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Thomas Glavinic

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Datei:Thomas Glavinic, writer.jpeg
Thomas Glavinic, März 2013

Thomas Glavinic [ˈglavinitʃ] (* 2. April 1972 in Graz) ist ein österreichischer Schriftsteller und Essayist.

Im Zentrum von Glavinics stilistisch variierenden Texten stehen psychologische Gedankenexperimente von unterschiedlich existenzieller Reichweite.[1] Er durchwandert die verschiedensten Genres in dem offensichtlichen Anspruch, mit jedem neuen Buch eine andere Erzählweise auszuloten: Glavinic ist ein Verwandlungskünstler, der in jedem Buch mit einem neuen Thema oder einer ausgefallenen Erzähltechnik überrascht.[2]

Leben

Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. Sein bosnischer Vater war Taxifahrer, nach der Trennung seiner Eltern wuchs Glavinic bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr bei der Mutter in Graz auf.[3] Seine Matura legte er in Gleisdorf ab, da er einer Grazer Schule verwiesen wurde.[4] Bereits zu Schulzeiten stand sein Berufswunsch, Schriftsteller zu werden, fest, stieß jedoch auf wenig elterliche Resonanz. Nach seiner Matura war er u. a. als Werbetexter, Interviewer für Meinungsforschungsinstitute, Taxifahrer[1], Versicherungsvertreter und Journalist[5] tätig, bis er 1989 für steirische Regionalzeitungen schrieb[2] und sich 1991 an einem Germanistikstudium versuchte, aus dem er für sich aber keinen Nutzen ziehen konnte. Die vielen verschiedenen Berufstätigkeiten prägten ihn, denn er ist keiner, der sich als großer Schriftsteller geriert, Literatur versteht er weniger als Kunst denn als Handwerk.[6]

Glavinic schreibt seit 1991 Romane, Essays, Erzählungen, Hörspiele und Reportagen und ist seit 1995 als freier Schriftsteller tätig.[2] Seine Bücher schreibt er auf einer mechanischen Schreibmaschine, weil man da viel genauer sei. Denn es sei unglaublich mühselig, so zu arbeiten: "Also überlege ich mir wirklich jeden Satz fünf- oder fünfzigmal, bis ich ihn niederschreibe. Beim Computer werde ich zu leicht zu schnell."[7]

Die Erzählmuster, derer sich Glavinic bedient, beziehen sich vornehmlich auf Genres der unterhaltenden (oft gar Trivial-)Literatur: Kriminalroman, Coming-of-age-Roman, historischer Roman, Künstler-(Auto-)Biographie, usw. (…) [Er setzt] stets männliche Hauptfiguren [ein], die sich ihres Ichs nicht sicher sein können – die auf den ersten Blick eingängige, dann aber oft märchenhafte, den Boden der Sicherheit verlassende Erzählweise pflegt die Realität als nur oberflächlich von Gewissheiten und referierbaren Erfahrungen abgesichertes Territorium zu entlarven: Angst, Gewalt, Einsamkeit, existenzielle Verunsicherung sind Glavinics zentrale Motive.[2]

Im Jahr 1998 veröffentlichte er seinen ersten Roman Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. Der Roman beschreibt den Kampf um die Schachweltmeisterschaft zwischen Emanuel Lasker und dem fiktiven Carl Haffner. Für den Protagonisten Haffner wählte der Autor den Wiener Schachmeister Karl Schlechter zum Vorbild. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt, der Sprung auf die Bestsellerlisten blieb aber weitgehend aus. Der Roman hat einen autobiografischen Bezug: Thomas Glavinic spielte bereits im Alter von fünf Jahren seine erste Schachpartie und erreichte 1987 in seiner Altersklasse Rang 2 der österreichischen Schachrangliste.

Im Jahr 2000 folgte der Roman Herr Susi, eine in deftiger Sprache geschriebene Abrechnung mit dem Fußball-Vermarktungsgeschäft. Diese wurde von den Kritikern überwiegend negativ beurteilt.

Der Durchbruch gelang Glavinic mit seinem 2001 erschienenen Roman Der Kameramörder, der von den Feuilletons enthusiastisch für seine Medienkritik gefeiert wurde. Das Buch spielt in der Steiermark: Zwei Geschwister werden auf grausame, sadistische Weise an einem Karfreitag in den Tod getrieben. Der Mörder filmt die Tat und hinterlässt die Videoaufnahme an einer nahe gelegenen Raststätte, die von der Polizei beschlagnahmt wird, dann aber doch zu einem deutschen Fernsehsender gelangt, der das Material der Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Geschehnisse werden von einem namenlosen Ich-Erzähler, der das Osterwochenende mit seiner Lebensgefährtin beim befreundeten Paar Heinrich und Eva Stubenrauch im Nachbarort des Tatorts verbringt, in detaillierter Protokollform geschildert. Die Idylle der vier Freunde wird durch die non-stop Berichterstattung in Fernsehen und Radio und die intensive Suche nach dem Täter gestört. Thomas Glavinic sagte in einem Interview über seinen Roman, dessen Idee zum Inhalt er übrigens durch einen Alptraum erhalten hatte, in dem er selbst der Kindsmörder war, dass die Medienkritik nicht als Hauptthema beabsichtigt war: „Ich hatte relativ klar eine Geschichte vor Augen, von der ich wollte, dass der Inhalt, die Form einander nicht aufheben, (...) aber ich wollte eine grausame, grausige Geschichte erzählen, die durch die Form gebrochen wird. (…) Weil der Ich-Erzähler in einem Duktus spricht, der ja wirklich nicht von dieser Welt ist. (…) Gleichzeitig ging es mir aber in erster Linie darum, dass ich es ausdrücken wollte (…), dass alle Menschen Monster sind und das ich wirklich jedem Menschen alles zutraue.“[8] Glavinic erhielt für diesen Roman den Friedrich-Glauser-Preis.[2]

2004 gelang es ihm, mit dem satirischen Entwicklungsroman Wie man leben soll, der durchgängig in der „Man-Perspektive“ geschrieben ist, sowohl Leser (Platz 1 auf der Bestsellerliste Österreichs) wie auch Kritiker (Platz 1 auf der Kritiker-Bestenliste des ORF) zu überzeugen. Der Roman diente 2010 als Vorlage für den gleichnamigen Film.

Im August 2006 erschien sein Roman Die Arbeit der Nacht, der im August 2006 ebenfalls wieder auf dem 1. Platz der ORF-Bestenliste zu finden war, es aber nicht auf die Longlist 2006 für den Deutschen Buchpreis schaffte („Thomas Glavinic“, der Protagonist des Romans Das bin doch ich, drückt die Hoffnung aus, dass ebendies geschehen möge). Dafür erhielt er immerhin 2006 den Österreichischen Förderungspreis für Literatur.[9] Mit diesem Roman wurde er erstmals vom Feuilleton als relevanter Autor akzeptiert. Der Roman steht dezidierter als seine Vorgänger in der Tradition Magischer Literatur und erinnert etwa an Herbert Rosendorfers Großes Solo für Anton oder Marlen Haushofers Die Wand.[2] Der Roman bildet den Auftakt eines dreiteiligen Zyklus (Das Leben der Wünsche und Das größere Wunder) und handelt von einer Welt, in der jedes Menschen- und Tierleben plötzlich verschwunden ist. Nur noch Jonas ist da. Der einzig agierende Protagonist wacht an einem 4. Juli nichtsahnend in Wien auf. Er ist anfangs gar nicht darüber verwundert, dass der österreichische Rundfunk und die Radiosender nicht funktionieren und er niemanden mit Hilfe des Telefons erreichen kann. Nach Durchstreifen völlig lebloser Straßen wartet Jonas vergeblich auf einen Bus. Und langsam dämmert es ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Es beginnt eine Suche, auf 400 Seiten, nach den Menschen, nach seiner großen Liebe Marie und zu sich selbst durch Österreich und Teile Europas.

Glavinic’ im Sommer 2007 erschienener Roman Das bin doch ich handelt von einem Autor namens "Thomas Glavinic", der gerade sein Buch "Die Arbeit der Nacht" beendet hat und zusammen mit seiner Agentin einen Verlag sucht und generell auf Erfolg hofft, während Freund, Kollege und jetzt auch Bestseller-Autor "Daniel Kehlmann" mit „Die Vermessung der Welt“ hohe Verkaufszahlen schreibt. Im Buch träumt der Protagonist davon, mit „Die Arbeit der Nacht“ auf die Longlist des Deutschen Buchpreises zu kommen und übt gleichzeitig Kritik am Literaturbetrieb. Das bin doch ich wurde dann schließlich wirklich für den Deutschen Buchpreis nominiert und schaffte es sogar auf die Shortlist, welche eine Auswahl von sechs der ursprünglich zwanzig für die Longlist ausgewählten Autoren darstellt. Der Roman ist als Künstlerbiografie angelegt (…) [und] gewährt (…) authentische Einblicke in Leben und Arbeiten eines Autors, der (…) zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem realen Glavinic aufweist. (…) Gekonnt spielt Glavinic [hier] mit den Autorenalltag betreffenden Klischeevorstellungen.[2]

Der Roman Das Leben der Wünsche war 2009 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Thomas Glavinic ist Vater eines Sohns und lebt in Wien. Er ist Mitglied des SK Rapid Wien[10] sowie bekennender Fan des SK Sturm Graz. Glavinic ist auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram aktiv und sorgt durch provokante Statements regelmäßig für mediales Aufsehen. Unter anderem griff das Satiremagazin Titanic einen seiner Facebook-Einträge und die medialen Reaktionen darauf in dem Artikel „Ein Penis wie eine Axt“ auf.[11][12]

Werke

Glavinics Werke wurden bisher in über 18 Sprachen, unter anderem in das Englische, Französische, Ungarische und Niederländische, übersetzt.

Literatur

  • David-Christopher Assmann: Das bin ich nicht. Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene. In: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf (Hrsg.): „High“ und „low“. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 130). de Gruyter, Berlin und Boston 2011, S. 121–140.
  • Marta Famula: Gleichnisse des erkenntnistheoretischen Scheiterns. Thomas Glavinics Roman 'Die Arbeit der Nacht' in der Tradition des labyrinthischen Erzählens bei Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt. In: Andrea Bartl (Hrsg.): Transitträume. Beiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur. Interviews mit Raoul Schrott u. a., unter Mitarbeit von Hanna Viktoria Becker (= Germanistik und Gegenwartsliteratur; 5), Wißner, Augsburg 2009, S. 103–122.
  • Goran Lovrić: Unterwegs im Namen des Erzählers. Faktualisierung des Fiktiven in Thomas Glavinics „Unterwegs im Namen des Herrn“. In: Jan Standke (Hrsg.): Die Romane Thomas Glavinics. Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven.Peter Lang, Bern etc. 2014, S. 229–243 (= Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik: 25)
  • Stefan Hofer-Krucker Valderrama: Tod des Autors und Satire auf den Literaturbetrieb. Thomas Glavinics Roman „Das bin doch ich“ im Literaturunterricht auf der Sekundarstufe II. In: Jan Standke(Hrsg.): Die Romane Thomas Glavinics. Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven. Peter Lang, Bern etc. 2014, S. 403–423 (= Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik; 25)
  • Birgit Holzner: Thomas Glavinics Endzeitroman 'Die Arbeit der Nacht'. In: Evi Zemanek, Susanne Krones (Hrsg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Transcript, Bielefeld 2008, S. 215–224.
  • Anja K. Johannsen: In einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen. Die Romane Thomas Glavinics im Geflecht des Literaturbetriebs. In: Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 105–118.
  • Sascha Löwenstein: „Und wie alle anderen hatte er keine Spur hinterlassen“ – Über die Rätselhaftigkeit von Ich und Welt in Thomas Glavinics 'Die Arbeit der Nacht'. In: Thomas Maier, Sascha Löwenstein (Hrsg.): Schöner Sterben. Vorträge zur Literatur beim Heinrich von Veldeke Kreis. Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2013, S. 228–262.
  • Eberhard Sauermann: Thomas Glavinic’ „Kameramörder“ – doch kein Skandal? In: Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 666–677.
  • Jan Standke (Hrsg.): Die Romane Thomas Glavinics. Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven. Peter Lang, Bern etc. 2014 (= Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik; 25).

Auszeichnungen

Commons: Thomas Glavinic – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Ingo Irsigler: Glavinic, Thomas. In: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Band 5. de Gruyter, Berlin / New York 2008, ISBN 978-3-11-022048-3, S. 247 (degruyter.com).
  2. a b c d e f g Thomas Schaefer: Thomas Glavinic - Essay. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. edition text + kritik, München 2017, ISBN 978-3-86916-626-1 (nachschlage.net).
  3. Philipp Wilhelmer: Thomas Glavinic, die FPÖ und die "Urhure". Abgerufen am 2. Mai 2017.
  4. E. Hirschmann-Altzinger: Ein Leben zwischen Drogen & Frauen. Abgerufen am 2. Mai 2017.
  5. I. Schinnerl: Glavinic, Thomas. In: Austria-Forum. Abgerufen am 3. Februar 2018.
  6. Stefan Gmünder: Das Unsagbare zeigen. In: Der Standard. 21. Februar 2001, S. 14.
  7. Dorit Weinstein: Das bin doch ich. In: SIMsKultur. Nr. 7, 2007, S. 70–71.
  8. #88 – Interview mit Thomas Glavinic (Uncut Podcast). In: Youtube. 26. März 2010, abgerufen am 3. Februar 2018.
  9. Kristina Werndl: Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. In: LiteraturhausWien. 6. November 2006, abgerufen am 3. Februar 2018.
  10. „Rapidviertelstunde“ vom 7. November 2014
  11. Titanic: Ein Penis wie eine Axt – Rezension zu Thomas Glavinics neuestem Gemächtwerk | TITANIC – Das endgültige Satiremagazin. Abgerufen am 15. März 2017.
  12. Sandra Kegel: Glavinic vs. Sargnagel: Wiener Mopsposse mit Schmäh. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. Juli 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 15. März 2017]).