Der arme Heinrich
Der arme Heinrich ist eine wohl in den 1190er Jahren von dem Dichter Hartmann von Aue verfasste legendenhafte mittelhochdeutsche Verserzählung.
Inhalt

Nach einem kurzen Prolog, in dem der Erzähler sich selbstbewußt nennt und aus dem wir die meisten Informationen über Hartmann haben, beginnt die Geschichte. Heinrich, ein junger, fürstengleicher Freiherr von Ouwe im Schwabenland, verfügt über materiellen Reichtum und höchstes gesellschaftliches Ansehen. Er verkörpert alle ritterlichen Tugenden (êre, stæte, triuwe) und höfisches Benehmen (zuht), wozu auch Fertigkeiten im Minnesang gehörten (und sanc vil wol von minnen, v. 71).
Aus diesem idealen Leben stürzt er, als Gott ihn mit Aussatz zeichnet. Im Gegensatz zum biblischen Hiob will Heinrich sich damit nicht abfinden und sucht Ärzte in Montpellier auf, von denen ihm aber keiner helfen kann. An der berühmten Schule von Salerno erfährt er von einem Arzt, dass ihn nur das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter heilen könne, die sich freiwillig für ihn opfere. Verzweifelt und ohne Hoffnung auf Genesung kehrt Heinrich zurück, verschenkt den Großteil seines Gutes und zieht sich auf einen Meierhof zurück, der zu seinem Besitz gehört.
Die Tochter der Bauernfamilie hat keine Scheu vor Heinrich und seiner Krankheit. Sie versteht sich sehr gut mit ihm und bald nennt Heinrich sie spielerisch seine Braut (gemahel, v. 341). Als Heinrich nach drei Jahren erzählt, was für ihn das einzige Heilmittel sei, ist sie fest entschlossen, für ihn ihr Leben zu lassen. Sie will sich für Heinrich opfern, da sie glaubt, nur auf diesem Wege dem sündhaften Leben zu entkommen und möglichst bald im Jenseits das ewige Leben bei Gott führen zu können.
Nachdem sie ihre Eltern und Heinrich durch eine Rede überzeugt hat, deren rhetorischer Schliff dem Heiligen Geist zugeschrieben wird, fährt Heinrich mit ihr nach Salerno zu dem Arzt, der die Operation vollziehen soll. Als ihr der Arzt das Herz herausschneiden will und Heinrich das nackt und festgebunden auf dem Operationstisch liegende Mädchen durch einen Spalt in der Tür sieht, kommt er zur Besinnung und schreitet in letzter Sekunde ein. Ihm wird klar, dass eine so schöne Schöpfung Gottes nicht für ihn das Leben lassen dürfe. Daraufhin wird das Mädchen wütend; sie macht Heinrich schwere Vorwürfe, dass er sie nicht sterben lassen wolle, und schmäht ihn als Angsthasen.
Auf dem Rückweg gesundet Heinrich durch Gottes Fügung und kehrt gemeinsam mit dem Mädchen nach Hause zurück, wo beide trotz des Standesunterschieds heiraten.
Literaturgeschichtliche Einordnung
Der Arme Heinrich im Werk Hartmanns

Innerhalb der Werkchronologie Hartmanns gilt der Arme Heinrich aus stilistischen Gründen als drittes seiner vier großen erzählerischen Werke. Am Beginn seines Schaffens steht nach der kurzen Verserzählung Das Büchlein der Artusroman Erec, gefolgt von der legendenhaften Erzählung Gregorius. Als letztes Werk gilt Hartmanns zweiter Artusroman Iwein, der möglicherweise aber schon kurz nach dem Erec begonnen und erst später vollendet wurde. Nicht einzuordnen sind Hartmanns Minne- und Kreuzlieder.
Die Entstehungszeit lässt sich nur grob eingrenzen: Chrétiens de Troyes Érec et Énide, die französische Vorlage von Hartmanns erstem Roman Erec, war wahrscheinlich um 1165 bekannt. Man geht davon aus, dass Hartmann um 1180 als Autor in Erscheinung tritt. Spätestens 1205/10 waren alle Versromane Hartmanns bekannt, denn Wolfram von Eschenbach nimmt im Parzival auf den Iwein Bezug. In diesem zeitlichen Rahmen ist der Arme Heinrich als (vermutlich) vorletztes Werk einzuordnen.
Stoff und Quelle
Hartmann spricht von Erzählungen, die er in Büchern gefunden habe und nun neu erzählen wolle (v. 17). Solche Quellen haben sich indes weder in der deutschen, noch der französischen oder lateinischen Literatur des Mittelalters gefunden, so dass man davon ausgehen muss, dass diese Quellenberufung fiktiv ist und die Dignität der Erzählung unterstreichen soll. Die im 14. und 15. Jahrhundert überlieferten lateinischen Erzählungen Henricus pauper und Albertus pauper sind wahrscheinlich keine Quellen Hartmanns, sondern gehen auf dessen Erzählung zurück.
Eine Motivtradition wird im Text direkt angesprochen: In der Bibel ist es Hiob, der von Gott mit Aussatz geprüft wird. Zu den Erzählungen von der übernatürlichen Heilung eines am Aussatz Erkrankten zählen auch die Silvesterlegende, in der Konstantin der Große geheilt wird, und die Erzählungen von Amicus und Amelius oder Konrads von Würzburg Engelhard.
Forschungsprobleme
Die schlechte Überlieferungslage hat zu manchen Unklarheiten geführt, die vor allem das namenlose Bauernmädchen betreffen. Handschrift A gibt ihr Alter mit acht Jahren an, als Heinrich an den Meierhof kommt, in Handschrift B sind es dagegen zwölf Jahre (v. 303). Unklar ist auch, ob das Mädchen, das sich opfern muss, erbære und manbære (Handschrift A, v. 225 und 447) oder vrîebære und verbære (Handschrift B) sein muss. Das 1964/65 gefundene und 1970 veröffentlichte Fragment E fordert eine maget, die volle manbere sei (v. 225), so dass dieser philologische Streit heute entschieden zu sein scheint.
Auf zentrale Fragen, die die Erzählung offenlässt, hat die Forschung keine eindeutigen Antworten gefunden. Dies betrifft insbesondere den Grund, warum Gott Heinrich mit dem Aussatz zeichnet. Einerseits kann hierin eine Strafe für Heinrichs weltbezogenes Leben gesehen werden. So versteht Heinrich die Krankheit selber. Dem steht jedoch gegenüber, dass Heinrichs Leben als vollkommen tugendhaft dargestellt wird. Andererseits kann der Aussatz als Prüfung Gottes interpretiert werden. Dafür spricht der Vergleich mit Hiob, der vom Erzähler gezogen wird. Anders als dieser nimmt Heinrich die Prüfung jedoch zunächst nicht an, sondern sucht Heilung und verzweifelt anschließend.
Ein anderes Problem stellt die Rolle des Mädchens dar. Dass sie namenlos bleibt, rückt sie in eine untergeordnete Position, die dem Handlungsverlauf nicht entspricht. Die rhetorisch und theologisch geschulte Rede, mit der sie Heinrich und die Eltern überredet, ihr Opfer anzunehmen, wird der Eingebung des Heiligen Geistes zugeschrieben. Unklar bleibt ihre Motivation, ob sie aus reiner Nächstenliebe handelt oder aus einem "Heilsegoismus", durch den sie ihr eigenes Seelenheil erkaufen möchte, wie es mehrfach anklingt.
Das Gattungsproblem
Ein großes Problem der Forschung ist die Gattungszugehörigkeit des Armen Heinrich. Die Erzählung steht einerseits der geistlichen Literatur nahe, der Legende, dem Exempel oder dem Mirakel, andererseits hat sie unverkennbar höfische Elemente. Die religiösen Dimensionen dominieren die Erzählung deutlich, doch auch wenn Heinrich bekehrt und wunderbar geheilt wird, so wird er doch nicht zum Heiligen. Auffällig sind die Analogien zur Form des Erlösungsmärchens, dem allerdings sonst die hier dominierende religiöse Thematik fehlt.
Um das Problem der Gattungszuweisung zu umgehen, behilft man sich mit wertfreien Benennungen, wie Kleinepik oder kurze Reimpaardichtung. Häufig wird dem Armen Heinrich ein novellistischer Charakter zugesprochen, doch wird der Begriff der Novelle üblicherweise erst für kürzere Erzählungen ab dem Spätmittelalter oder der Renaissance verwendet.
Rezeptionsgeschichte
Überlieferung
Der Arme Heinrich ist lediglich in drei vollständigen Handschriften und drei Fragmenten überliefert, die aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen und im oberdeutschen Sprachraum anzusiedeln sind.
Fünf Verse wurden als Federprobe in eine Handschrift des 13. Jahrhunderts mit Kommentaren zu Ovid und Cicero eingetragen. Außerdem wurde der Arme Heinrich ins Lateinische übersetzt und in zwei lateinische Exempelsammlungen des 14. Jahrhunderts aufgenommen.
Die vollständigen Texte finden sich in Sammelhandschriften mit Mären, Bîspeln, Minnereden und anderen kleineren Reimpaardichtungen. Diese Textsorten waren Bearbeitungen gegenüber relativ offen, so dass auch der Arme Heinrich von Handschriften-Kompilatoren deutlich gekürzt und bearbeitet worden ist. Daraus erklären sich die konkurrierenden Versionen, auf die einige Schwierigkeiten der Interpretation zurückgehen und die es schwierig machen, einen Autornahen Text zu erstellen.
Editionsgeschichte
1784 veröffentlichte Christoph Heinrich Myller den Abdruck der Handschrift A aus dem Straßburger Johanniterkloster. Wie die Fragmente beweisen, kürzte diese Handschrift den ursprünglichen Text Hartmanns, bot aber dennoch den besten Überlieferungsträger. 1870 verbrannte die Handschrift beim Beschuss Straßburgs durch deutsche Truppen im Deutsch-Französischen Krieg, so dass man heute auf die Abdrucke von Myller und der Brüder Grimm zurückgreifen muss.
Goethe las eine Übersetzung Johann Gustav Büschings (Zürich 1810) mit "physisch-ästhetischem Schmerz", da er das Thema des Aussatzes persönlich abstoßend fand, erkannte aber dennoch den Wert der Erzählung an.
1815 brachten die Brüder Grimm eine kommentierte Ausgabe des Armen Heinrich mit einer Nacherzählung heraus, mit der der Text erstmals eine größere Verbreitung fand. Der Stoff wurde von ihnen als alte deutsche "Volkssage" angesehen. In der Folge entstanden zahlreiche Nachdichtungen und Neuausgaben in Stil der Volksbücher.
Die lange Zeit maßgebliche kritische Edition stammt von Moriz Haupt aus dem Jahr 1842, der als erster alle Lesarten in einem Apparat verzeichnete. Auf diese Edition stützte sich 1882 auch Hermann Pauls Ausgabe in der Altdeutschen Textbibliothek, die später von Albert Leitzmann, Ludwig Wolff, Gesa Bonath und zuletzt von Kurt Gärtner bearbeitet worden ist.
Einen Abdruck der beiden wichtigsten Handschriften mit einem kritischen Text im Parallelabdruck bot 1913 Erich Gierach. Eine weitere synoptische Edition der Handschriften A und B, mit den Fragmenten und einem daraus rekonstruierten Text legte 1974 Heinz Mettke vor.
Weitere Ausgaben legten Wilhelm Wackernagel (1911), Friedrich Maurer (1958), Friedrich Neumann (1961 mit der Nacherzählung der Brüder Grimm) und Helmut de Boor (1963) vor. Die letzte Edition brachte Volker Mertens 2004 in der Bibliothek deutscher Klassiker heraus. Faksimiles der gesamten Überlieferung erschienen 1971 und 1973 in der Reihe Litterae.
Moderne Rezeption

Während der Arme Heinrich nur in wenigen mittelalterlichen Handschriften überliefert ist, so wurde er in moderner Zeit häufiger rezipiert, als irgendein anderes Werk Hartmanns. Besonders Künstler der Romantik und des Fin de siècle waren von der Kombination der Motive Heiligkeit, Aussatz und Erotik fasziniert.
Bekannt wurde der Arme Heinrich vor allem durch die Nachdichtung der Brüder Grimm, die unter anderem eine lange Ballade von Adalbert von Chamisso (1839) oder ein episches Drama des Amerikaners Henry Wadsworth Longfellow (The Golden Legend, 1851) anregte. Ins Englische übertragen wurde der Arme Heinrich von dem Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti.
Bedeutende Bearbeitungen entstanden später durch Ricarda Huch (1899) und Gerhart Hauptmann, dessen Drama 1902 uraufgeführt wurde. Auch die erste Oper Hans Pfitzners ist eine Vertonung des Armen Heinrich nach einem Libretto von James Grun (1895).
Seit den 1920er Jahren verlor sich das Interesse an dem Stoff, der nun weit weniger rezipiert wurde, als germanische Heldensagen. Dies änderte sich auch nicht in der Nachkriegszeit oder durch die Achtundsechziger, für die die gesellschaftliche Relevanz des Armen Heinrichs zu gering war. Erst seit den 1990er Jahren rückte die Erzählung wieder stärker in den Blickpunkt. Zuletzt griffen Markus Werner (Bis bald, 1995), der Dramatiker Tankred Dorst (1997), der Lyriker Rainer Malkowski (1997) und August Kötzke mit einer "Kammeroper" den Armen Heinrich auf.
Literatur
Eine umfassende Aufstellung von 1927-1997 bieten zu dessen Werk die bei Hartmann von Aue aufgeführten Bibliographien
Textausgaben
- Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17., durchgesehene Auflage Tübingen 2001 (=Altdeutsche Textbibliothek 3) ISBN 3-484-20061-8, ISBN 3-484-21103-2
- Der arme Heinrich, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch; hg. von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse. Stuttgart 2003 (=Reclam 456) ISBN 3-15-000456-X
- Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6; Bibliothek deutscher Klassiker 189). ISBN 3-618-66065-0
Weblinks
- Handschriftencensus im Marburger Repertorium (Verzeichnis der Handschriften)
- E-Texte und Abbildungen der Handschriften