Kannibalismus
Als Kannibalismus (von span. Caribales bzw. Canibales für den Stammesnamen der Kariben) wird das Verzehren von ArtgenossInnen oder Teilen derselben bezeichnet. Insbesondere versteht man darunter den Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen. Angewendet wird der Begiff sowohl in der Völkerkunde als auch in der Zoologie.
Kannibalismus taucht in vielen Kulturen und (geschichtlich) nicht zuletzt in den Gesellschaften Europas auf. Oft ist er ein Indikator für extreme Notsituationen wie z.B. große Hungerkatastrophen, wie der Innsbrucker Wirtschafts- und Sozialgeschichtler Josef Nussbaumer jüngst in einer detaillierten Kannibalismuschronik seit Christi Geburt belegt hat. Siehe dazu dessen Buch: Hungernde, Unwetter und Kannibalen ( http://www.studienverlag.at/titel.php3?TITNR=1831 ).
Etymologie
Das Wort Kannibalismus beruht auf der spanischen Bezeichnung "Canibales" für die Insel-Kariben auf den kleinen Antillen, die nach heutzutage widerlegter Behauptung Kannibalismus ausübten.
Kannibalismus in der Ethnologie
Die Europäer begegneten dem Kannibalismus in den vergangenen Jahrhunderten, als sie die überseeische Welt erkundeten. Der rituelle Verzehr von Menschenfleisch wurde von verschiedenen Kulturen ausgeübt. Dabei waren es vor allem die Körper oder Teile besiegter Feinde, welche die Kannibalen und Kopfjäger verzehrten. Einige Völker aßen jedoch auch Teile, vornehmlich die Gehirne, von Verwandten und Freunden. Alle diese Verhaltensweisen dienten nicht dem normalen Nahrungserwerb. Sie hatten eher psychologische Hintergründe, die Verzehrenden wollten Eigenschaften der Toten wie Stärke oder Intelligenz mit der Mahlzeit aufnehmen. Deshalb wurden auch Körperteile bevorzugt, bei denen der Sitz der Zauberkraft der Seele vermutet wurde.
Kannibalismus wird insofern als eine bestimmte Technik der Annäherung mittels Einverleibung verstanden. Daher fassen manche das christliche Abendmahl als sublimen Kannibalismus auf. In desem Fall spricht man von einer Transsubstantiation, bei der Brot und Wein symbolisch in Leib und Blut Christi verwandelt und einverleibt werden.
Im Jahr 1876 wurde der englische Missionar Thomas Baker auf der Insel Nubutautau, die zu den den Fidschiinseln gehört, auf Grund einer Tabuverletzung verspeist. Die Bewohner der Insel entschuldigten sich bei den Nachfahren Bakers im Jahr 2003 in feierlicher Form.
Eine besondere Brisanz erhält der Kannibalismus seit der Entdeckung der Prionen. Diese für die Rinderkrankheit BSE und die Scrapie der Schafe verantwortlichen "Erreger" werden durch den Verzehr befallener Organe übertragen. Dies ist auch der Fall bei der Krankheit Kuru, die bei dem Stamm der Fore in Papua-Neuguinea auftaucht und auf einen rituellen Kannibalismus zurückgeführt wird.
Früheste Belege
Kannibalismus ist ein sehr altes Phänomen, das durchaus auch in Europa verbreitet war. So wird zum Beispiel für den Neandertaler vermutet, dass er zumindest stellenweise rituellen Kannibalismus praktizierte. Darauf deuten Bearbeitungsspuren an menschlichen Knochenfunden. Diese wurden stellenweise aufgebrochen, was darauf schließen lässt, dass man ans Mark gelangen wollte.
Auch bei den Azteken war der Kannibalismus neben den Menschenopfern wahrscheinlich ein häufiges Ritual.
Des Weiteren war der Kannibalismus bei den Niam-Niam am Tschadsee und den Batak auf Borneo verbreitet.
Rechtsfälle zum Kannibalismus
Der bekannteste Kannibale der deutschen Rechtsgeschichte ist ohne Zweifel der aus Hannover stammende Fritz Haarmann. Es ist allerdings nie geklärt worden, ob der Fleischer seine Opfer selbst aß oder nur als Dosenfleisch verkaufte. Der Fall wurde unter dem Titel "Der Totmacher" mit Götz George verfilmt.
Im Jahr 2003 erregte ein Fall von Kannibalismus in Deutschland Aufsehen. Der Berliner Bernd Jürgen Brandes antwortete auf eine Internetanzeige und stellte sich als Opfer für ein kannibalisches Essen zur Verfügung, dass der Rotenburger Armin Meiwes vornahm. Mit Einverständnis des Berliners hat Meiwes den Berliner vor laufender Kamera getötet und Teile seines Körpers gegessen.
Weitere rechtlich bekannte Kannibalen sind der Russe Andrej Tschikatilo, die Amerikaner Jeffrey Dahmer und Ed Gein sowie der Duisburger Joachim Georg Kroll. Ebenfalls bekannt geworden sind Fälle von Kannibalismus, bei denen die Verspeisung von Leichen in Notsituationen vorkam, etwa bei der Belagerung von St. Petersburg (damals Leningrad) 1941 - 1944 oder bei einem Flugzeugabsturz in den chilenischen Anden 1972.
Kannibalismus im Tierreich
Beim Kannibalismus in der Zoologie wird unterschieden zwischen aktivem und passivem Kannibalismus. Ein aktiver Kannibale jagt und tötet Artgenossen, bevor er sie frisst während ein passiver Kannibale nur bereits tote Artgenossen verspeist. Letztere sind häufig Aasfresser wie die Tüpfelhyänen der afrikanischen Steppe oder verschiedene Arten von Krabben im Meer.
Gottesanbeterinnen und andere räuberische Insekten sowie Spinnen verhalten sich häufig kannibalisch, da sie ihre Artgenossen nicht von Beutetieren unterscheiden können. Schwierig wird das bei der Paarung. Die Männchen müssen versuchen, ihre Partnerin zu überraschen oder durch Fesseln oder "Brautgeschenke" ruhig zu stellen. Nicht immer klappen diese Strategien und so werden die Werber häufig noch vor oder während der Paarung zu einer willkommenen Beute des Weibchens.
Bei Mäusen und Ratten kann Kannibalismus ebenfalls auftreten. Bei sprunghaften Zunahmen der Populationsdichte werden schwächere Jungtiere teilweise von gestreßten Erwachsenen getötet und gefressen. Dieses Phänomen tritt auch bei der intensiven Tierhaltung auf. Hier fressen sich Schweine gegenseitig die Schwänze oder Ohren ab, Hühner verletzen sich durch gegenseitiges Anpicken.
Männliche Alligatoren und Warane töten häufig Artgenossen, denen sie überlegen sind und fressen diese. So stellen bei solchen Arten besonders die ausgewachsenen Männchen eine große Gefahr für Jungtiere dar, die sich entsprechend bis zu einer bestimmten Körpergröße verstecken müssen.
Ein besonderer Fall von Kannibalismus im Tierreich sorgte gerade in den letzten Jahren für Aufregung. Es existieren viele Berichte über Löwen, die Junge töten und dann angeblich auch fressen. Dabei töten diese Löwen nicht die eigenen Jungtiere, sondern die anderer Paare. Durch die Tötung der Jungtiere regt das Männchen einerseits das Weibchen zu erneuter Paarungsbereitschaft an und schaltet gleichzeitig potentielle spätere Rivalen für seinen Nachwuchs aus. Dieses als Infantizid bezeichnete Phänomen taucht auch bei verschiedenen Primaten auf, so bei Mantelpavianen und bei Hulmanen, eventuell auch bei Schimpansen.
Autokannibalismus
Als Autokannibalismus bezeichnet man den Verzehr von Teilen des eigenen Körpers. Ein Grund für den Autokannibalismus ist zum Beispiel ein abnormer Sexualtrieb. Eine weit verbreitete, harmlose Form des Autokannibalismus ist das Fingernägelkauen.
Begriffsübertragung
Auch in die Astronomie hat der Begriff Einzug gehalten, hier bezeichnet er das Verschlucken kleiner Galaxien durch größere Nachbarn. Ebenfalls übertragen wurde der Begriff auf die Fertigungssteuerung: Hier bezeichnet er (allerdings nicht normgerecht) den Ausbau von Teilen aus bereits montierten Baugruppen oder Produkten, um die so "kannibalisierten" Teile in andere Baugruppen einzubauen, die schneller fertig werden müssen.