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Rattenlinien

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Rattenlinien (englisch „rat lines“), auch Stille Hilfe, war die von US-amerikanischen Geheimdienst- und Militärkreisen geprägte Bezeichnung für Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes und Angehöriger der SS und der Ustascha nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aufgrund einer aktiven Beteiligung des römisch-katholischen Klerus an den Fluchtrouten trugen sie bis zur Beteiligung des US-amerikanischen Geheimdienstes den Namen „Klosterrouten“.

Die Fluchtrouten führten über Italien (meist Südtirol und Rom) nach Südamerika und dort hauptsächlich nach Argentinien, aber auch in Länder Arabiens. Über diese Routen gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg tausenden Nazis, sich der Verfolgung durch die amerikanische und europäische Justiz zu entziehen.

Organisation und Ausführung der Fluchtrouten

Als Kopf der Fluchtorganisation gilt der kroatische Franziskaner-Geistliche Dr. Krunoslav Draganovic, der diese Fluchtroute bereits 1943 vorbereitete und mit dem österreichischen Bischof Alois Hudal zusammen organisierte. Viele der Nazis und Ustascha-Leuten gaben Draganovic den Namen „Goldener Priester“. Er war nachweislich bis 1962 für das Counter Intelligence Corps (CIC) tätig und ihm wird nachgesagt, sowohl für den britischen, den jugoslawischen und den russischen Geheimdienst (KGB) gearbeitet zu haben. Aufgrund dieser aktiven Beteiligung des römisch-katholischen Klerus an den Fluchtrouten bekamen sie den Namen „Klosterrouten“. Laut dem Informationsdienst gegen Rechtsextremismus besorgten die beiden Köpfe der Organisation den fliehenden Nazis Ausweiskarten („Carta di riconoscimento“), die das „Österreichische Bureau“ ausstellte. Bei Verdacht kam den Flüchtlingen außerdem die Unterstützung von päpstlichen Hilfsstellen zugute, die die Identität der Flüchtlinge bezeugten und außerdem die Visa beschafften, während das italienische Rote Kreuz für die Organisation der Pässe zuständig war.

In manchen Fällen wurden die Nazis und Ustascha-Leute sogar über die gefälschten Papiere als Überlebende von Konzentrationslagern ausgewiesen. Wie der amerikanische Geheimdienst herausfand, halfen Angestellte aus der argentinischen Botschaft in Barcelona gegen ein hohes Honorar oft, diese falschen Papiere zu beschaffen. Ein weiterer Vorteil für die Fluchtorganisation war das Einwanderungsabkommen zwischen Argentinien und Italien, was ihnen erlaubte, viele der Flüchtlinge über Italien nach Argentinien zu schleusen.

Neben Italien war auch das von Franco beherrschte Spanien ein sicherer Platz für die flüchtigen Kriegsverbrecher, wo ihnen bis zu ihrer Abreise per Schiff eine Unterkunft, Taschengeld und Verpflegung, und nicht selten sogar Startkapital für ihre neue Existenz zur Verfügung gestellt wurde. Die Kosten für die Schiffsüberfahrt dieser Flüchtlinge übernahm in den meisten Fällen das Internationale Rote Kreuz.

Der US-amerikanische Geheimdienst CIC erkannte die Fluchtwege schon früh, unternahm aber keine Schritte dagegen und nutzte ab 1947 die Routen für eigene Zwecke, um zahlreiche Spione diskret und schnell aus dem von den Russen besetzten Teil Österreichs zu schaffen. Viele Mitträger des nationalsozialistischen Regimes wurden u.a. von amerikanischen Geheimdienstbehörden mit gefälschten Papieren ausgestattet, wobei viele auch unerkannt blieben. Die Amerikaner nannten die „Klosterrouten“ nach ihrem Eingriff in die Organisation der Routen in „rat lines“ um.

Nachwirkungen und geflohene Faschisten

Mit Hilfe der Rattenlinien gelang es dem größten Teil der Führungspersonen der Ustascha zu fliehen, woraufhin deren Kopf, Ante Pavelic, in Buenos Aires eine Nachfolgeorganisation ins Leben rief. Des Weiteren gelang es auch vielen Nazis und SS-Angehörigen, ihrer Strafe zu entfliehen und unterzutauchen. Auch französischen Kollaborateuren des Vichy-Regimes, Rexisten aus Belgien sowie Soldaten der Wlassow-Armee und Mitglieder östlicher SS-Divisionen, insbesondere Ukrainer, gelang die Flucht. Hans-Ulrich Rudel, dem die Flucht ebenfalls gelang, wurde der Militärberater des argentinischen Diktators Juan Perón, der die Kriegsverbrecher mit offenen Armen empfangen hatte. Rudel dankte später der Kirche dafür, dass sie „die Besten unserer Nation [gerettet habe und] das rasende Verlangen der wahnwitzigen Sieger nach Rache und Vergeltung wirksam vereitelt [werden konnte][1].

Die Spuren der Flüchtlinge lassen sich laut dem Historiker Uki Goñi, dem Autor des Buches „The Real Odessa“ nicht mehr verfolgen, da viele der Akten vernichtet oder geschwärzt worden seien. Er errechnete aber eine Zahl von mindestens 300 NS-Regime Vertreter, die Argentinien erreicht hätten, während die argentinische Historikerkommission CEANA in ihrem Abschlussbericht von 1999 berichtete, dass mindestens 180 bekannte Nazis über die „Rattenlinie“ nach Argentinien gelangt waren, was sie an vorhandenen Akten rekonstruiert hatten.

Unter den Flüchtlingen befanden sich unter anderem Klaus Barbie, Gerhard Bohne, Adolf Eichmann, Josef Mengele, Ante Pavelić, Erich Priebke, Walter Rauff, Eduard Roschmann, Franz Stangl, Gustav Wagner und Friedrich Warzok.

Siehe auch

Filme und Literatur

Bücher

  • Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Fischer, Frankfurt 1991, ISBN 3596109566
  • Rena und Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Beltz Verlag, 1992, ISBN 3895478555
  • Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Assoziation a, 2006, ISBN 3-935936-40-0

Film

Anmerkungen und Quellen

  1. Informationsdienst gegen Rechtsextremismus: http://lexikon.idgr.de/r/r_a/rat-line/ratline.php; Abgerufen am 27. Mai 2006