Rockabilly
Rockabilly
Rockabilly war die erste rein weiße Spielart des Rock’n’Roll und entstand, als junge weiße Musiker in den amerikanischen Südstaaten den schwarzen Rhythm & Blues auf ihre Art und mit den ihnen vertrauten Instrumenten neu interpretierten. Da der Boom dieser Musik, die zunächst keinen einheitlichen Namen hatte und zuweilen einfach unter Pop, Country oder sogar Rhythm & Blues eingeordnet wurde, nicht über die Grenzen der Südstaaten hinausging, versuchten einige Interpreten etwa ab 1956 den ländlichen Unterton dieses Stils abzuschütteln, um auch überregional Erfolg zu haben. Um sich von dieser Musik abzugrenzen, prägten Musiker den eigentlich selbstironischen oder sogar wertenden Begriff „Rockabilly“. Der Anklang an Hillbilly (= Landei, Hinterwäldler) betonte dabei das Provinzielle, allzu „Gemütliche“ dieser Musik. Populär und einem breiten Publikum bekannt wurde der Begriff erst im Zuge des Rockabilly-Revivals Anfang der 80ger Jahre.
Im Zentrum der Entwicklung des Rockabilly steht das kleine Label Sun-Records in Memphis Tennessee. Gründer Sam Philips war ein weißer Bluegrassmusiker mit Affinität zur sogenannten „Race Music“, der schwarzen Musik. Eines der Zentren dieser Musik lag damals direkt in Memphis, nämlich in der berüchtigten Beale Street, wo neben den heißesten schwarzen Bluesclubs auch Prostitution, Glückspiel und Voodookult zuhause waren. Philips schwebte vor, die Sprengkraft der schwarzen Musik einem breiten, weißen Publikum zugänglich zu machen. Sein Label hatte sowohl weiße als auch schwarze Musiker unter Vertrag, was Anfang der 50ger Jahre äußerst ungewöhnlich war, denn damals herrschte im gesamten Süden eine derart restriktive Rassentrennung, daß man von zwei parallelen, in sich geschlossenen Musikwelten sprechen kann, die jeweils ihre eigenen Clubs, Labels, Plattenläden und Radiostationen unterhielten. Während sich nur wenige weiße Jugendliche trauten, direkt in schwarze Clubs oder auch nur in schwarze Plattenläden zu gehen, war es schon Anfang der 50ger Jahre bei jungen Weißen weit verbreitet, heimlich die schwarzen Stationen zu hören, deren Musik sexuell eindeutige Themen behandelte. Philips war klar, daß ein breiteres weißes Publikum den Blues nur akzeptieren würde, wenn er im weißen Country-Gewand daherkommen würde. Der junge Elvis Presley, ab 1954 bei Sun, diente ihm dabei (neben anderen) als Verbindungselement, denn er hatte, entgegen seiner Hautfarbe, einen guten Schuß Gospel und Rythm & Blues in der Stimme. Es ist außerdem nicht unwahrscheinlich, daß auch der junge Presley, der sich Koteletten wachsen ließ, um älter zu wirken, die schwarzen Clubs in der Beale Street von innen kannte, wo Bluesmusiker mit extatischen, epileptischen Bewegungen das Publikum in Rage versetzten (Die in vielen Elvis-Biografien zu lesende Version, daß Elvis seine provozierenden Hüftbewegungen als kleiner Junge in Tupelo gelernt haben soll, und zwar in der Kirche, scheint doch wohl eher eine bewußt gestreute Ente des Managements zu sein, um die Verbindung mit dem Voodoo der Beale Street gar nicht erst aufkommen zu lassen, und die sittenstrenge weiße Mittelklasse zu beruhigen.).
Als erster Rockabilly-Titel der Geschichte gilt die 1954 bei Sun eingespielte Aufnahme „That’s alright Mama“ des 19jährigen Elvis Presley, zusammen mit Scotty Moore (git.) und Bill Black (bs), angeblich aus dem Mitschnitt einer Pausenspielerei entstanden. Die ungewöhnlich sparsame Besetzung wurde zum viel kopierten Merkmal des frühen Rockabilly: Die bei den schwarzen Vorbildern elementaren Bläser fehlten, ebenso gab es kein Schlagzeug. Stattdessen wurde der Kontrabass als Perkussionsinstrument eingesetzt („slapping bass“), eine Technik aus dem Dixieland-Jazz, bei der die Saiten aufs Griffbrett klatschen. Um das fehlende Schlagzeug zu kompensieren, wurde außerdem ein Bandecho eingesetzt, daß einen charakteristischen, im Takt blubbernden Groove erzeugte. Dieser Echo-Groove kennzeichnet vor allem den Sun-Sound, aber er wurde auch von anderen Rockabilly-Interpreten eingesetzt, etwa von Gene Vincent, der damit sehr gekonnt seine Stimme unterstützte. Die Leadgitarre spielte sparsam gepickte, hohe Noten auf der zweiten Zählzeit des Taktes, sowie Boogielicks auf den Basssaiten. Gesungen wurde häufig in einem nervösen „Schluckauf-Stil“, mit schwarzem Swing und manchmal auch mit gospelhaften, schwarzen Verzierungen.
Auch wenn die Titel von „Elvis, Scotty and Bill“ erstaunliche Verkaufserfolge in Memphis und Umgebung erzielten, seitdem sie im örtlichen Radio gespielt wurden, ist es wohl eher auf die spektakulären Lifeauftritte zurückzuführen, daß diese neue Musik schnell zum Gesprächsthema wurde. Die drei Musiker nannten sich bald „The Bluemoon Boys“ und tourten ab 1954 allein oder zusammen mit anderen Sun-Musikern (Carl Perkins, Johnny Cash) durch den gesamten Süden, wo sie Aufruhr, Hysterie und Empörung auslösten. Die umstrittenen Auftritte entzündeten ein regelrechtes Sun-Sound-Fieber. Überall, wo die Sun-Leute spielten, taten sich anschließend Interpreten hervor, die z.T. sehr eng am Vorbild liegende Kopien des Sun-Sounds lieferten. Nur wenige dieser Interpreten entwickelten individuelle Stile. Ein positives Beispiel hierfür ist ein gewisser Charles Hardin Holly, ein junger Countrymusiker aus Lubock, Texas, der 1956 in seinem Heimatort einen Auftritt von Presley sah und sich sofort eine elektrische Gitarre kaufte, um auf den neuen Stil umzuschwenken und unter dem Namen „Buddy Holly“ Geschichte zu schreiben. Eddie Cochran ist hier ebenfalls zu nennen, und natürlich Gene Vincent, der einen eigenständigen, deutlich agressiveren, urbaneren Rockabillystil entwickelte, in dem sogar manchmal Doo-Woop Elemente anklangen. Gene Vincents Gitarrist Cliff Gallup war außerdem stark vom virtuosen Jazz-Pop Gitarristen Les Paul beeinflußt und baute überaschende Harmoniewechsel, sowie technisch anspruchsvolle Licks in seine Soli ein.
Trotzdem gelang es dem Rockabilly nur selten, überregionale Hits hervorzubringen. Die provinzielle Note war zu stark, der Südstaatenakzent vieler Sänger unüberhörbar. Nach etwa drei Jahren verebbte der Rockabillyboom wieder und die meisten Interpreten wandten sich der traditionellen Countrymusik zu. Wenigen gelang es, wie Elvis Presley, das Lokalcholorid abzulegen und mit einem angepassten Mainstream-Rock’n’Roll landesweiten Erfolg zu verbuchen. Bereits 1956, auf dem Höhepunkt des Rockabillybooms, wechselte Presley von Sun zum Plattengiganten RCA Victor. Dieser Wechsel markiert die Abwendung vom Rockabilly, wenngleich Presleys erste RCA-Sessions, zunächst noch mit der alten Band eingespielt, noch eindeutig dem Rockabilly zuzurechnen sind. Wer einen Vergleich zwischen gemütlich-ländlichem Rockabilly und Mainstream Rock’n’ Roll hören möchte, dem sei Carl Perkins’ Orginalversion von „Blue Suede Shoes“ empfohlen, gefolgt von Presleys Coverversion desselben Songs.
Hörbeispiele
Die typische slapping-bass-Spielweise kommt in folgenden Titeln besonders gut zur Geltung: Elvis: I don’t care if the sun don’t shine, Eddy Cochran: Twenty Flight Rock, Ronnie Self: Pretty Bad Blues, Elvis: Baby let’s play house, sowie der kaum bekannte Andy Starr mit Rockin’ Rollin’ Stone.
Die von der Leadgitarre gespielten hohen Noten auf der zweiten Zählzeit, sowie die Boogie-Licks hört man vor allem bei Elvis’ Gitarrist Scotty Moore und bei Carl Perkins. Beispiele hierfür sind Carl Perkins mit Honey Don`t, und Elvis mit Good Rocking Tonight.
Schöne Beispiele des typischen blubbernden Schluckaufgesangs in Verbindung mit dem Bandecho bietet, neben dem bereits genannten Baby let’s play house von Elvis auch der aus Arkansas stammende Pat Cupp mit Do me no wrong. Besonders nervös singt auch ein obskurer Rockabilly-Interpret namens „The Phantom“, dessen Musik schon fast wie eine Parodie auf den Rockabilly wirkt. Hier sei der Titel Love me erwähnt. Weiterhin ist Gene Vincent zu empfehlen, der den von Sun entwickelten Echoeffekt zur Erzeugung des blubbernden Rockabilly-Grooves noch gekonnter einsetzte, als die Sun-Musiker. Vergleiche Songs wie Bluejean Bop oder Race with the devil, dem ersten Rock’n’Roll Song der Geschichte mit Tonartwechsel beim Gitarrensolo (zweites Solo).
Ein bemerkenswertes Beispiel für die im Rockabilly selten vorkommenen schwarzen Verzierungen in der Stimme bietet Elvis’ Version des Kokomo Arnold Songs Milkcow Blues Boogie. Die unvermittelten „Falcett-Kiekser“geben dem Song zusätzlich ein weißes Cowboy-Feeling. Diese Interpretation ist extrem schwarz und extrem weiß zugleich, eine damals beunruhigende Querlegung zu gängigen Kategorien.
Die Geschichte des Rockabilly ist nur ein kleines Kapitel in der Entstehung des klassischen Rock’n’Roll. Nahezu zeitgleich gab es nämlich überall in den USA ähnliche Entwicklungen, die unabhängig voneinander eins gemeinsam hatten: Musik von ethnischen Minderheiten erhielt, in welcher Form auch immer, Zugang zur Musiktradition der weißen Mittelklasse.
Schwarze Musiker entwickelten ihren Rhythm & Blues weiter und erlangten mehr und mehr Akzeptanz auch beim weißen Massenpublikum, nicht zuletzt durch die intensive Förderung einzelner weißer Idealisten, wie dem DJ Alan Freed. In Chicago gehörten dazu Bo Diddley und Chuck Berry, in New Orleans Fats Domino und Smiley Louis. Zahlreiche schwarze Vocal Groups traten auf den Plan, Weiße kopierten deren Stil. Außerdem gab es im Norden eine dem Rockabilly verwandte Entwicklung: inspiriert vom schwarzen Swing entwickelten weiße Musiker den Northern Band Style, eine dem Rockabilly ähnliche Musik, in der jedoch von Anfang an das laut gespielte Schlagzeug und das im Rockabilly nahezu unbekannte Saxofon eine tragende Rolle spielten. Der wichtigste Vertreter dieses Stiles war Bill Haley.
Alle diese flächenbrandartigen Entwicklungen der 50ger Jahre, begleitet von hysterischen Fans und verzweifelten Eltern, warnenden Pädagogen, verängstigten Kirchenvertretern und alarmierten Politikern, die den Rock'n'Roll z.T. für eine Strategie des KGB hielten, um die Moral der amerikanischen Jugend zu zersetzen - all diese musikalischen Entwicklungen haben Spuren hinterlassen, die wir noch heute im Alltag spüren: Sie nahmen das Ende der Rassentrennung musikalisch vorweg und erleichterten die gesellschaftspolitischen Veränderungen der 60ger Jahre, wie die sexuelle Befreiung. Sie sind außerdem bis heute der Ursprung für jede Form von Rock- und Popmusik.
[Noch von jemandem zu schreiben: neuer Rockabilly, Rockabilly-Revival der 80ger Jahre]