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Prager Tagblatt

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Allgemeines

Das Prager Tagblatt erschien in den Jahren 18761939. Es war die größte liberal-demokratische deutschsprachige Tageszeitung Böhmens. Sie galt zu ihrer Zeit als eine der besten deutschsprachigen Tageszeitungen. Erschien mehrmals täglich, montags einmal; ab Ende des Krieges 1918 nur noch einmal täglich und Montags nicht. Als heutige Nachfolgerin sieht sich die Prager Zeitung.

Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg waren eine Zeitlang Mitarbeiter bei dieser Zeitung, Torberg widmet dem Blatt auch ein Kapitel seines Buchs "Die Tante Jolesch". Weitere berühmte Mitarbeiter waren Alfred Polgar, Roda Roda und Max Brod, der später den Roman "Rebellische Herzen" über seine Zeit beim Tagblatt schrieb. Joseph Roth und Sandor Marai etablierten sich hier als junge, talentvolle Journalisten.

Aus heutiger Sicht besticht die Zeitung immer noch vor allem noch durch ihren sicheren Instinkt, Feuilleton-Talente betreffend. Unter dem jüdischen Theaterkritiker Heinrich Teweles als Chefredakteur etablierte sich das Tageblatt seit der Jahrhundertwende bald zu einer Mischung aus gut arrangierten deutschsprachigen Feuilleton-Digest und eigenständiger Essay-Spitzenzeitung.

Im Krieg stimmte das Blatt zwar in den Tenor der übrigen deutsch-österreichischen Kriegshetze mit ein, fiel aber häufig mit kritischen Bemerkungen der Zensur zum Opfer und bemühte sich, auf das Leiden der Zivilbevölkerung "feindlicher" Länder aufmerksam zu machen. Der Feuilletonistische Anteil ging zwar zurück, blieb aber hochwertig (Artikel z.b. von Anton Kuh und Berthold Viertel.)

Einen absoluten Höhepunkt erreichte die Qualität zwischen den beiden Weltkriegen. Kaum eine Nummer der 20er und 30er Jahre erschien ohne mindestens ein glänzendes Feuilleton. Wer nicht direkt fürs Blatt gewonnen werden konnte, wurde nachgedruckt, besonders gern Größen wie Kurt Tucholsky oder Robert Walser.

Legendär war die Sonntags-Ausgabe, die den besten und talentiertesten Feuilletonisten vorbehalten war und auch eine zwei- bis dreiseitige "Unterhaltungsbeilage" brachte, in der fiktionale Prosa, Mode- und Buchbesprechungen ihren Platz hatten. Ab Mitte der 20er Jahre gaben in der Beilage verstärkt Frauen den Ton an, unter anderem die junge Dinah Nelken.

Ab 1933 wurde das Blatt (als eins der wenigen nicht unmittelbar vom Nationalsozialismus bedrohten deutschsprachigen Zeitungen von Weltformat) ein Asyl für emigrierte oder verfolgte deutsche Schriftsteller. Berühmte Autoren wie Gabriele Tergit und Ossip Kalenter schrieben nun verstärkt für diese Zeitung.

Gerühmt wurde von den Zeitgenossen auch die Musikkritik des Prager Tagblattes, von vielen Literaturexperten wurde sie qualitativ mit den Theaterkritiken der Weltbühne verglichen.

Feuilletonistische Rubriken/Wochentag

  • Linke Spalte der Seite eins Kommentar zu tagespolitischen Ereignissen
  • Unter dem Strich der Seite drei Das Haupt-Feuilleton, meist geschrieben von einem Autor hohen Rangs oder einem Stamm-Autor des Blattes; Tages-Bezug war hier nicht die Regel. Oft faßte man hier auch mehrere Feuilletons zusammen; der Text lief auf Seite 4 unterm Strich weiter.
  • Vom Tage Zunächst in Monarchie-Zeiten eher sachnliche Replik, dann immer mehr feuilletonistischer Charakter. Hier war Platz für die Glosse oder eine witzige Replik einer ähnlich gesinnten Zeitschrift, wie dem Berliner Tageblatt, der Weltbühne oder dem Tage-Buch.
  • Gerichtszeitung Hier berichtete das Blatt, wie damals üblich, über die Prager Skandale im Gerichtssaal. Hauptberichterstatter war ein Autor, der mit "-ei" zeichnete. Seltener wurde über Prozesse in Berlin oder Wien berichtet; die internationalen Schauprozesse tauchten hier nicht auf und wurden gesondert besprochen ("Affen-Prozeß" in Amerika 1925, Stalins Schau-Prozesse etc.)
  • Bühne und Kunst Neben vermischten Nachrichten aus der Theaterwelt fand sich hier die aktuelle Theater-, Oper- oder Konzertkritik. Hauptrezensenten für Prag waren u.a. Heinrich Teweles und später Ernst Rychnowsky (Zeichnet meist mit E.R.) Fritz Lehmann referierte hier über Architektur. Höhepunkte der Rubrik waren zweifellos die regelmäßigen Theaterkritiken von Alfred Polgar (manchmal auch nur mit a.p. gezeichnet) Berichte aus Berlin und Wien waren hier nicht selten.
  • Kleine Zeitung Eine Rubrik für alles mögliche, vermutlich die Ausweichstelle für schwer Einzuordnendes. Hier fanden sich Artikel, die genausogut in andere Rubriken gepaßt hätten.
  • Fortsetzungsroman Befand sich meist auf der vorletzten Seite. Etwa 6 Romane brachte die Zeitung pro Jahr, die Auswahl war recht bizarr und setzt sich eigenartig vom sonst so außergewöhnlich guten Geschmack der Redaktion ab. Trotzdem tauchen neben längst vergessenen Romanen auch hin und wieder Meisterwerke, etwa von Jerome K. Jerome und Max Brod auf.

Feuilletonistische Rubriken/Sonntagsausgabe

Obige Rubriken gab es auch am Sonntag, doch bemühte man sich, einige Feuilletons mehr als in der Woche ohne spezielle Rubrizierung in der Zeitung verstreut unterzubringen. Hinzu kamen

  • Onkel Franz/Onkel Max Die Kinderbeilage mit Geschichten und Gedichten für Kinder. Hier veröffentlichten selten große Autoren. Ausnahmen gab es natürlich, z.b. Geschichten von Else Ury u. einige Texte von Erich Kästner im Nachdruck.

Ab Anfang 1919 gab es dann eine weitere sogenannte Unterhaltungsbeilage mit folgenden Inhalten:

  • Belletristik der Unterhaltungsbeilage Zwei Zeitungsseiten galten ausschließlich der erzählenden Prosa und dem Gedicht. Hier wurde auf Internationalismus Wert gelegt, oft findet sich neben dem Autor in Klammern seine Herkunftsstadt. Französische und russische Autoren wurden besonders gern gedruckt, aber auch die schreibenden Frauen Berlins.
  • Der Büchertisch Literaturkritiken, meist verfaßt von rennomierten Autoren.
  • Aus der Welt des Films Rubrik der frühen zwanziger Jahre, später verdrängt durch eine eigenständige Film-Beilage. Filmkritiken und Schauspielerklatsch, selten von großen Journalisten, Artikel sind meist nur mit Kürzeln gezeichnet
  • Mode-Artikel Zwei bis drei Berichte und Reflektionen zur Mode der Zeit, fast immer mit Zeichnungen, Verfasserin des Hauptartikels war meist Claire Patek, eine stilistisch schwache, aber in Modefragen äußerst versierte Wiener Journalsitin.

Die Literarisierung des Prager Tagblatts

War der Prozeß der Literarisierung auch anderen Zeitungen der zwanziger Jahre anzumerken, fällt die Verschiebungstendenz vom sachlichen Bericht zur literarischen Bearbeitung des Beobachteten hier besonders auf. Nicht zufällig hat Egon Erwin Kisch, der Erfinder der literarischen Reportage, in den frühen Zwanzigern die Zeitung stark beieinflußt. Sicher trug auch das Klima der Literaturstadt Prag zu dem seltsam novellistisch-ironischen Tonfall der Zeitung bei, der spätestens ab 1925 auch auf die prosaischen Rubriken übergreift. Der vermischte Teil wird ergänzt durch Glossen, oft anonym oder mit Kürzeln gezeichnet, Lokalnachrichten sind mit sonderbaren Aphorismen durchsetzt oder werden zu kleinen Prosaskizzen umgeformt. Außerdem werden ausländische Reportagen von gefährlichen Expeditionen oder unterhaltsamen Reisen als Fortsetzung in den Politikteil geschaltet. Großen Einfluß auf diese Entwicklung dürfte der Satiriker und Essaist Robert Scheu gehabt haben, von dem wohl viele der anonymen Artikel stammen. Einige besonders gelungene zeichnet er auch mit dem bloßen Nachnamen.

Max Brod über das Prager Tagblatt

"Es war eine Irrlichter-Plantage. Jene großen Zeitungen in Paris etc. hielten auf Fassade. Im Prager Tagblatt lehnte man alles ab, was ans Fassadenhaft-Imposante oder Tierisch-Ernste (so mannte man es hier) auch nur von fern erinnerte. Das Prager Tagblatt wurde nach ganz anderm Prinzip redigiert. Es war ein europäisches Kuriosum, als solches im Berufskreisen und weit über sie hinaus bekannt. Eine Sehenswürdigkeit, die nirgends ihresgleichen hatte.[...] Es war ein ausgezeichnet informierendes, verläßlich gemachtes Blatt, gescheit und temperamentvoll, freiheitlich, ohne grade Sturmglocken zu läuten, farbig-interessant, in einigen Beiträgen von gutem literarischen Niveau und fast ohne Kitsch. Jeder, der daran mitarbeitete, setzte seinen Ehrgeiz daran, seine Sache möglichst perfekt zu leisten, knapp, ohne Phrasen, mit Einsatz aller Nerven. Aber dabei gab man sich den Anschein, als ob alles mühelos, nur wie zum Spaß vor sich ginge."

Aus "Rebellische Herzen"

Das Digitalisierungsprojekt

Im März 2006 begann die Österreichische Nationalbibliothek mit der Digitalisierung der Zeitung. Geplant ist eine frei zugängliche Gesamtausgabe aller Jahrgänge.(Ausnahme: die noch urheberrechtlich geschützten Jg. 1936-1939) In Phase 1 soll der Wiener Bestand bis zum Ende 2006 online geschaltet sein, in Phase 2 sollen fehlende Nummern durch evtl. erhaltene Exemplare der Prager Bibliothek ergänzt werden.

Weitere wichtige Mitarbeiter des Blattes in alphabetischer Reihenfolge bzw. oft gedruckte Autoren

Hans Bauer, Alfred Döblin, Martin Feuchtwanger, Egon Friedell, Stefan Großmann, Arnold Hahn, Arnold Höllriegel, Elisabeth Janstein, Siegfried Jacobsohn, Theodor Lessing, Franz Molnar, Hans Natonek, Leo Perutz, Heinrich Rauchberg, Gisela Selden-Goth, Hans Siemsen, Sling.

http://www.anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=ptb