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De-Broglie-Bohm-Theorie

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Die Bohmsche Mechanik ist - je nach Definition der Begriffe - eine alternative Interpretation bzw. Modifikation der Quantenmechanik. Sie reproduziert alle Vorhersagen der (nicht-relativistischen) Quantenmechanik, hat aber ein radikal abweichendes Wirklichkeitsverständnis zur Folge. Die Bohmsche Mechanik ist eine deterministische Theorie und erlaubt eine einfache Lösung des Messproblems der Quantenmechanik, d.h. der Akt der Messung bzw. Beobachtung spielt keine ausgezeichnete Rolle (zum Messproblem siehe auch den Artikel zu Schrödingers Katze). Wie bei den meisten Interpretationen der Quantenmechanik besteht keine Möglichkeit experimentell über die Richtigkeit dieser Theorie zu entscheiden bzw. alle ihre Vorhersagen sind identisch zu denen der üblichen Quantenmechanik.

Geschichte

Die Bohmsche Mechanik wurde in den 20er Jahren von dem französischen Physiker Louis de Broglie entwickelt. De Broglie bezeichnete sie als "Theorie der Führungswelle" (theorie de l'londe pilote, engl. pilot wave theory). Diese fand jedoch nur geringe Beachtung und geriet in Vergessenheit. Ohne de Broglies Arbeiten zu kennen, entwickelte in den 50er Jahren der amerikanische Physiker David Bohm eine äquivalente Fassung dieser Theorie (1952, "A suggested interpretation of the quantum theory in terms of "hidden" variables", Phys.Rev.85, 166-179 (Teil 1) und 180-193 (Teil 2)). Bohm bezeichnete die Theorie später als "ontologische" bzw. "kausale" Interpretation der Quantenmechanik. Der Bezeichnung "Bohmsche Mechanik" kann man vorwerfen, dass sie die Rolle de Broglies unterschlägt. Angesichts ihrer Entstehungsgeschichte scheint der Name "de Broglie-Bohm Theorie" angemessener. Im Folgenden verwenden wir beide Bezeichnungen synonym.

Formalismus

Die Grundidee der de Broglie-Bohm Theorie betseht darin, ein System nicht durch die Wellenfunktion () alleine zu beschreiben, sondern durch das Paar aus Wellenfunktion und den Teilchenorten () der jeweiligen Objekte (Elektronen, Atome etc.). Die Teilchenorte sind die sog. "verborgenen Parameter" der Theorie. Die Bohmsche Mechanik wird somit durch zwei Grundgleichungen definiert: zum einen durch die übliche Schrödingergleichung der Quantenmechanik:

,

sowie durch die Bewegungsgleichung ("Führungsgleichung") für die Teilchenorte :

.

Hier bezeichnet die Phase der Wellenfunktion in der Polardarstellung, also . bezeichnet die Masse des i-ten Teilchens und den Nablaoperator angewendet auf die Koordinate des i-ten Teilchens.

Bildlich gesprochen leitet die Wellenfunktion also die Bewegung der Teilchen. Innerhalb dieser Theorie bewegen sich die Quantenobjekte also auf kontinuierlichen (und deterministischen) Bahnen. Diese Bewegung ist natürlich erst dann eindeutig festgelegt, wenn Anfangsbedingungen spezifiziert werden. Man beachte, dass die Führungsgleichung eine Differentialgleichung erster Ordnung ist, also die Angabe der Teilchenorte zu einem Zeitpunkt die Bewegung schon festlegt. Alle Vorhersagen der Quantenmechanik können gerade dann reproduziert werden, wenn man als Anfangsbedingung die sog. Quantengleichgewichtsverteilung wählt, d.h. die Gültigkeit der sog. Quantengleichgewichtshypothese annimmt:

Quantengleichgewichtshypothese

Die Quantengleichgewichtshypothese lautet: Die Ortsverteilung eines durch die Wellenfunktion beschriebenen Systems lautet .

Aufgrund der Quantengleichgewichtshypothese wird in der Bohmschen Mechanik auch die Heisenbergsche Unschärferelation nicht verletzt. Im Unterschied zur üblichen Quantenmechanik sind die Wahrscheinlichkeitsaussagen der Bohmschen Mechanik jedoch lediglich unserer Unkenntnis über die konkreten Anfangsbedingungen geschuldet.

Die quantenmechanische Kontinuitätsgleichung

stellt sicher, dass ein einmal -verteiltes System diese Eigenschaft behält. Damit bleibt jedoch noch offen, warum diese Verteilung zu irgendeinem Zeitpunkt vorliegen soll. Zur Beantwortung dieser Frage existieren verschiedene Ansätze. Offensichtlich ist es unbefriedigend, diesen Umstand sehr speziellen Anfangsbedingungen (etwa des Universums) zuzuschreiben. Physikalisch intuitiv wäre es, wenn man einen dynamischen Mechanismus angeben könnte, der erklärt wie (möglichst viele) Anfangsbedingungen sich dem Quantengleichgewicht annähern. Diesen Ansatz verfolgt etwa Valentini (A. Valentini (1991), Phys.Lett. A 156, No.1-2, 5. und A158, No.1-2, 1.), der argumentiert wie aufgrund der Bohmschen Dynamik eine größere Klasse von Anfangsbedingungen zu einer näherungsweisen Quantengleichgewichtsverteilung führen.

Die Frage, ob "viele" oder "wenige" Anfangsbedingungen mit der Quantengleichgewichtshypothese verträglich sind, setzt natürlich ein Maß voraus, mit dem diese Mengen gemessen werden können. Es ist nicht klar, dass dabei das Lebesgue Maß auf dem Konfigurationsraum verwendet werden muss.

In Dürr et al. (J. of Stat. Phys. 67 (1992) 843.) wird diese Freiheit zum Ausgangspunkt gewählt. Diese Autoren wählen ein Maß, bei dem fast alle Anfangsbedingungen mit der Quantengleichgewichtshypothese verträglich sind und argumentieren, warum dieses Maß "natürlich" ist. Damit begründen sie, warum sich ein hypothetisches "Bohmsches Universum" im Quantengleichgewicht befindet. Das Hauptresultat dieser Arbeit besteht nun darin zu zeigen, dass in einem solchen Bohmschen Universum auch Teilsysteme die Quantengleichgewichtshypothese erfüllen.

Spin in der Bohmschen Mechanik

Es ist instruktiv zu betrachten, wie die de Broglie-Bohm Theorie den Spin beschreibt. Hier existieren verschiedene Ansätze, aber eine naheliegende Möglichkeit besteht darin, den Spin nicht dem Teilchen zuzuordnen, sondern nur als Eigenschaft der Wellenfunktion (bzw. des Pauli Spinors) aufzufassen.

Konkret geht man von der Schrödingergleichung zur Pauli-Gleichung über. Aus der Wellenfunktion wird ein 2-komponentiger Spinor . Es existiert - analog zur Beschreibung spinloser Teilchen - ein Strom:

.

Hier bezeichnet das Vektropotential und den Spinorindex. Die Führungsgleichung lautet analog zum spinlosen Fall:

Auch ohne die mathematischen Details zu überblicken, sollte folgender Punkt klar werden: Die Eigenschaft "Spin" wird nicht dem Teilchen zugeordnet (d.h. dem Objekt auf der Bohmschen Trajektorie) und der Konfigurationsraum bleibt der Selbe wie im Falle spinloser Objekte. Im Besonderen wird keine "verborgene Variable" für den Spin eingeführt. Die übliche Sprechweise lautet, dass der Spin "kontextualisiert" wird (s.u.).

Wichtige Eigenschaften

Charakteristische Eigenschaften der de Broglie-Bohm Theorie sind die Folgenden:

Lösung des Messproblems

Die mit Abstand wichtigste Eigenschaft der de Broglie-Bohm Theorie ist, dass sie das Messproblem der Quantenmechanik löst, bzw. innerhalb dieser Theorie das Messproblem gar nicht erst auftritt. Zur Erinnerung: Das Messproblem der Quantenmechanik besteht im Kern darin, Überlagerungen makroskopisch verschiedener Zustände zu interpretieren. Diese treten bei der quantenmechanischen Behandlung der Messung auf ganz natürliche Weise auf, obwohl jede tatsächlich durchgeführte Messung immer ein definiertes Ergebnis hat (also nicht durch eine Überlagerung beschrieben wird).

Um diesen Widerspruch aufzuklären, wurde von John von Neumann eine spezielle Zustandsänderung beim Akt der Messung postuliert, der sog. Kollaps der Wellenfunktion. Dieser stellt aber weniger eine Lösung, als ein Eingeständnis des Messproblems dar. Schließlich bleibt unklar, welche Wechselwirkung den Rang einer Messung hat, und wie dieser Mechanismus physikalisch zu verstehen ist.

In der Bohmschen Mechanik gibt es hingegen einen einfachen Mechanismus, der die Komponente der Wellenfunktion auszeichnet, die dem tatsächlichen Messresultat entspricht: Es ist der Teilchenort, der in einer kontinuierlichen Bewegung einen Zweig der Wellenfunktion erreicht hat. Mit anderen Worten: verschiedene Messresultate sind in der de Broglie-Bohm Theorie durch unterschiedliche Konfigurationen unterschieden.

Nichtlokalität

Da die Wellenfunktion auf dem Konfigurationsraum (mit N der Teilchenanzahl) definiert ist, verknüpft die Führungsgleichung die Bewegung jedes Teilchens mit dem Ort aller anderen zum selben Zeitpunkt. Auf diese Weise können sich auch raumartig entfernte Objekte beeinflussen. Durch diesen Mechanismus erklärt die Bohmsche Mechanik den EPR-Effekt bzw. die Verletzung der Bellschen Ungleichung.

Diese Nichtlokalität verschwindet, wenn der Mehrteilchenzustand nicht verschränkt ist, d.h. in die Anteile der einzelnen Teile faktorisiert.

Determinismus

Die de Broglie-Bohm Theorie beschreibt die Quantenphänomene deterministisch, d.h. alle Zustandsänderungen sind durch die Anfangsbedingungen (Wellenfunktion und Konfiguration) vollkommen festgelegt. Alle Wahrscheinlichkeitsaussagen sind lediglich der Unkenntnis der speziellen Anfangsorte geschuldet.

Im Gegensatz dazu wird in der üblichen Auffassung die prinzipielle Zufälligkeit von Quantenphänomenen behauptet - zum Beispiel beim Akt der Messung.

Es muss jedoch betont werden, dass aufgrund der Quantengleichgewichtshypothese die Unkenntnis über die Anfangsbedingungen in der de Broglie-Bohm Theorie prinzipiell ist und somit der deskriptive Gehalt beider Theorien identisch ist. Vornehm ausgedrückt wird aus der "ontologischen" Unbestimmtheit der Quantenphysik eine "epistemische" Unbestimmtheit in der de Broglie-Bohm Theorie.


Komplementarität überflüssig

Das Konzept der "Komplementarität" wurde eingeführt, um die gemeinsame Verwendung von einander im strikten Sinne widersprechenden Beschreibungsarten in der Quantenmechanik zu rechtfertigen. Zum Bsp. sind nach üblicher Auffassung Wellen- und Teilcheneigenschaften komplementär zueinander. Damit meint man, dass sie sich gegenseitig ergänzen und bei ihrer Verwendung der jeweilige Anwendungsbereich beachtet werden muss.

In der Bohmschen Mechanik sind Wellen- und Teilchencharakter von z.Bsp. Elektronen jedoch eine einfache Folge der Tatsache, dass zu ihrer Beschreibung sowohl eine Teilcheneigenschaft verwendet wird (nämlich der Ort) als auch eine wellenartige Größe (die Wellenfunktion).

Kontextualität

Die de Broglie-Bohm Theorie zeichnet den Ort explizit aus. Alle anderen Größen (Spin, Energie, Impuls etc.) haben lediglich einen abgeleiteten Status. Der Grund dafür ist einfach: Bei der Durchführung eines Experiments zur "Messung" von z.Bsp. der Spinkomponente, wird (wie bei jedem anderen Ereignis) der Ausgang durch die Wellenfunktion und den Anfangsort festgelegt. Es findet also gar keine "Messung" im Wortsinn statt, d.h. es wird keine intrinsische Eigenschaft bestimmt, die auch unabhängig von der Messung besteht. Die etwas unglückliche Sprechweise lautet, dass diese Größen (also etwa der Spin) "kontextualisiert" werden, d.h. der Messwert vom jeweiligen Kontext der Messanordnung und dem Anfangsort abhängt. Konkret können etwa Fälle konstruiert werden, in denen an Systemen, die durch die selbe Wellenfunktion beschrieben werden, durch unterschiedliche Anfangsorte unterschiedliche Spinkomponenten "gemessen" werden. Diese Eigenschaft ist im übrigen der Schlüssel, warum das Kochen-Specker-Theorem die Widerspruchsfreiheit der de Broglie-Bohm Theorie nicht betrifft.

Schulen der de Broglie-Bohm Theorie

Das Quantenpotential

Kritik an der de Broglie-Bohm Theorie

Die de Broglie-Bohm Theorie wird lediglich von einer kleinen Minderheit von Physikern vertreten. Dies liegt allerdings nur zum Teil an expliziter Kritik an dieser Theorie, sondern in erster Linie daran, dass die de Broglie-Bohm Theorie ein Beitrag zur Grundlagendiskussion der Physik ist. An dieser Diskussion nehmen jedoch die meisten, stärker anwendungsbezogenen Wissenschaftler, gar nicht teil.

Die Kritik die an der de Broglie-Bohm Theorie geäußert wird läst sich grob in zwei Klassen unterscheiden. Zum einen gibt es eine Reihe von Einwänden, die als "metatheoretisch klassifiziert" werden können. Etwa kann man der Theorie vorwerfen, dass sie den Ortsraum auszeichnet und dass die Wellenfunktion auf die Teilchenorte wirkt, aber nicht umgekehrt. Zudem kann es als unästhetisch erscheinen, dass die de Broglie-Bohm Theorie die Welt mit "leeren" Wellenfunktionen bevölkert, d.h. jenen Komponenten, die keine Teilchenbahn enthalten und aufgrund von Dekohärenz keinen Einfluss mehr auf die Teilchendynamik haben. Diese Einwände sind natürlich legitim, aber ihr Gewicht hängt vom subjektiven Faktoren ab. Anstatt darin eine Kritik zu sehen, kann man diese Eigenschaften auch als bemerkenswerte Neuerungen der Naturbeschreibung auffassen.

Häufig wird die Nichtlokalität der de Broglie-Bohm Theorie als Einwand ins Treffen geführt. Dieser lässt sich auf zwei Ebenen erwidern. Zum einen gibt es angesichts der Verletzung der Bellschen Ungleichungen zahlreiche Physiker, die ebenso die Nichtlokalität der üblichen Quantenmechanik behaupten. Zumindestens sind die EPR-Korrelationen zwischen raumartig entfernten Objekten ein experimentelles Faktum. Zum anderen ist die de Broglie-Bohm Theorie eine Umformulierung der nicht-relativistischen Quantenmechanik; die Lokalität (zum Bsp. in der Formulierung "keine Signalausbreitung mit Überlichtgeschwindigkeit") aber aus der Relativitätstheorie motiviert.

Der Vorwurf der Nichtlokalität ist also in der Regel mit dem Zweifel verbunden, eine befriedigende relativistische (und quantenfeldtheoretische) Verallgemeinerung der de Broglie-Bohm Theorie angeben zu können. Vor allem die Quantengleichgewichtsbedingung und die Forderung der Lorentzkovarianz scheinen sich zu widersprechen, d.h. in einer "Bohm-artigen" relativistischen Theorie muss ein ausgezeichnetes Bezugssystem eingeführt werden. Allerdings existieren solche "Bohm-artigen" Modelle, in denen dieses ausgezeichnete Bezugssystem ohne experimentellen Effekt ist und alle statistischen Vorhersagen der relativistischen Quantenmechanik reproduziert werden können.

Ebenso existieren verschiedene Ansätze einer "Bohm-artigen" Quantenfeldtheorie. Während einige die "Teilchenontologie" der nicht-relativistischen Formulierung beibehalten, führen andere Felder als verborgene Parameter ein. Die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet wird sicherlich eine große Rolle für die Rezeption der de Broglie-Bohm Theorie spielen.