermindert. Weitere Vertreter: Dusiska, Holzer, Hund.
Analytischer Empirismus
Fokus auf Nachrichtenselektion, Agenda-Setting und Akteuren. Komplexität mittel, Ertrag hoch. Zentrales Paradigma der gegenwärtigen Diskussion. Erfolg basiert auf Entwicklung und Prüfung von Theorien mittlerer Reichweite (z.B. Agenda- oder Gatekeeper-Forschung). Wichtig für Theorien ist: Theorie soll verschiedene Variablen verknüpfen, die ausreichend definiert und mit Beobachtungen verbunden sind, Regeln der Beobachtung sind zu beschreiben. Wichtig: objektive Überprüfbarkeit, logische Arbeit. Das Problemfeld soll durch die Empirie beleuchtet werden. Gatekeeper-Modell von White auf Journalismus übertragen, Entscheidungsprozesse der Journalisten wurden beobachtet. Das ebnete den Weg für den Umbruch der Publizistikwissenschaft von einer Vermutungs- zur Erklärungswissenschaft. Weitere Vertreter: Schulz, Weaver, McCombs, Schönbach.
Legitimistischer Empirismus
Fokus auf Verhalten, Wirklichkeitsbezug und Akteuren. Komplexität mittel, Ertrag mittel. Wissenschaft hatte sich auf Rezipienten und Aussagen festgelegt. Donsbach meinte, dass der Einfluss der Massenmedien nur dann gut zu erklären ist, wenn die Wirkungsforschung sich auch den Kommunikatoren zuwendet. Die Hauptfrage ist, ob Journalisten mit ihrer Macht adäquat umgehen können (so betrachtet scheint Journalismusforschung als Teil der Medienwirkungsforschung). Kommunikationspolitische Normen werden mit empirisch-analytischen Ergebnissen konfrontiert. Frage nach Selbstverständnis, Motiven, außerdem sind Aussagen über Kollegen wichtig, weil sie Konsequenzen für Produkt und Publikum haben. Kritik: zu stark individuell orientiert, Strukturelles (Zeit, Quellen) wird vernachlässigt, Journalismus mit Medien gleichgesetzt, Unterstellung, dass Einstellungen der Journalisten handlungsrelevant sind, von Befragungen wird auf vermutete Inhalte und Einstellungen schlussgefolgert. Weitere Vertreter: Hans Mathias Kepplinger, Köcher.
(Kritische) Handlungstheorien (vgl. auch Handlungstheorie)
Fokus auf Journalismus als kommunikatives und soziales Handeln mit Handlungsregeln. Komplexität hoch, Ertrag gering. Kerngegenstand der an Max Weber orientierten Handlungstheorien sind Akteure, ihre Handlungen und deren Sinn. Soziales Handeln wird durch Regeln geformt. Ziel ist eine Typologisierung journalistischer Handlungsmuster, -formen und –regeln. Es gibt nur wenige theoretisch elaborierte Ansätze, Baum und Gottschlich orientierten sich an Jürgen Habermas' kritisch-theoretischem Ansatz. Baum will zeigen, dass Massenkommunikation über soziales Handeln in lebensweltliche Kontexte eingebettet ist - Journalisten handeln also verständigungsorientiert. Gottschlich beschäftigt sich mit Rolle/Legitimität des Journalisten für den gesellschaftlichen Diskurs. Er beschreibt den "Orientiertungsverlust", der durch die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Berufsbild und dem tatsächlichen entsteht. Bucher thematisiert Zusammenhänge journalistischer Handlungen (Handlungsnetze) als komplexe soziale Ereignisse. Buchers Ansatz orientiert sich an der Dynamik der Kommunikation, nicht an den Absichten der Handelnden und ist laut Bucher komplementär zur Systemtheorie zu sehen.
Funktionalistische Systemtheorien (vgl. auch Systemtheorie)
Fokus auf dem Journalismus als soziales System in der Weltgesellschaft. Komplexität sehr hoch, Ertrag mittel. Beginn 1969 mit Manfred Rühls Studie "Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System": Redaktionelles Handeln ist in eine rationalisierte und differenzierte Organisation eingebettet. Rühl befindet Person als Paradigma als zu unelastisch, Alternative: ordnendes Sozialsystem, hier kann zwischen Journalismus und seinen Umwelten unterschieden werden. Das bedeutet eine Trennung von Journalisten als Personen und Journalismus als Sozialsystem. Die Einbettung des Journalismus ist stets abhängig von Soziohistorischem. Der Systembegriff nicht einheitlich. Es stellt sich die Frage, wie offen (Siegfried Weischenberg) oder geschlossen (Manfred Rühl) so ein System ist (divergente Auffassungen). Kritik: Relevanz der Journalisten wird unterschätzt, Verschränkungen (z.B. zwischen ökonomischen und journalistischen Prozeduren) werden ausgeblendet, außerdem herrscht Kritik an der Dichotomie von System und Subjekt, da auf die mikrostrukturelle Akteursperspektive verkürzt wird. Autopoiesis ist der Prozess der Selbsterneuerung oder –schaffung eines Systems. Weitere Vertreter: Blöbaum, Görke, Kohring.
Integrative Sozialtheorien (vgl. auch Sozialtheorie)
Fokus auf journalistischen Kognitionen (Akteure) und Kommunikationen (System) im Systemzusammenhang. Komplexität hoch, Ertrag gering. Es existiert keine wirklich elaborierte Theorie. Neuberger überträgt Akteur-, Institutionen- und Systemtheorie auf die Journalismusforschung. Die Redaktion ist eine Institution mit handelnden Akteuren, beides kann analysiert werden. Kritik: theoretische Brüche, wenn ein Anschluss an die konstruktivistische Systemtheorie gesucht wird (einflusstheoretische Prämissen vs. operationale Geschlossenheit sozialer Systeme), keine Beziehung zwischen Journalismus und Umwelt. Eine integrative Journalismustheorie muss erst entstehen.
Fokus auf Journalismus als Teil der Populärkultur zur (Re-)Produktion von Bedeutungen. Komplexität: mittel, Ertrag: sehr gering. Cultural Studies sind keine eigene Disziplin. Wichtig ist die kontextuelle Erforschung und Veränderungen des Verhältnisses zwischen Kultur, Medien und Macht. Das Konzept ist offen mit vielen Wurzeln. Kultur wird nicht definiert. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Rezeption von (TV-)Unterhaltungsprogrammen. Es gibt Versuche, Kerngedanken auf den Journalismus zu übertragen (Hartley, Allan, Renger). Journalismus gilt in dieser Denkschule als kultureller Diskurs und Teil der Populärkultur. Stichworte: (Re-)Produktion von Bedeutungen, Journalismus als Alltagsressource, dient pleasures, Medien als Bedeutungsstrukturen, als literarische oder visuelle Konstrukte die von Regeln/Traditionen geformt werden. Der Kulturbegriff wird allmählich relevanter. In der globalisierten Welt verbindet das, was trennt: die kulturellen Unterschiede.
Quelle
Magisterarbeit des Verfassers
Literatur
Martin Löffelholz: Journalismuskonzepte. Eine synoptische Bestandsaufnahme, in: Neverla, Irene/Grittmann, Elke/Pater, Monika [Hrsg.]: Grundlagentexte zur Journalistik. Konstanz: UVK, 2002, S. 35-51.