Zum Inhalt springen

Verlaufsform

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 16. Juni 2006 um 13:12 Uhr durch IngaGottschalk (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Die Verlaufsform oder der Kontinuativ ist eine syntaktische Konstruktion in manchen Sprachen, die eine augenblicklich stattfindende, nicht-punktuelle Handlung ausdrückt.

Im Englischen wird die Verlaufsform Continuous oder Progressive Aspect genannt. Dort steht dieser Aspekt als "unvollendet" im Gegensatz zum "vollendeten" Perfect aspect. Gebildet wird diese Form mit dem Auxiliar be in Verbindung mit einem Partizip (englisch: participle), zum Beispiel he is reading (er liest gerade). Eine ähnliche Bildung findet man auch im Baskischen und im Bretonischen.

In der deutschen Standardsprache gibt es keine Verlaufsform, jedoch existiert in manchen Mundarten eine Verlaufsform, zum Beispiel die sog. Rheinische Verlaufsform mit sein in Verbindung mit am und einem substantivierten Infinitiv, zum Beispiel er ist am Lesen. Im Südbairischen kann das Auxiliar tun mit einem Infinitiv die Verlaufsform ausdrücken (er tut lesen).

Im Italienischen wird die Verlaufsform mit dem Auxiliar "stare" in Verbindung mit dem Gerundium verwendet: "L'uoma sta correndo" (Der Mann rennt gerade). Allmähliche Entwicklungen oder ständige Wiederholungen eines Vorgangs hingegen werden mit dem Gerundium + andare ausgedrückt: "Andava dicendo sciocchezze." (Er sagte ständig dummes Zeug); Handlungen in ihrem Verlauf mit Gerundium + venire: "Mi vengo sempre più persuadendo che..." (Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass...).

In den Slawischen Sprachen wird der Verlauf einer Handlung durch Verwendung des unvollendeten Aspekts ausgedrückt.

---

Eine große Vielfalt unterschiedlicher Verlaufsformen bieten die balto-slawischen sowie die antiken Partizipien.

So sind z.B. von den sieben lettischen Partizipformen ganze vier zum Ausdrücken unvollendeter Handlungen vorgesehen: im Grunde sind es vier unterschiedliche Verlaufsformen, auch wenn sie klassisch in der lettischen Philologie anhand anderer Merkmale benannt werden.

In vielfältigen Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsformen schildern sie die diversesten Beziehungen zwischen vollendeten und unvollendeten Tätigkeiten sowie ihren Subjekten und Objekten. Dies ermöglicht sehr lakonische, prägnante Formulierungen komplexer satzinterner Beziehungen, was z.T. nur sehr bedingt übersetzbar ist: man muss entweder inhaltliche Einbüßen oder umständlichere Formulierungen in Kauf nehmen.

Folgende Beispiele aus den lettischen Dainas veranschaulichen diese grammatischen Möglichkeiten:

"Dziedādama druvā gāju" - singenderweise ging ich, weiblich, zum Kornfeld. Mit dem Suffix -dam- wurde in diesem Daina ein sog. "teildeklinierbares Partizip" gebaut, das eine unvollendete Tätigkeit ausdrückt und sie an eine andere vollendete oder unvollendete Tätigkeit bindet, zudem mithilfe der Flexion (Endung) auch die Zahl und das Geschlecht des Subjektes dieser beiden Handlungen ausdrückt.

"Dziedot dzimu, dziedot augu, dziedot mūžu nodzīvoju" - singenderweise kam ich nieder, singenderweise wuchs ich auf, singenderweise verlebte ich mein Leben. Mit dem Suffix -ot wurde hier das "undeklinierbare Partizip" gebaut, das ebenfalls eine unvollendete Tätigkeit ausdrückt und sie an eine andere vollendete oder unvollendete Tätigkeit bindet. Es besitzt jedoch keine Flexion und sagt daher nichts über die Zahl und das Geschlecht des Subjektes beider Handlungen aus.

--- Im Litauischen werden spezielle (progressive) Partizipien verwendet, zum Beispiel jis buvo bemiegąs (er schlief gerade, vgl. die finite Form jis miega/miegojo er schläft/schlief bzw. jis yra/buvo miegojęs er hat/hatte geschlafen), im Präsens ist diese Konstruktion jedoch mundartnah: aš esu beskaitąs (ich lese gerade; wörtlich ich bin ein Lesender).