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Eugen Gerstenmaier

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Eugen Karl Albrecht Gerstenmaier (* 25. August 1906 in Kirchheim unter Teck; † 13. März 1986 in Bonn) war ein evangelischer Theologe. Als Mitglied des Kreisauer Kreises war er in der Zeit des Nationalsozialismus in Pläne zur Ermordung Adolf Hitlers eingeweiht. Nach 1945 wurde er Politiker in der CDU und war von 1954 bis 1969 Präsident des Deutschen Bundestages.

Ausbildung

Nach der Realschule und einigen Jahren als kaufmännischer Angestellter holte Gerstenmaier das Abitur nach und studierte ab 1930 Philosophie, Germanistik und Evangelische Theologie in Tübingen, Rostock und Zürich. Sein wichtigster Lehrer war der konservativ-lutherische Theologe Friedrich Brunstäd, ein Gegner Karl Barths. Brunstäd gehörte zu den konservativen Nationalprotestanten, die sich rechtzeitig vom Hugenbergflügel der DNVP getrennt hatten und der Machtergreifung Hitlers besorgt gegenüberstanden.

1934 wurde er als Teilnehmer an einer Aktion gegen den neugewählten Reichsbischof Ludwig Müller kurzzeitig inhaftiert. Daraufhin war seine akademische Karriere erschwert. Er konnte jedoch 1937 noch promovieren mit einer Arbeit zum Thema Schöpfung und Offenbarung. Kleinere Zusammenstöße mit lokalen Vertretern des NS-Studentenbundes, die aktenkundig wurden, hinderten ihn nach der Habilitation an der venia legendi. In seiner Promotionsarbeit vertrat er Positionen, die dem theologischen Rassismus des Paul Althaus nahestanden: Die Vermischung der Rassen sei eine „Strukturstörung“ der von Natur aus gesetzten Schöpfungsordnung des einheitlichen Volkstums, ebenso die Aufteilung von Angehörigen einer völkischen Rasse auf verschiedene Staatsgebilde. Deshalb befürwortete er die gewaltsame Vereinigung der „Volksdeutschen" mit dem Deutschen Reich, die Hitler damals vollzog, und schrieb:[1]

Wo immer um die Schöpfung Gottes, um ihren Bestand gekämpft wird, dort hat die Kirche die Waffen zu segnen und mitzukämpfen.

Zu den Deutschen Christen stand Gerstenmeier in Opposition. Unter seiner Führung protestierte die theologische Studentenschaft in aller Form öffentlich gegen den Rücktritt von Friedrich von Bodelschwingh und die erzwungene Wahl Ludwig Müllers zum Reichbischof. [2].

Kirchliche Ämter

Gerstenmaier wurde als Vikar 1935 Assistent Theodor Heckels im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Bischof Heckel stand damals als Lutheraner auf der Seite der Deutschen Christen. Als sein Mitarbeiter konnte Gerstenmaier auf Auslandsreisen Kontakte zu Vertretern der Ökumene knüpfen; Jugendvertreter der Bekennenden Kirche wie Dietrich Bonhoeffer standen ihm jedoch ablehnend gegenüber.

Kreisauer Kreis

Über seine Kontakte zum Auswärtigen Amt lernte Gerstenmaier auch Personen kennen, die Hitlers Politik zunehmend kritisch beurteilten. 1942 ludt Helmuth James Graf von Moltke ihn in seine Widerstandsgruppe ein, den Kreisauer Kreis. Dieser strebte damals zwar einen Putsch und Regimewechsel an, lehnte aber eine Ermordung Hitlers noch ab. Als Mitglied dieser Gruppe besuchte Gerstenmaier 1942 Schweden Bischof Brilioth aus Großbritannien und informierte diesen über die Widerstandspläne.

Am 20. Juli 1944 hielt sich Gerstenmaier im Berliner Bendlerblock auf, um den Umsturzversuch nach dem Attentat auf Hitler zu unterstützen. Daraufhin wurde er verhaftet und vom Volksgerichtshof am 11. Januar 1945 als einer der wenigen als Mitwisser Verdächtigten nicht zum Tod, sondern zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. 1945 befreiten ihn amerikanische Truppen.

Nachkriegszeit

Wie viele evangelische Christen beschrieb Gerstenmaier seine Haltung im Dritten Reich nach 1945 so, als sei er seit 1934 ein Oppositioneller des Hitlerregimes gewesen. In einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. Juni 1945 gab er sich als „Mitarbeiter der Ökumenischen Bewegung" aus, der in enger Verbindung mit Pastor Martin Niemöller an der Begründung und dem Kampf der Bekennenden Kirche teilgenommen habe. Dies veranlasste sowohl den Ökumenischen Rat als auch Niemöller zu einer Richtigstellung.[3]

Wie Hermann Ehlers war Gerstenmaier dann an der Organisation des Hilfswerks der EKD beteiligt. 1945 bis 1951 war er dessen Leiter.

Weg in die Politik

Staatliche Einheit und Wiederbewaffnung waren zwei große Themen, die in der Anfangszeit der Bundesrepublik den evangelischen Bevölkerungsteil politisierten. Gerstenmaier gehörte zu den CDU-Politikern, die beides bejahten, aber die Westbindungspolitik Konrad Adenauers wegen der damit verbundenen Abkehr von einer primär auf die Wiedervereinigung Deutschlands abzielenden Politik intern kritisierten.

Auch Adenauers Sozialpolitik, die eher von Vertretern des katholischen Zentrums als von Protestanten bestimmt wurde, stand Gerstenmaier eher kritisch gegenüber, hatte aber darauf wenig Einfluss. Er unterstützte mit pointiert christlichprotestantischen Argumenten gegen den „totalen Versorgungsstaat“ (Zitat auf dem Kieler Parteitag 1958) die Position von Ludwig Erhard. Er gehörte dem Auswahlgremium der beiden Unionsparteien an, das am 24. Februar 1959 Ludwig Erhard als neuen Bundespräsidenten vorschlug, was dieser jedoch ablehnte.

Von 1956 bis 1966 war er stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU.

Befürworter der Atombewaffnung der Bundeswehr

Mit der Wiederbewaffnung war der Beitritt zur NATO, mit dieser die Einbindung der Bundeswehr in auch atomare Verteidigungsstrategien verbunden. Am 5. April 1957 bezeichnete Adenauer die taktischen Atomwaffen, die die USA seit 1954 auch auf westdeutschem Boden zu stationieren begannen und mit denen er auch die Bundeswehr ausrüsten wollte, als bloße „Weiterentwicklung der Artillerie". Der Widerspruch von 17 Wissenschaftlern mit dem Göttinger Appell dagegen löste die erste außerparlamentarische Oppositionsbewegung gegen die Atombewaffnung aus.

Gerstenmaier verteidigte diese als Redner für die CDU in der ersten großen Bundestagsdebatte zu diesem Thema am 10. Mai 1957: Human sein heiße, seine Berufung zur Freiheit zu erfassen. Dazu müsse man die gegebenen Chancen für Freiheit ergreifen. Diese bestünden aktuell darin, die freie Welt zu einen. Dazu sei Entschlossenheit zum Widerstand gegen jeden Angreifer und notfalls mit allen Mitteln erforderlich. Dies sei keine Drohung, sondern eine einstweilen unentbehrliche Abschreckung. Auf den Zwischenruf eines SPD-Abgeordneten, der aus den Zehn Geboten „Du sollst nicht töten!" zitierte, reagierte Gerstenmaier:[4]

Ja, wissen Sie, man soll keinen Mord geschehen lassen. Heute heißt das Gebot 'Du sollst nicht töten': alle Kräfte daher denen, die gewillt sind, dem Mörder in den Arm zu fallen, damit er den Stoß nicht führen kann.

Abgeordneter

Von 1949 bis 1969 war Gerstenmaier für die CDU Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 1949 bis 1953 war er dort stv. Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und anschließend bis zum 17. Dezember 1954 Vorsitzender dieses Ausschusses.

Nach dem plötzlichen Tod von Hermann Ehlers 1954 wurde Gerstenmaier dessen Nachfolger (bis 1969) als Bundestagspräsident. Bei seiner Wahl am 16. November 1954 gab es dabei den im Bundestag einmaligen Fall, dass zwei Fraktionskollegen gegeneinander um das Amt des Bundestagspräsidenten kandidierten: Gegen den „offiziellen“ CDU/CSU-Kandidaten Gerstenmaier, der vielen Abgeordneten auch der Regierungskoalition zu kirchennah war, trat Ernst Lemmer, vorgeschlagen von dem FDP-Abgeordneten Hans Reif, an und verlor erst im dritten Wahlgang mit lediglich 14 Stimmen Unterschied (Gerstenmaier: 204, Lemmer: 190, Enthaltungen: 15). Von 1957 bis zum 12. Oktober 1959 war Gerstenmaier Vorsitzender der Unterkommission „Haushalt“ des Bundestagsvorstandes.

Gerstenmaier prägte durch seine lange Amtszeit als Bundestagspräsident (1954–1969) dieses Amt. Innerhalb der CDU profilierte er sich als zeitweise stellvertretender Bundesvorsitzender und als innerparteilicher Kritiker Adenauers (vor allem in dessen Endphase als Bundeskanzler). Seinem Ziel, selbst Bundeskanzler oder wenigstens Außenminister zu werden, kam er dadurch jedoch nicht näher. Als es um die Nachfolge von Bundeskanzler Ludwig Erhard ging (November 1966), verzichtete Gerstenmaier auf seine Ambitionen zugunsten seines Landsmannes Kurt Georg Kiesinger, der ihm das Auswärtige Amt versprach, diese Zusage aber nicht einhalten konnte.

Am 31. Januar 1969 legte Gerstenmaier das Amt als Bundestagspräsident nieder, nachdem es öffentliche Auseinandersetzungen über die Inanspruchnahme von Wiedergutmachungsleistungen gegeben hatte. Diese standen ihm rechtlich zu, doch erregte die Höhe der Summe Anstoß und der Verdacht einer möglichen politischen Einflussnahme war nicht zu entkräften. Nachfolger wurde Kai-Uwe von Hassel. Nach Gerstenmaier, der als Bundestagspräsident den Bau des Abgeordnetenhochhauses in Bonn besonders gefördert hatte, gab der Volksmund diesem den Namen Langer Eugen. Gerstenmaier zog sich aus der Politik zurück. Er legte 1981 seine Memoiren vor und starb 1986. Der leidenschaftliche Kämpfer für die deutsche Wiedervereinigung erlebte die Verwirklichung dieses Traumes 1990 nicht mehr.

Ehrenämter

1980 gehörte Gerstenmaier für die CDU neben Hermann Kunst (Vorsitzender), Alex Möller (für die SPD), Rudolf Hanauer (für die CSU) und Bernhard Leverenz (für die FDP) zu den Mitgliedern der Schiedskommission zur Überwachung der Einhaltung des Wahlkampfabkommens im Bundestagswahlkampf.

Von 1977 bis zu seinem Tode war Gerstenmaier Vorsitzender der „Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages e. V.“ (ab 1984: Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments e. V.)

Veröffentlichungen

  • Der dritte Bundestag. Zum Wahlgesetz und zur Gestalt des künftigen Parlaments, in: Der Wähler, Jg. 1955, Heft 11, Seiten 495-497
  • Brauchen wir einen besseren Bundestag?, in: DER SPIEGEL, Jg. 1964, Heft 38 vom 16. September 1964
  • Öffentliche Meinung und Parlamentarische Entscheidung, in: Karl Dietrich Bracher u.a., Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1966, Seiten 123-134
  • Zukunftserwartungen der Demokratie, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1972/73, Trier 1974, Seiten 41-50
  • Gewissensentscheidung im Parlament, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 1980, Heft 30, Seiten 1855-1858
  • Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1981

Quellen

  1. Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer S. 629
  2. Wolfgang Huber (Hg.), Chr. Kaiser, Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, S. 69ff., 1990, ISBN 3-459-01843-7
  3. Hans Prolingheuer, Kleine politische Kirchengeschichte S. 188
  4. Helmut Gollwitzer, Die Christen und die Atomwaffen 6. Auflage, S. 11

Literatur

  • Bruno Heck (Hrsg.): Widerstand - Kirche - Staat. Eugen Gerstenmaier zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1976