Mischwesen
Schon bei den ältesten Zeichnungen und Gemälden der Menschheit in steinzeitlichen Höhlen kamen nicht nur Darstellungen von Tieren und Menschen, sondern auch von Mischwesen aus Mensch und Tier vor.
Im archäologischen Sprachgebrauch werden abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch als "Monster" Mischwesen bezeichnet mit Tierkörpern und Tierköpfen (z.B. Löwengreif oder Drachen), meist aber Tierkörper mit menschlichem Köpfen wie die Sphinx (Frauenkopf und Löwinnenkörper) oder Zentauren (Menschenöberkörper und Pferdeleib) oder Meerjungfrauen (Frauenoberkörper und Fischunterleib). Den Gegensatz bildet der Begriff "Dämon" der ein theriokephales, also tierköpfiges Mischwesen mit mindestens menschengestaltigen Beinen bezeichnet, so z.B. den Ziegendämon.
Die ältesten steinzeitlichen Zeichnungen stellen Dämonen, also tierköpfige Mischwesen dar. Es wird vermutet, dass sie die Verwandlung des Schamanen in ein Tier, die schamanistische Reise, darstellen. Möglich ist aber auch, dass Tierschädel oder Tierköpfe bei Tanz, Jagd oder Krieg als Schmuck oder schützende Kopfbedeckung getragen wurden. Möglich ist auch, dass die Zugehörigkeit der mit Tierkopf gezeichneten Menschen zu einem nach einem Tier bezeichneten Clan oder mit diesen Tier als Totem verbundenen Stamm oder einer Jagd- oder Kriegergemeinschaft gekennzeichnet werden soll. Schließlich ist möglich, dass hier ein Geistwesen oder Gott bzw. eine Göttin dargestellt wird. Vermutlich wurden im Lauf der Zeit Mischwesen aus allen hier genannten Gründen gezeichnet.
In der eiszeitlichen Kunst sind Darstellungen von Tieren häufig, von Menschen selten und von Mischwesen noch seltener. Als älteste Darstellung eines Mischwesens gilt ein Mensch mit Löwenkopf auf einem Mammutstoßzahn aus dem Hohlenstein-Stadel im süddeutschen Lonetal, der zur Kulturstufe des Aurignacien (ca. 35.000 bis 22.000 v. Chr.) gehört.
Ein Steinbockkopf der zweifelsfrei Schamdreieck und Vulva erkennen läßt, also mit einem Frauenkörper darstellt ist, fand sich auf einem Hirschgeweihstab aus Las Caldas im spanischen Asturien. Das Stück stammt aus der Zeit ca. 14.000 v. Chr. der Kulturstufe des Magdalénien.
Auf einem Lochstab ebenfalls aus dem Magdalénien aus dem Abri Mège in der französischen Dordogne finden sich zwischen Pferden, Vögeln und Schlangen auch drei Wesen mit menschlichen Beinen und ziegenartigen Köpfen, die als "Teufelchen" benannt wurden.
Tierköpfige Mischwesen fanden sich unter den Höhlenmalereien in den Höhlen von Gabillou, Trois Frères, Fontanet, Altamira, Chauvet, Candamo, Peche-Merle, Los Casares, Les Combaralles und Hornos de la Pena.
In der erstgenanten Höhle von Gabillou fand sich die bekannte Gestalt eines Menschen mit Bisonkopf, die der "Zauberer", "Le Sorcier", genannt wurde.
Stark vertreten in der nacheisenzeitlichen Kunst der Felsbilder in der Sahara waren hundeköpfige Menschen (z.B. im Messak-Gebirge in Libyen). Die Kynokephalen attackieren in den Bildern starke Tiere wie Nashörner, Büffel, Elefanten und Flußpferde.
Im nordwestlichen Saudi-Arabien, der sogenannten Jubba-Felskunst finden sich wieder ziegenköpfige Gestalten mit Menschenkörpern.
Menschengestalten stark stilisiert mit T-förmigen Köpfen und M-förmigen Köpfen, die stark an den Ziegendämon erinnern, wurden im westtürkischen Latmos-Gebrige im Umfeld der antiken Stadt Herakleia gefunden.
In der Kunst der Eiszeit und der Nacheiszeit finden sich in Europa, Afrika und Vorderasien ausschließlich Dämonen, also Mischwesen mit Menschenkörper, wenigstens aber, wenn sie einen Tieröberkörper haben mit Menschenbeinen. Es wurde noch kein Wesen mit Tierkörper und Menschenkopf aufgefunden. Viele der tierköpfigen Menschen, darunter der älteste der Löwenköpfige vom Hohlenstein-Stadel bei Ulm und der bisonköpfige "Zauberer" von Trois-Frere, scheinen zu tanzen. Bei einigen glaubt man den Gebrauch von Flöten zu erkennen. Dies ist der Hauptgrund, dass die meisten Steinzeitforscher weniger anehmen, dass es sich um mit Tierschädeln geschmückte Menschen handelt, sondern dass sie annehmen, das hier Schamanen sich mittels Tanz in Trance versetzen, um sich in Tiere zu verwandeln, die so mit der jenseitigen Welt Kontakt aufnehmen können. Aus diesem Grund würden auch manchmal die Füße nach der Art des jeweiligen tieres dargestellt.
Der Ziegendämon findet sich auf Siegeln des keramischen Neolithikums von Sabi Ayad bis zum 5. und 4. Jahrtausend v. Chr. in Mesepotamien.
Literatur
Klaus Schmidt: Sie bauten die ersten Tempel, Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger, C.H. Beck 2006, S. 210 ff.
Siehe auch Liste von Fabelwesen, Chimären, Schamanismus, Polytheismus