Chorea minor
Die Chorea minor (Sydenham) ist eine mit Hyperkinesien (unkontrollierbaren blitzartig ausfahrenden Bewegungen) der Hände, des Schlundes und der Gesichtsmuskulatur und gleichzeitiger Muskelhypotonie (Muskelschwäche) und Hyporeflexie (Abschwächung der Reflexe) einhergehende neurologische Erkrankung.
Sie ist eine mögliche Manifestationsform des rheumatischen Fiebers (siehe Jones-Kriterien)!! → Daher auch die Synonyme Chorea rheumatica und Chorea infectiosa.
Sie tritt als Zweiterkrankung einige Wochen bis Monate nach einer abgelaufenen Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A, meistens nach einer durchgemachten Mandelentzündung (Angina tonsillaris) bzw. Rachenentzündung (Pharyngitis), eines Scharlachs oder einem Erysipel auf.
Es sind vor allem Mädchen im Alter von 6 bis 13 Jahren betroffen. In sehr seltenen Fällen können auch Erwachsene bis 40 Jahre betroffen sein.

Historisches
Der englische Arzt Thomas Sydenham (1624 - 1689) gilt als der Erstbeschreiber dieser Erkrankung. Ca. 200 Jahre später entdeckte der New Yorker Arzt George Huntington (1850-1916) eine nicht-infektiöse vererbbare und überwiegend bei älteren Menschen über 50 Jahre auftretende Variante der Chorea, und grenzte sie als Chorea major (Huntington) ab.
Ursache
Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper - die ursprünglich gegen die Streptokokken gebildet wurden - kreuzreagieren und plötzlich auch bestimmte körpereigene strukturähnliche Zellen derjenigen Basalganglien im Gehirn angreifen, die für die hemmende Dosierung und Feinabstimmung von Bewegungen verantwortlich sind. Im wesentlichen wird das Striatum geschädigt, wobei das Striatum jedoch nicht irreversibel zerstört wird, wie dies bei der Chorea Huntington der Fall ist.
- Derselbe Mechanismus liegt übrigens auch der rheumatischen Endokarditis (ebenfalls eine mögliche Manifestationsform des rheumatischen Fiebers) zugrunde, nur mit dem Unterschied dass sich in diesem Falle die Antikörper nicht gegen die Basalganglienzellen sondern gegen Troponin und Tropomyosin, also gegen Bestandteile der Herzmuskulatur richten.
In der Folge kommt es dann zu Entzündungsreaktionen mit Einschränkung der Funktionsfähigkeit dieser bewegungsinhibierenden Basalganglien. Die bewegungsfördernden Basalganglien (Substantia nigra und Pallidum) sind nun zum Teil enthemmt und es kommt zu den typischen überschiessenden Bewegungsmustern, die man unter dem Begriff der exptrapyramidalen Hyperkinesien subsummiert.
Das klinische Erscheiningsbild ist logischerweise umso ausgeprägter, je mehr Zellen geschädigt werden und je grösser die daraus resultierende Entzündung geworden ist.
- Bei der Parkinson-Krankheit gehen dagegen die Zellen eines bewegungsfördernden Basalganglions (Substrantia nigra) zugrunde, was zu der Trias aus Akinese (Bewegungsarmut), Rigor (Muskelsteifheit) und Ruhe-Tremor (Muskelzittern) gepaart mit einer Hypertonie und Hyperreflexie der Muskulatur führt; also zu Symptomen, die genau entgegengesetzt zu denen der Chorea sind.
- Chorea und Parkinson-Krankheit beruhen also beide auf einer Schädigung bzw. Zerstörung von jeweils einem der beiden Teile von sich antagonisierender Basalganglien. Deren komplex aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel aus gegenseitiger Hemmung und Verstärkung ist daraufhin gestört und es kommt dann entweder zu einem zu viel oder zu einem zu wenig an Bewegungen. Die beiden Erkrankungen sind sozusagen die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Symptome
Die neurologischen Symptome ähneln denen der Erbkrankheit Chorea major (Huntington).
- Hyperkinesien (= kurzdauernde unkontrollierbare + unkoordinierte blitzartige Muskelzuckungen):
- der »distalen (= körperfernen) Extremitäten« (v.a. der Hände → schnelle ausfahrenden Bewegungen)
- die Kinder werden zunehmend bei Bewegungen der Hände auffällig, bei der eine präzise Koordination von sich antagonisierender Muskelgruppen notwendig ist:
- in der Schule fallen sie durch ein sich verschlechtendes Schriftbild auf. Zu beginn kann dies durch Lehrer als eine Art kindliche Trotzreaktion oder Unlust missinterpretiert werden.
- zuhause fallen sie durch ungewöhnlich häufige "Ungeschicklichkeiten" auf, indem sie häufiger als früher Gegenstände fallen lassen, auf einmal nicht mehr mit dem Besteck umgehen können, etc.
- der »Gesichtsmuskulatur« (Grimassieren)
- der »Schlundmuskulatur« (Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken durch unkoordinierte Muskelzuckungen → Die Patienten haben dann eine gepresst klingende, abgehackte Sprechweise. Sie können sich öfter verschlucken mit der Gefahr einer Aspirationspneumonie).
- und der »Zungenmuskulatur« („Chamäleonzunge" oder „Fliegenfängerzunge" → unwillkürliches Ausstrecken und schnelles Zurückziehen der Zunge).
- der »distalen (= körperfernen) Extremitäten« (v.a. der Hände → schnelle ausfahrenden Bewegungen)
- Ähnliches geschieht bei einer anderen Erkrankung dem sog. Ballismus, allerdings sind hier grobe ausfahrende wurmförmige Bewegungen der proximalen (= körpernahen) Muskelgruppen, d.h. der Schulter- bzw. Oberarmmuskulatur typisch. Der Hauptunterschied besteht darin, dass nun nicht das Striatum, sondern das zweite wichtige bewegungshemmende Basalganglion (der Nucleus subthalamicus) ausfällt. Offenbar teilen sich das Striatum und der Ncl. subthalamicus die Muskeln im Sinne von körpernah und körperfern auf. Dies hat dann unterschiedliche Krankheitsbilder zur Folge, was bei der Diagnostik natürlich sehr hilfreich ist.
- Die Bewegungen nehmen bei emotionaler Belastung bzw. in Streßsituationen zu und lassen bei Entspannung wieder nach. Im Schlaf sind sie gar nicht vorhanden.
- Sie werden von den kleinen Patienten als sehr belastend und peinlich empfunden, weswegen sie versuchen diese so gut wie möglich zu kaschieren. Dies gelingt ihnen auch zum Teil, indem sie die Hyperkinesien in normal wirkende willkürliche Bewegungen mit einbauen (z.B. indem sie sich durch das Haar streichen, sich mit der Zunge die Lippen befeuchten, oder auch durch tänzelnde Bewegungen der Hände und durch ein Lächeln).
- Muskelhypotonie (= Schwäche der Muskulatur) und Hyporeflexie (abgeschwächte Muskelreflexe):
- Gleichzeitig besteht auch eine Muskelschwäche mit Hyporeflexie die man durch bestimmte klinische Untersuchungsmethoden (Kraft- und Reflexprüfungen) diagnostizieren kann. In schweren Verläufen führt dies dazu, dass ein Stehen oder Gehen unmöglich wird.
- Psychische Störungen :
- wie Aufmerksamkeitsstörungen, Müdigkeit bis hin zu Apathie in der Schule,
- aber auch Unruhe und Reizbarkeit.
- Auch Psychosen werden beschrieben, diese sind aber sehr selten.
»Veitstanz« (Chorea Sancti Viti)
Im Mittelalter hielt man Patienten mit Chorea (griechisch für Tanz) aufgrund der Symptomatik vermutlich für „von der Tanzwut besessen“. Da man zur damaligen Zeit keine medizinische Erklärung für dieses „seltsame Verhalten“ der Erkrankten hatte, glaubten man wohl an eine Besessenheit mit einem bösen Geist.
- In der Tat hätte man den Eindruck gewinnen können, jemand würde für wenige Sekunden (bis Minuten) die Gewalt über die Muskeln des Betroffenen übernehmen und mit Ihnen „nach belieben Schabernack“ treiben. Die Patienten könnten sich sozusagen „ferngesteuert“ gefühlt haben.
Der heilige Veit (St. Vitus) heilte im 4.Jahrhundert den Sohn des römischen Kaisers Diokletian von solch einer Besessenheit. Da ihn Diokletian danach trotzdem hinrichten ließ (weil er nicht dem christlichem Glauben abschwören wollte) und er vorher auch noch viele andere Wunder wirkte, wurde er später heilig gesprochen. Seitdem gilt er als ein Schutzheiliger der Katholiken - genauer gesagt ist er einer der 14 sogenannten Nothelfer - der auch heute noch v.a. bei neurologische Erkrankungen wie Epilepsie Krämpfen oder eben auch Veitstanz angerufen wird. Vor allem im Mittelalter haben die Betroffen zu ihm gebetet und sind zur Aufbewahrungsstätte seiner Gebeine gepilgert, um Erlösung zu finden.
Aus diesem Grunde warer für die Chorea auch noch die Namen »Veitstanz« und »chorea sancti viti« (= Tanz des heiligen Vitus) gebräuchlich.
Diagnostik
die Diagnose lässt sich anhand des folgender Merkmale stellen:
- das klinische Bild (o.g. chorea-typischen Bewegungsstörungen mit Dysdiadochokinese)
- die typische Anamnese (Kinder im schulpflichtigem Alter, zumeist jungen Mädchen mit zuvor durchgemachter Angina oder Endokarditis bzw. rheumatischem Fieber)
- erhöhte Entzündungsparameter im Blut: Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) ↑, CRP ↑, Leukozyten ↑
- ASL-Titer (Anti-Streptolysin-Antikörper) ↑ (Dies ist ein Antikörper gegen ein Streptokokken - Bestandteil, welches man bei den Patienten findet. Es gibt aber noch einige andere!)
- das PET (Positronen-Emissions-Tomogramm) zeigt im Striatum einen erhöhten Zuckerstoffwechsel.
- andere Symptome eines rheumatischen Fiebers (Jones-Kriterien):
- Da die Chorea minor ja lediglich eine Ausprägungsform des rheumatischen Fiebes ist, muss man auch nach den eventuell vorhandenen weiteren Zeichen des rheumatischen Geschehens suchen. Prinzipiell können alle anderen der Jones-Kriterien auch vorhanden sein!
Therapie
Die Therapie ist die gleiche wie beim rheumatischen Fieber:
- Akuttherapie:
- Bettruhe
- hochdosierte Penicillin - Gabe über 10 Tage um die Streptokokken zu beseitigen.
- Entzündunfshemmung:
- Cortison über einige Wochen zur Bekämpfung der bedingt durch die Antikörperreaktion ablaufenden Entzündungsreaktionen im Hirngewebe. (antirheumatische Therapie)
- Salicylate wir z.B. Aspirin über einige Wochen
- Therapie der psychischen Symptome soweit notwendig
- durch Schaffung einer ruhigen Umgebung,
- mit Beruhigungsmitteln (= Tranquilizern), wie z.B. Diazepam (→ Da die Syptome unter Erregung zunehmen, ist eine beruhigende Medikation manchmal sehr hilfreich!),
- oder im sehr seltenen Falle einer Psychose mit Neuroleptika, wie z.B. Haloperidol.
Prophylaxe
- Rezidivprophylaxe:
- Benzathin-Penicillin G (intramuskulär injiziertes Depotpenicillin mit einer Halbwertszeit von 30 Tagen)
- Dieses niedriger dosierte Monats - Penicillin wird in der Regel über einen Zeitraum von 5 Jahren gegeben, um einen Rückfall möglichst zu vermeiden. Bei Beteiligung der Herzklappen (rheumatische Endokarditis) auch länger, zumeist bis zum Erwachsenenalter.
- Die Dauer der Behandlung ist jedoch nicht ganz unumstritten. Die Ansichten reichen dabei von der Gabe nur in besonderen Gefährdungssituationen, über die Gabe in einem Zeitraum von 5 Jahren bis hin zu einer lebenslangen Penicillin-Prophylaxe.
- Beseitigung/Sanierung des Ursprungs der Streptokokkeninfektion:
- Ganz entscheidend ist, dass man eine eventuell vorhandenen chronischen Streptokokkeninfektionsquelle (z.B. kariöse Zähne, vergrösserte Mandeln) findet und diese auch beseitigt (Zahnversorgung, Tonsillektomie), da es sonst zu einem erneuten Rezidiv kommen kann. Sie muss sich dann aber nicht erneut als Chorea manifestieren, sondern sie könnte sich z.B. auch als eine sehr gefährliche rheumatische Endokarditis (Herzklappenentzündung) oder rheumatische Polyarthritis zeigen. (siehe Jones-Kriterien)
Prognose
Die Therapie und v.a. die Prognose von Chorea minor bzw. major unterscheiden sich ganz erheblich voneinander!
- Die Chorea Huntington ist derzeit unheilbar. Die Symptome nehmen fortwährend zu, die Patienten verlieren immer mehr die Kontrolle über ihre Muskulatur und sie werden bettlägerig. Die Krankheit endet nach Jahren immer mit dem Tod der Patienten - oft bedingt durch eine Ateminsuffizienz (Atemlähmung) oder eine schwere Aspirationspneumonie.
- Im Gegensatz dazu heilt die Chorea minor bei entsprechender Therapie (s.o.) nach ca. acht bis zwölf Wochen in 90 % der Fälle völlig aus; spätere Rückfälle sind aber trotz Prophylaxe möglich.