Extremismus der Mitte
Die Begriff Extremismus der Mitte wurde von dem Soziologen Seymour Martin Lipset Ende der 1950er Jahre in der Soziologie eingeführt. Damit fasste er die Analyse Theodor Geigers zusammen, der den Wahlerfolg der NSDAP 1928 aus der Krisenreaktion des Mittelstandes erklärte. In den 1990ern griffen der Soziologe Wilhelm Heitmeyer und später der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse diesen Begriff wieder auf und eröffneten eine Debatte darüber, in wieweit Rechtsextremismus „aus der Mitte der Gesellschaft“ komme und sich nicht nur auf sozialschwache und ungebildete „Glatzen in Springerstiefeln“ beziehe.
Allgemein
Der Soziologe Siegfried Jäger spricht von dem Begriff „Extremismus der Mitte“ als eine „symbolische Formulierung“, sie „mag nicht gefallen, sei es wegen der Unterstellung, dass die Politiker der Mitte rechte Ideologien widerspiegeln, sei es wegen der Behauptung, dass die Politik der Mitte die Rechtsentwicklung mitverantwortet. Die „Mitte“, so möchte es die vermeintliche Mitte, bedeutet „Normalität“, so egal wie menschenverachtend sie sind.“
Heute wird in der Soziologie vor dem Hintergrund der auffallenden Übereinstimmung markanter Positionen zu Themen wie der Asyl- und Einwanderungspolitik eine Wechselbeziehung zwischen der politischen Mitte und dem rechten Rand des Parteienspektrums untersucht.
So wird beispielsweise die Asyldebatte der frühen 90er Jahre hinsichtlich antidemokratischer und rassistischer Ideologeme untersucht, in der auch bürgerliche Parteien und „Mainstream-Medien“ sich angstbesetzter Metaphern bedienten, um sich gegen eine „unkontrollierte“ Zuwanderung mit entsprechend konnotierten Begriffen wie „Das Boot ist voll“ oder „Asylantenflut“ auszusprachen. Auch bezüglich des Skandals um die von weiten Teilen der Presse als antisemitisch empfundene Rede Martin Hohmanns, der Paulskrichenrede Martin Walsers, dem als antisemitisch bezeichneten Wahlkampf Jürgen Möllemanns wurde in der Soziologie unter dem Aspekt „Extremismus der Mitte“ untersucht. Gegenstand der Betrachtung waren auch offen rechts stehende Politiker wie Ronald Schill. Der ehemalige Hamburger Innensenator hatte den Einsatz von Betäubungsgas bei der Polizei gefordert, fiel durch Null-Toleranz-Politik und übertriebene Polizeieinsätze gegen politische Demonstrationen auf. Er nutzte schließlich eine Debatte im Bundestag als Podium seiner eigenen, von vielen als extremistisch empfundenen, Anklagen gegen die Politik in Deutschland. Schill wurde vom Ersten Bürgermeister Ole von Beust entlassen, offenbar weil er von Beust angedroht hatte, dessen Homosexualität publik zu machen. Zahlreiche seiner Wähler (seine Partei PRO erhielt 19,4% der Stimmen) stammten aus der Mitte der Gesellschaft.
Unter Totalitarismustheoretikern, die den Begriff des Extremismus prägen, geht Wolfgang Kraushaar inhaltlich auf diesen Begriff ein und führt die Analyse Theodor Geigers weiter und differenzierter aus, während Eckhard Jesse die in der Soziologie mit diesem Begriff angesprochenen Phänomene nicht in seine Theorie der extremen Pole zu erklären vermag.
Der englische Faschismusforscher Roger Griffin sieht in der Überschneidung des Extremismus der Mitte mit dem Neoliberalismus in politischer und sozialer Hinsicht eine weit größere Gefahr, als in dem Rechtsextremismus. Dabei kommt er zu dem Schluss: "Die Menschen der westlichen Welt tun nur wenig, um ihre Regierungen zu zwingen, in den Teilen der Welt, die nicht von strategischem Wert sind, zu intervenieren, wenn diese in Chaos und Bürgerkrieg versinken. Derweil wächst die Todesrate unter den Millionen unschuldigen Opfern der gegenwärtigen Weltordnung ständig und nimmt astronomische Ausmaße an."
Einschätzungen aus der Mitte
Politiker wie beispielsweise Friedbert Pflüger, Heiner Geißler und Ignatz Bubis wiesen in den 1990er-Jahren darauf hin, dass eine durchgreifende Rechtsentwicklung nicht mehr allein am rechten Rand auszumachen sei, sondern ihren Antriebskraft aus der Mitte der Gesellschaft erhalte.
Friedbert Pflüger macht darauf aufmerksam, dass bereits ein gut etabliertes “schwarz-braunes Netzwerk” existiere, dessen Wortführer die Ideen jener Konservativen Revolution der 20er Jahre propagierten, die damals das “Dritte Reich” vorbereitet hätten. Friedbert Pflüger: “Wird jetzt die rechte Tyrannei abgelegt, eingeordnet und bagatellisiert, die linke dagegen dämonisiert – so werden rechtsradikale und Konservative Revolutionäre salonfähig. Dann beanspruchen sie ihren Platz im demokratischen Verfassungsspektrum, dann verschiebt sich die Mitte nach rechts. Die Maßstäbe verschwimmen, und Deutschland driftet.” (Pflüger 1994, 86) Bubis gab 1995 zu bedenken, es gebe “sogenannte Konservative”, “die sich selbst als konservativ sehen, aber in Wirklichkeit schon rechtsradikales Gedankengut verbreiten.”
(vgl. Margret Jäger / Siegfried Jäger: Die Restauration rechten Denkens [1])
Reaktion auf die Debatte von rechts
Die rechtsextreme Presse untermauert regelmäßig ihre Thesen mit Beispielen aus der bürgerlichen Presse als Bestätigung ihrer Theorien. Bei strategischen Überlegungen, ob man z.B. moderater die eigenen Inhalte formulieren sollte, befürchtet man, dass von Konservativen die eigenen Themen übernommen werden. So reagierte die rechtsextreme Strategiezeitung NATION UND EUROPA / DEUTSCHE MONATSHEFTE auf die Ankündigung Manfred Kanthers den Wahlkampf mit dem Thema „Ausländerkriminalität“ führen zu wollen: “Aus Angst vor gegnerischen Angriffen die eigenen Themen abzuschwächen oder gar zurückzunehmen”, sei falsch. “Wo dies geschieht, besetzt ohne Skrupel die Union das freigewordene Feld.” (NATION UND EUROPA / DEUTSCHE MONATSHEFTE, Januar 1997, 14)
In ihrer Strategie der Umdeutung der Begriffe für den eigenen rechten Diskurs benutzen politisch konservative und rechtsextreme Gruppen, maßgeblich die Junge Freiheit, den „Extremismus der Mitte“ für sich.
Stigmatisierende Begriffe in dieser Richtung lauten „Vergangenheitsobsession“, „nationaler Schuldkult“, „Gutmenschen-Diktatur“, „Maulkorb für unbequeme Ansichten“, "PK-Terror" etc. Beim Mitte-Extremismus-Vorwurf von rechts wurde z.B auch die Affäre Hohmann thematisiert, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen: Nicht die Rede galt als extremistisch, sondern der Parteiausschluß Hohmanns und die Entlassung Reinhard Günzels seien Ausweis einer sogenannten "linken Gesinnungsdiktatur".
Literatur
- Christoph Butterwegge u. a.: Themen der Rechten. Themen der Mitte. Zuwanderung, demographischer Wandel und Nationalbewusstsein. Verlag Leske und Budrich, Opladen 2002 Rezension
- Hans-Martin Lohmann (Hrsg.), Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation, Frankfurt/Main 1994
- Radikalisierung der Mitte - Auf dem Weg zur Berliner Republik, in: Richard Faber / Hajo Funke / Gerhard Schoenberner (Hg.), Rechtsextremismus - Ideologie und Gewalt, Berlin 1995
- Uwe Backes/Eckhard Jesse, Extremismus der Mitte? – Kritik an einem modischen Schlagwort, in: dies., Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 157-169, ISBN 3832909974. Grundlegende Kritik am Begriff vom Extremismus der Mitte von den Begründern der Pol-Theorie-Variante der Extremismusforschung
- Steffen Kailitz: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 24, Wiesbaden 2004, ISBN 3531141937.
- Siegfried Jäger: Über das Eindringen von Ideologemen des völkischen Nationalismus in den öffentlichen Diskurs. In: Siegfried Jäger, Dirk Krüger, Frank Wichert: Der Spuk ist nicht vorbei. Duisburg 1998.
- Roger Griffin: Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus: Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster, 2005. ISBN 3-89771-737-9
- Friedbert Pflüger (1994): Deutschland driftet - und zwar nach rechts!