Jahrgangsgemischte Eingangsstufe
Die jahrgangsgemischte Eingangsstufe ist im deutschsprachigen Raum eine schulische Organisationsform, in der die Klassen eins und zwei als jahrgangsübergreifende Lerngruppe gemeinsam unterrichtet werden. Dabei bestehen diese Klassen aus einer Hälfte Erstklässlerinnen und Erstklässlern und der anderen Hälfte aus Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern [1]. In der Regel besuchen die Schülerinnen und Schüler die Eingangsstufe zwei Jahre. Diese Zeit kann jedoch individuell auf ein Jahr verkürzt oder drei Jahre verlängert werden (Giesecke-Kopp 2006: 21).
Innerhalb der jahrgangsgemischten Eingangsstufen kann, mit Bezug auf die internationale Sicht, zwischen drei Organisationsformen unterschieden werden. Veenman unterscheidet zwischen multi-grade classrooms , multi-age classrooms und den non-graded classrooms. Die erste Organisationsform begründet die Zusammenlegung der Jahrgänge durch organisatorische Gründe. Davon abgegrenzt findet in multi-age classrooms eine Zusammenlegung der Jahrgänge aus pädagogischen Gründen statt. In den non-graded classrooms findet ein altersübergreifender Unterricht statt, wobei die Lerngruppe nach ihren Kompetenzständen zu homogenen Lerngruppen zusammengefasst werden (Kuhl et al. 2013: 300).
In Deutschland kann ein jahrgangsgemischter Unterricht durch demografisch bedingten und/oder pädagogischen bedingten Gründen stattfinden. Die pädagogische Absicht eines jahrgangsgemischten Unterrichts rückt jedoch immer stärker in die Aktualität (Götz & Krenig, 2011, S. 92 f.).
Geschichte der jahrgangsgemischten Eingangsstufe
Seit der Vorstellung einer „Schule für alle“, wie es Comenius im 17. Jahrhundert in seiner Großen Didaktik beschreibt, lag das Bestreben von Schulen darin, Schulklassen zu homogenisieren. Vorher jedoch gab es dieses Bestreben nach einer Homogenisierung nicht, da die Lehrkraft sich in einer bestehenden Lerngruppe immer nur einem Lernenden zuwendete, während alle anderen warteten (Laging 2010: S.7).
Comenius hat eine der wichtigen Schlüsselrollen eingenommen, die zur Einführung der Jahrgangsklassen beigetragen hat. Er strebte an, dass beide Geschlechter gleich stark gebildet wurden und führte eine Vereinheitlichung in der Methode und Organisation der Schulen ein (Laging 2010: S.7). Im 18. Jahrhundert erkannte man erstmals die Problematik des Versetzens in das nächste Schuljahr. In den meisten Fällen beläuft sich das nicht Versetzen auf lediglich 2 oder 3 Fächer, in denen Lernende geringe Leistungen zeigen. Aufgrund der fehlenden Versetzung einiger Schülerinnen und Schüler bildet sich trotz der Jahrgangsklassen eine altersheterogene Lerngruppe. Dieser Problematik wollte August Hermann Francke Anfang des 18. Jahrhunderts entgegenwirken und entwickelte das Fachklassensystem. Jede Schülerin und jeder Schüler konnte je nach Kenntnis im jeweiligen Fach unabhängig zu anderen Fächern in die angemessene Klasse versetzt werden. Die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten konnten damit berücksichtigt werden (Laging 2010: S. 8). Dieses Fachklassensystem konnte sich jedoch nicht durchsetzen und das Jahrgangsklassensystem etablierte sich Anfang des 19. Jahrhunderts. Zuerst folgten nur Gymnasien der Einführung des Jahrgangsklassensystems. Über das 19. Jahrhundert hinweg zogen die Volksschulen nach. Nur kleine Schulen auf dem Land haben aufgrund unterschiedlicher Klassenstärke altersunterschiedliche Jahrgangstufen gemeinsam unterrichtet (Laging 2010: S. 9).
Reformschulen haben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts angefangen die Jahrgangsklassen aufzubrechen und jahrgangsgemischten Unterricht anzubieten. Die Reformpädagogik nach Maria Montessori ist nur ein Beispiel der reformpädagogischen Lernkonzepte, die das jahrgangsübergreifende Lernen beinhaltet (Laging 2010: S.11). Viele Regelschulen ziehen nach und nach hinterher und bieten länderabhängig jahrgangsübergreifenden Unterricht an. Vor allem wird das jahrgangsübergreifende Unterrichten in der Schuleingangsphase (Klasse 1 und 2) eingeführt (Kuhl et al. 2013: S. 307).
Bis zum Jahr 2008 haben alle Länder, bis auf das Saarland, Maßnahmen ergriffen, die das Einführen von jahrgangsübergreifenden Eingangsstufen ermöglichen. 12 der 16 Bundesländer Deutschlands sahen nach Berthold (2008) die Schuleingangsphase unter unterschiedlicher Bezeichnung und mit unterschiedlichem Verpflichtungsgrad vor.
Chancen
Die Einführung der jahrgangsgemischten Eingangsstufe wird durch viele Chancen auf unterschiedlichen Ebenen begründet.
Das jahrgangsübergreifende Unterrichten in der altersgemischten Eingangsstufe soll vor allem das gegenseitige Helfen der Schülerinnen und Schüler untereinander unterstützen. Die neu eingeschulten Kinder haben die Möglichkeit von den älteren Kindern zu lernen, welche Regeln in der Klasse oder in der Schule gelten (Giesecke-Kopp 2006: S. 20). Gruppenneulinge kommen in ein bestehendes Netz an Regeln, Ritualen und Arbeitsweisen, dessen Erlernung durch die älteren Kinder unterstützt wird (Rathgeb-Schnierer & Rechtsteiner-Merz 2010: S. 26 f.). Ebenfalls kann durch das gegenseitige Helfen im Unterricht das bereits erworbene Wissen, welches das eine Kind dem anderen Kind erklärt, gefestigt werden. Laut Hesse (2005: S.25) können Kinder einander häufig die zu lernenden Inhalte verständlicher bzw. zugänglicher machen, da sie zur Erklärung eine kindliche Sprache verwenden und auf die Erläuterungen aus erwachsener Sicht verzichten. Zwischen den zwei Kindern existiert eine geringere Distanz, als zu einer Lehrkraft, weswegen die Hemmschwelle auf z.B. Rückfragen geringer ist (Trube & Hübner 2006: S. 132). Die zugesprochene Verantwortung des erklärenden Kindes kann zusätzlich das Selbstvertrauen und persönliche Kompetenzen stärken (Trube & Hübner 2006: S. 132).
Eine weitere Chance einer jahrgangsgemischten Lerngruppe ist, nach Laging (2010), dass die Kinder verstärkt die Differenz in der Klasse wahrnehmen und lernen, dass Unterschiedlichkeit unteranderer normal sei. Es findet eine dauerhafte Kommunikation zwischen den Älteren und den Jüngeren statt, die ein Umgang miteinander anregt. Dadurch, dass die Kinder die Unterschiedlichkeit wahrnehmen, soll die Konkurrenz und der Leistungsdruck verringert werden (Laging 2010: S. 18 f.). Die Leistungen der Kinder werden nicht an vorgegebenen Klassenzielen gemessen, sondern individuell gewertet. Beschäftigt sich eine verstärkt heterogene Gruppe mit einem Thema ermöglicht es zusätzlich einen Austausch verschiedener Deutungsmuster, Sicht- und Zugangsweisen. So können eigene Sichtweisen durch neue und andersartige erweitert werden (Rathgeb-Schnierer & Rechtsteiner-Merz 2010: S. 23 f.).
Den Schülerinnen und Schülern sollen durch die jahrgangsgemischte Eingangsstufe, welche individuell in 1-3 Jahren absolviert werden kann, und das enge Zusammenarbeiten mit Kindergärten ein fließender Übergang zwischen Kindergarten und Schule geboten werden (Carle 2010: S. 65). Laging betont eine weitere Chance für die jahrgangsgemischte Eingangsstufe. Er spricht davon, dass viele Kinder unter einem hohen Erwartungsdruck von den Eltern, der Schule und sich selbst stünden.[2] Dadurch hätten einige Kinder Versagensängste, die nicht ohne negative Wirkung auf die Identität und schulische Leistungen bleiben würden (Laging 2010: S. 21). Eine mögliche Folge ist das Sitzenbleiben. In der Gesellschaft wird dies häufig mit sozialer Abwertung und negativer Etikettierung verurteilt. Auch die Schülerinnen und Schüler selbst nehmen eine negative Haltung gegenüber der Schule und ihren Leistungen ein. Laut Laging (2010) kann dem, mithilfe der jahrgangsübergreifenden Klassen entgegengesteuert werden. In einer altersgemischten Gruppe (z.B. Klasse 1 und 2) gibt es kein Wiederholen eines Schuljahres, da es auch keine Versetzung in eine neue Klasse gibt. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht zurückgestuft, sondern bleiben lediglich ein Jahr länger in ihrer/seiner alten Lerngruppe, welche sich ohnehin jährlich um die Hälfte der Schülerinnen und Schülern verändert. Eine Versetzung kann nur in eine nächst höhere altersgemischte Lerngruppe erfolgen, wenn dies von Seiten der Lehrkräfte und Eltern als sinnvoll erachtet wird (Laging 2010: S. 21).
Grenzen
Das Konzept einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe beherbergt nicht nur Chancen für das Lehren und Lernen an deutschen Grundschulen, sondern auch Grenzen.
Zum einen bestehen Grenzen auf einer sozialerzieherischen Ebene. Innerhalb einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe gibt es eine höhere Fluktuation als in Jahrgangsklassen. Laut Wagener (2014) kann so eine gemeinsame Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in einer Klasse durch die jährlichen Zu- und Abgänge behindert werden. Dadurch kann eine allgemeine Unruhe innerhalb der Lerngruppe ausgelöst und die Persönlichkeitsbildung verringert werden (Wagener 2014: S. 31).
Die neueingeschulten Kinder stehen unter einer besonderen Herausforderung. Diese müssen nicht nur Beziehungen zu gleichaltrigen, sondern auch zu älteren Schülerinnen und Schüler aufbauen, was durch die schon bestehende Gruppenbeziehung der Älteren erschwert werden kann (Lambrich 1997: S. 53).
Auf der didaktisch-methodischen Ebene zeigen sich ebenfalls einige Grenzen einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe. Viele Lehrkräfte im deutschen Raum sind noch kaum zu dem Themenkomplex jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen fortgebildet (Kuhl et al. 2013: S. 321). Durch die geringe Erfahrung, geringe Fortbildung und erhöhte Differenzierung der Unterrichtsinhalte kann eine höhere Arbeitsbelastung und Überforderung seitens der Lehrkräfte entstehen (Wagener 2014: S. 32).
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die potenzielle Überforderung seitens der Schülerinnen und Schüler. In altersgemischten Klassen werden häufig Lernlandschaften dargeboten, welche frei zugängliche Materialien haben, Themenecken mit unterschiedlichen Lernanforderungen, individuell bearbeitbare Wochen- oder Projektpläne usw.. Diese Gestaltung lässt den Schülerinnen und Schüler die Freiheit sich eigenständig mit Themen und Problemstellungen auseinanderzusetzen (Laging 2010: S. 23). Hinz und Sommerfeld sehen in der Hinsicht ein Problem damit, dass noch nicht alle Schülerinnen und Schüler damit angemessen umgehen können. Kinder, welche zum Lernen eine feste Unterrichtstruktur benötigen, können mit der gegebenen Freiheit in einem jahrgangsgemischten Unterricht überfordert werden (Hinz & Sommerfeld 2004: S. 181).
Zusätzlich führen Hinz und Sommerfeld (2014) den Kritikpunkt hinzu, dass es an vielen deutschen (Grund-) Schulen an finanziellen Mitteln fehle, um angemessene Lernmaterialien bereitzustellen. Ebenfalls fehle es häufig an Räumlichkeiten, um eine Lernumgebung für Jahrgangsmischung angemessen gestalten zu können (Hinz & Sommerfeld 2004: S. 181).
Zusammenfassung
Die vorangegangenen Punkte zeigen, dass die Grenzen einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe vor allen Dingen auf die schulischen Rahmenbedingungen Bezug nehmen. Viele Lehrkräfte seien noch nicht ausreichend in dem jahrgangsübergreifenden Themenkomplex fortgebildet und hätten somit eine erhöhte Anforderung allen Schülerinnen und Schüler in der jahrgangsgemischten Lerngruppe gerecht zu werden. Zusätzlich würden Gelder an Schulen fehlen, die das angemessene Gestalten einer jahrgangsgemischten Lernumgebung ermöglichen.
Die Chancen liegen, wie die vorangegangenen Punkte zeigen, tendenziell auf der pädagogischen Begründung. Die Schülerinnen und Schüler könnten von dem gegenseitigen Helfen unter Mitschülerinnen und Mitschülern profitieren und ihre sozialen Kompetenzen und ihr Selbstvertrauen stärken. Zusätzlich würden die Schülerinnen und Schüler die Vielfalt innerhalb einer Klasse verstärkt wahrnehmen und lernen, dass Differenzen innerhalb einer Gruppe normal sind.
Einzelnachweise
- ↑ Die Eingangsstufe Niedersächsisches Kultusministerium. Abgerufen am 5.September 2018.
- ↑ Laging, R.: Altersmischung – eine pädagogische Chance zur Reform der Schule. In: Laging, R. (Hrsg.) (2010): Altersgemischtes Lernen in der Schule. Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2010, S. 6-29.
Literatur
- Berthold, B.: Einschulungsregelung und flexible Eingangsstufe. Recherche für den Nationalen Biludngsbericht 2008 im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. Stand: Februar 2008. Schneider, Universität Bremen 2008.
- Carle, U.: Curriculare und strukturelle Entwicklung in Deutschland In: Leuchter, M. (Hrsg.): Didaktik für die erste Bildungsjahre - Unterricht mit 4- bis 8-jährigen Kindern. Kallmeyer in Verbindung mit Klett, Seelze 2010, S. 58-70.
- Giesecke-Kopp, T.: Reformen des Schulanfangs. In: Kastirke, N. & Jennessen, S. (Hrsg.): Die neue Schuleingangsphase als Thema der Schulentwicklung. Forschung - Stolpersteine – Praxisempfehlungen. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2006, S. 9-31.
- Götz, M. & Krenig, K.: Jahrgangsmischungen in der Grundschule. In: W. Einsiedler, M. Götz, A. Hartinger, F. Heinzel, J. Kahlert & U. Sandfuchs (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2011, S. 92-98.
- Hesse, G.: Chancen nutzen. In: Christiani, R. (Hrsg.): Jahrgangsübergreifend unterrichten. Ziele, Erfahrungen. Organisieren, informieren, Differenzieren, Beurteilen. Cornelsen Scriptor, Berlin 2005, S. 22-27.
- Hinz, R. & Sommerfeld, D.: Jahrgangsübergreifende Klassen. In: Christiani, R. (Hrsg.): Schuleingangsphase: neu gestalten. Cornelsen Scriptor, Berlin 2004, S. 165-186.
- Kuhl, P., Felbrich, A., Richter, D., Stanat, P. & Pant, H. A.: Die Jahrgangsmischung auf dem Prüfstand: Effekte des jahrgangsübergreifenden Lernens auf Kompetenzen und sozio-emotionales Wohlbefinden von Grundschülerinnen und Grundschülern. In: Becker, R. & Schulze, A. (Hrsg.): Bildungskontexte. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2013, S. 299-324.
- Laging, R.: Altersmischung – eine pädagogische Chance zur Reform der Schule. In: Laging, R. (Hrsg.) (2010): Altersgemischtes Lernen in der Schule. Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2010, S. 6-29.
- Lambrich, H.-J.: Den Schulanfang neugestalten. Die kindgerechte, flexible Schuleingangsphase (FLEX) in Brandenburg. In: Die Grundschulzeitschrift. Band 11, Nr. 104, 1997, S. 22 und 51–53.
- Niedersächsisches Kultusministerium.: Die Eingangsstufe. Online: https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/schule/unsere_schulen/allgemein_bildende_schulen/grundschule/eingangsstufe/die-eingangsstufe-6230.html 2017 (zuletzt abgerufen: 05.01.2017).
- Rathgeb-Schnierer, E. und Rechtsteiner-Merz, C.: Mathematiklernen in der jahrgangsübergreifenden Eingangsstufe: gemeinsam, aber nicht im Gleichschritt. Oldenbourg, München 2010.
- Trube, S. & Hübner, J.: Helfen Lernen. In: Kastirke, N. & Jennessen, S. (Hrsg.): Die neue Schuleingangsphase als Thema der Schulentwicklung. Forschung - Stolpersteine – Praxisempfehlungen. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2006, S. 125-152.
- Wagener, M.: Gegenseitiges Helfen - soziales Lernen im jahrgangsgemischten Unterricht. Springer VS., Wiesbaden 2014.