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Wigners Freund

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Wigners Freund ist eine Erweiterung des Gedankenexperimentes „Schrödingers Katze“, mit der Eugene Paul Wigner das Messproblem umging. Diese Erweiterung treibt darin die idealistische oder subjektivistische Interpretation der Quantenmechanik auf die Spitze.

Die Darstellung von Wigners Freund im naturwissenschaftlichen Verständnis des Realismus.

Dieses unter der Bezeichnung "Wigners Freund" diskutierte Paradoxon besagt folgendes. Angenommen der Physiker Wigner nimmt nicht für sich, sondern für einen anderweitig beschäftigten Freund eine Messung an einem Quantensystem vor. Wie wir von Heisenberg wissen, besteht der Messvorgang aus zwei Schritten: der Zustandsreduktion und der Auswahl eines Messwertes.

Nimmt Wigner die Messung nun nicht für sich, sondern für einen Freund vor, drängt sich die Frage auf, ob die Reduktion nicht erst dann eintritt, wenn er das Ergebnis dem Freund mitteilt. Wenn wir an den Zustand der Schrödinger'schen Katze denken, müsste sich für Wigners Freund das untersuchte System bis zur Mitteilung des Messergebnisses in einer Zustandsüberlagerung befinden, während für Wigner selbst die Zustandsreduktion schon vorher stattgefunden hat.

Das Gedankenexperiment Wigners Freund im philosophischen Verständnis des Idealismus.

In der Deutung der Quantenmechanik vom Standpunkt des Realismus her ist und bleibt es rätselhaft, wie im Vorgang des Kollapses der Wellenfunktion aus einer ideellen bloßen Wahrscheinlichkeit dieser mathematischen Formel ein bestimmtes materielles Sein als Teil unserer realen Welt wird. Die Welt wird in dieser Deutung als ein unabhängig von Bewusstsein und Erkennen existierendes Sein angesehen. Auch in der Deutung in dem obigen ersten Abschnitt ist es rätselhaft, wie für Wigner der Kollaps der Wellenfunktion schon stattgefunden hat, für den Freund das aber erst im Augenblick der Mitteilung geschieht. In dieser Darstellung wird ebenfalls noch vorausgesetzt, dass eine vom Bewusstsein und Beobachten unabhängige Welt existiert.

Der Systemtheoretiker John L. Casti gibt dieses Gedankenexperiment in seinem Buch über Streitfragen der Naturwissenschaften etwas anders wieder, als im ersten Abschnitt geschildert. Casti schreibt, dass für den zweiten Beobachter, also Wigners Freund, der erste Beobachter genau wie die Katze mit zum System der Wellenfunktion gehört (Casti, S. 549). In der Konsequenz dieses Gedankens von Wigner gehört die gesamte Welt dazu, so dass hier dem Bewusstsein in einer umfassenden Weise die entscheidende Rolle bei der Reduktion der Wellenfunktion zugewiesen wird. Wie Casti an dieser Stelle weiter schreibt, sind dadurch für Wigner „die Dinge der Welt »dort draußen« nicht viel mehr als nützliche Konstruktionen“, mit anderen Worten, eine reale Welt unabhängig vom Bewusstsein existiert hierbei überhaupt nicht.

Das Problem des Kollapses, also wie in der Welt aus etwas Ideellem etwas Materielles wird, wird hier dadurch umgangen, indem der Kollaps stets und umfassend auf die ganze Welt angewendet wird, d.h. in jedem Bewusstsein wird fortlaufend aus vielem Möglichen etwas Bestimmtes zu Welt reduziert, was dem Bewusstsein in dieser Reduktion als real und materiell erscheint. Es lässt sich mit der Farbwahrnehmung vergleichen. Die Farbwahrnehmung ist ebenfalls eine Konstruktionsleistung, die aus dem großen elektromagnetischem Spektrum nur auf einen bestimmten Bereich anspricht, wobei wir diese Festlegung und das damit verbundene Empfinden ebenfalls fälschlicherweise für real halten. So glauben wir etwa, dass unser Planet auch ohne uns oder schon vor der Entstehung von Lebewesen so blau und farbig gewesen sein muss, wie wir ihn wahrnehmen.

Kann diese Konstruktionsleistung des Bewusstseins auch schon für die Grundstruktur der Welt gelten, das in Raum und Zeit getrennte Sein? Dann hätte es vor der Entstehung von Lebewesen und Bewusstsein die Welt auch ontologisch nicht in der Form gegeben, in der wir sie heute erkennen. Es hätte so keinen Mond als dieses in Raum und Zeit getrennte Sein gegeben, ja, den Mond gibt es als solchen in dieser Weise nicht einmal dann, wenn wir heute hinschauen und ihn erkennen, genauso wenig wie es eine Farbe als solche real und unabhängig vom Bewusstsein gibt, wenn wir sie erkennen.

Das Gedankenexperiment und die Interpretation von Wigner ist in dieser Weise das exakte Gegenteil von Everetts Viele-Welten-Interpretation. Es existieren also nicht nur nicht die vielen Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten der Wellenfunktion als reale (Parallel)Welten, sondern es existiert nicht einmal diese von uns erkannte Welt in dieser Form als reale und vom Bewusstsein unabhängige Welt. Diese Interpretation entspricht dabei alten philosophischen Traditionen, besonders der des Neuplatonismus. Plotin sagt in seiner Abhandlung über Ewigkeit und Zeit, dass es außer der Seele keinen anderen Ort für dieses All gibt, und er deutet die Weltschöpfung als die zeitlose Hervorbringung der gesamten erscheinenden Welt und der ihr zugrunde liegenden Materie durch die Seele (Halfwassen, S. 112). Dabei schreibt Plotin ausdrücklich jeder Seele diese weltsetzende Kreativität zu (Halfwassen, S. 110), was darin ganz der Aussage des Gedankenexperimentes „Schrödingers Katze“ durch die Erweiterung von „Wigners Freund“ entspricht.

Allgemein werden in der Grundaussage von Neuplatonismus bzw. Idealismus die von uns erkannten Phänomene der Welt nur als im Bewusstsein geschaffene Erscheinungen gesehen. Das heißt nicht, dass es überhaupt keine Substanz gibt, aber diese liegt jenseits der weltlichen Strukturen und kann nicht erkannt werden, weil nach Plotin dazu das Denken sich selbst übersteigen muss. In gewisser Weise hat Kant dabei die Problematik der Quantenphysik vorweggenommen, wenn er sagt, dass Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen ins Innere der Natur dringt „und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde“ (Kant, B 334). Doch selbst wenn uns in dieser Beobachtung und Zergliederung die ganze Natur aufgedeckt wäre, so ist und bleibt gemäß Kant das transzendentale Objekt (als „Ding an sich“), „welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte“ (Kant, B 333).

Der Idealismus bzw. nun die idealistische Interpretation in der Quantenphysik kann also nicht eine endgültige Erkenntnis, Erklärung und Vorstellung hinsichtlich der eigentlichen substantiellen Grundlage der Welt liefern. Wenn das möglich wäre, wäre es darin wieder ein Realismus. Der Idealismus sagt vielmehr, dass die eigentliche Substanz grundsätzlich nicht erkennbar ist und dass damit auch das von uns erkannte materielle Sein wie das der gesamten von uns erkannten Welt nicht als substantiell, sondern nur als Erscheinung oder Konstrukt anzusehen ist, wobei wir ebenfalls niemals erkennen werden, warum das so ist. Die Strukturen von Welt und Substanz werden hier strikt getrennt. In diesem Verständnis ist die scheinbare Mangelhaftigkeit und Unvollständigkeit der Wellenfunktion kein Mangel, wie es sich im Realismus darstellt, sondern darin liegt vielmehr die wahre Beschreibung des letztendlichen Wesens der Natur.

Die Leistung, die der idealistische Ansatz oder die idealistische Interpretation in der Quantenphysik vollbringen kann, ergibt sich so vor allem schon aus dem Umstand, dass eine idealistische Interpretation hier überhaupt aufgetaucht ist und eine ernsthafte Rolle spielt, ja in Form der Kopenhagener Deutung bis heute noch als Lehrbuchmeinung gilt. Mit anderen Worten, die Leistung der idealistischen Interpretation in der Quantenphysik liegt in der Interdisziplinarität (auch etwa zur Neurowissenschaft und Hirnforschung hin, bei der sich durch die Erste-Person-Perspektive im Grunde dieselbe Problematik des Realismus und Lösung durch den Idealismus ergibt). In diesem Sinne ist es im wahrsten Sinne des Wortes konstruktiv, die interdisziplinären Möglichkeiten, die sich in der Quantenphysik geradezu aufdrängen, nicht zu ignorieren und eliminieren zu wollen, sondern zu nutzen, um darüber auf indirekte Weise der Frage nachzugehen, ob die Welt, die wir erkennen, letztlich tatsächlich so beschaffen ist, wie wir es wie selbstverständlich im Realismus voraussetzen. (Siehe zu der Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Realismus hinsichtlich der Erkenntnis auch den Artikel Evolutionäre Erkenntnistheorie.) Das Gedankenexperiment „Schrödingers Katze und Wigners Freund“ gibt in der Quantenphysik eine klare idealistische Antwort und Bestätigung. Der Umstand, dass wir das letztendliche Wesen der Natur dabei grundsätzlich nicht erkennen und uns nicht vorstellen können, darf in einem objektiven wissenschaftlichen Ansatz kein Ausschlusskriterium sein.

Siehe auch

Literatur

  • John L. Casti: Verlust der Wahrheit, München 1990
  • I. Kant: Kritik der Reinen Vernunft, Ausgabe Meiner, Hamburg 1998
  • J. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004

Zitat

"Shakespeare, Newton und mein Friseur sagen: Jawohl, die Welt ist wirklich »da«. Der moderne Quantenphysiker erklärt uns: Vielleicht auch nicht." John L. Casti