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Anspruch auf Strafverfolgung Dritter

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Der Anspruch auf Strafverfolgung Dritter ist ein Begriff aus dem deutschen Strafprozessrecht. Er beschreibt einen individuellen einklagbaren Anspruch einer Person auf die Verfolgung einer Straftat eines Dritten durch den Staat.[1] Ein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter besteht in Deutschland grundsätzlich nicht. In besonderen Fällen gewährt die Rechtsprechung jedoch Ausnahmen.[2]

Grundsatz und Ausnahme

Grundsatz

Im deutschen Strafprozessrecht besteht grundsätzlich kein Anspruch des Verletzten einer Straftat auf die Verfolgung der Tat durch den Staat.[3][4] Dies bedeutet, dass der Verletzte nicht das Recht hat, von den Strafverfolgungsbehörden die Ermittlung der Person des Täters, der Tatumstände und Tatfolgen, die Anklage durch die Staatsanwaltschaft und Verurteilung durch ein staatliches Gericht zu verlangen und dieses Recht gegebenenfalls vor Gericht einzuklagen. Dieser Grundsatz ergibt sich aus dem Strafmonopol des Staates: Straftaten sollen nicht von Bürgern aus eigenem Interesse (Selbstjustiz), sondern vom Staat im Interesse der Gesellschaft verfolgt werden.

Reflexrecht

Gleichwohl kennt das deutsche Strafprozessrecht die Institute des Ermittlungserzwingungsverfahrens und des Klageerzwingungsverfahrens. Danach kann der Verletzte einer Straftat unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich wenn die Staatsanwaltschaft das Bestehen eines Anfangsverdachts beziehungsweise eines hinreichenden Tatverdachts zu Unrecht verneint, durch einen Antrag an das Gericht die Anordnung der Ermittlungen beziehungsweise die Erhebung der öffentlichen Klage erreichen.

Durch diese Verfahren kann der Verletzte erreichen, dass die Straftat vom Staat verfolgt wird. Gleichwohl dienen Ermittlungs- und Klageerzwingungsverfahren nicht dem Schutz der Rechte des Verletzten, sondern der effektiven Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden durch das Gericht. Daraus folgert die Rechtswissenschaft, dass ein bloßes Reflexrecht des Verletzten und kein echtes Recht auf Strafverfolgung besteht.

Ausnahme

Der oben dargestellte Grundsatz scheitert in Fällen, in denen die Tat von einem Vertreter des Staates, also von einem Amtsträger begangen wird: Hier kann der Eindruck entstehen, dass der Staat sein Strafverfolgungsmonopol nicht zum Wohle des gesellschaftlichen Friedens einsetzt, um den im Verhältnis zwischen zwei Bürgern gebrochenen Rechtsfrieden wieder herzustellen, weil er selbst „Partei“ ist.

Um auf diese Weise das zum Erhalt des Strafmonopols des Staates erforderliche Vertrauen der Gesellschaft in die effektive Strafverfolgung durch den Staat aufrechtzuerhalten, muss diese bei von Amtsträgern begangenen Straftaten durch ein echtes Recht auf Strafverfolgung einer besonderen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.[5] Das Bundesverfassungsgericht stellte 2015 fest:[6]

„Vor diesem Hintergrund besteht ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimm­ung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicher­heit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe verlangt werden“

Voraussetzungen und Inhalt des Anspruchs

Die Rechtsprechung postuliert drei Fallgruppen, in denen ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung bestehen kann:[6]

  • Erhebliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person,
  • Delikte von Amtsträgern (ein Amtsträger wird verdächtigt, in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes eine Straftat begangen zu haben),
  • Straftaten, bei denen sich die Opfer in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden.

Die Anspruchsgrundlage findet sich daher in den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit der Grundrechtsbindung des Staates, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG.

Der Inhalt des Anspruch auf Strafverfolgung Dritter besteht in einer effektiven staatlichen Strafverfolgung dergestalt, dass Staatsanwaltschaft und Polizei von den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Befugnissen Gebrauch machen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern. Es muss jedoch nicht zwangsläufig Anklage erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus:[5]

„Die (verfassungs­rechtliche) Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungs­organe. Ihr Ziel muss es sein, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimm­ung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss insoweit gewährleistet werden, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden.

Dies bedeutet nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwalt­schaft als Herrin des Ermittlungs­verfahrens und – nach ihrer Weisung – die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sächlicher Art sowie ihre Befugnisse auch tatsächlich nach Maßgabe eines angemessenen Ressourcen­einsatzes nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern.

Die Erfüllung der Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (§§ 172 ff. StPO) und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungs­verlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung der Einstellungs­entscheidungen.“

Der Anspruch wird im Wege des Ermittlungs- oder Klageerzwingungsverfahrens durchgesetzt. In der Praxis wird der Anspruch relevant, wenn offensichtliche Ermittlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden.[5] Dann kann der Verletzte der Tat ein gescheitertes Klageerzwingungsverfahren einer Nachkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterziehen.[7]

Umstritten ist, in welcher Phase des Strafverfahrens der Anspruch auf Strafverfolgung Dritter geltend gemacht werden kann. Die Rechtsprechung verneint einen Anspruch des Verletzten bereits im Ermittlungsverfahren[8] und verschiebt den Anspruch zeitlich auf das Klageerzwingungsverfahren oder Ermittlungserzwingungsverfahren.[9]

Entwicklung

Entwicklung durch die Rechtsprechung

Der Anspruch auf Strafverfolgung Dritter geht zurück auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Jahr 1999.[10] Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, insbesondere wenn sich der Verdacht gegen Repräsentanten des Staates richtet.[5]

In der Tennessee-Eisenberg-Entscheidung[11][12] ging das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal von einem Anspruch auf Strafverfolgung Dritter aus.[8][13] Im konkreten Fall, der sich auf die fahrlässige Tötung eines Schülers durch einen Polizeibeamten bezog, war die Staatsanwaltschaft diesem Anspruch durch Einleitung des Ermittlungsverfahrens und die Aufklärung des Sachverhalts nach Ansicht des Gerichts gerecht geworden. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren wegen Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Der auf Erzwingung der Anklage gerichtete Antrag war zu Recht abgelehnt worden. Das Bundesverfassungsgericht gewährte hier zum ersten Mal das Recht zur Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts; mangels Rechtsverletzung wurde sie jedoch zurückgewiesen.[9]

In drei weiteren Kammerentscheidungen („Gorch Fock“ oder „Jenny Böken“,[14][15][16] „Lokalderby“[17] und „Luftangriff bei Kundus[18][19][20]) befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Anspruch auf Strafverfolgung Dritter in der Konstellation der Tat durch einen der Amtsträger.[13] In jedem Fall wurde die Verfassungsbeschwerde jedoch zurückgewiesen, weil die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren durchgeführt und den Sachverhalt ausreichend aufgeklärt habe.[9][21]

Entwicklung durch die Wissenschaft

Die Rechtswissenschaft begleitete die Entwicklung des Anspruchs durch die Rechtsprechung, indem sie effektivere Rechte für die Verletzten einer Straftat bei gleichzeitiger Stärkung des Vertrauens in die staatliche Strafverfolgung forderte.[22] In diesem Zusammenhang wird, neben der verfassungsrechtlichen Grundlage, insbesondere auf Art. 2 EMRK als Rechtsgrundlage hingewiesen.[23]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Johannes Wessels/Werner Beulke/Helmut Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 47. Auflage 2017, Rn. 10 mit Hinweis auf die vier Entscheidungen des BVerfG aus den Jahren 2014 und 2015
  2. Werner Beulke, Strafprozessrecht, 13. Auflage 2016, Rn. 17
  3. BVerfGE 51, 176, 187.
  4. BVerfG NJW 2002, 2861 (Volltext online).
  5. a b c d „Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Durchführung eines Strafverfahrens“, NJW-Spezial 2015, 57.
  6. a b BVerfG NStZ-RR 2015, 117 (Volltext online).
  7. Michael Sachs:Grundrechte: Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung des Täters. JuS 2015, 376–378.
  8. a b Beschluss des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 18. Mai 2016 mit dem Az. VerfGH 63/14 (online).
  9. a b c Alexander Würdinger, Die Zeitenwende im Klageerzwingungsverfahren, HRRS 2016, 29.
  10. EGMR, Urteil vom 20. Mai 1999, Az. 21554/93, NJW 2001, 1991 (Leitsätze online).
  11. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2014, Az. 2 BvR 2699/10 – Tennessee Eisenberg (Volltext online).
  12. Klageerzwingungsverfahren bei tödlichem Schusswaffeneinsatz durch die Polizei
  13. a b Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 60. Auflage 2017, Rn. 1a zu § 172 StPO: "Verfassungsrechtlicher Rechtsanspruch des Verletzten auf wirksame Strafverfolgung gegen Dritte"
  14. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2014, Az. 2 BvR 1568/12, NJW 2015, 150 – Gorch Forck (Volltext online).
  15. Zur Gorch Fock-Entscheidung auch Karl Kröpil, Anspruch auf Strafverfolgung, JURA 2015, 1282
  16. Rechtslupe: Der Anspruch auf ein Strafverfahren.
  17. BVerfG, Beschluss vom 23. März 2015, Az. 2 BvR 1304/12 – Lokalderby (Volltext online).
  18. BVerfG NJW 2015, 3500 – Kunduz (Volltext online).
  19. OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.12.2016, 4 Ws 284/16, Rn. 12 (online).
  20. Zur Kundus-Entscheidung auch Christoph Safferling, Anspruch auf effektive Strafverfolgung Dritter, Kammerbeschluss des BVerfG vom 19.05.2015 – 2 BvR 987/11 (online).
  21. Beschluss des OLG Bremen vom 18. August 2017, Az. 1 Ws 174/16, S. 5–7 (online, keine Strafverfahren gegen Ärzte des Klinikums nach Suizid einer Patientin).
  22. Heinz Schöch: Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. NStZ 1984, 385, 389.
  23. Karl Haller, Karl Conzen, Das Strafverfahren, 6. Auflage 2011, Rn. 158