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Reichstagsbrand

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Photo des Brandes

Mit Reichstagsbrand wird der Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 bezeichnet. Er führte zur Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung), die am 28. Februar 1933 erlassen wurde. Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung praktisch außer Kraft gesetzt und der Weg freigeräumt für die Verfolgung und Verhaftung politischer Gegner der NSDAP durch Polizei und SA. Für die Massenverhaftungen konnten die Häscher auf die Personenlisten der politischen Polizei des demokratischen Preußens zurückgreifen. Der Reichstagsbrand markiert insofern den Beginn des ungehemmten Machtausbaus der Nationalsozialisten unter Hitler.

Der niederländische Linksradikale Marinus van der Lubbe wurde aufgrund seiner Aussagen als Alleintäter im Reichstagsbrand-Prozess, der vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933 vor dem Leipziger Reichsgericht stattfand, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die mit ihm angeklagten kommunistischen Politiker, der Deutsche Ernst Torgler und die Bulgaren Georgi Michajlow Dimitrow, Blagoi Popow und Wassil Tanew wurden freigesprochen.

In London wurde 1933 eine „Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Reichstagsbrandes“ eingerichtet, als deren Vorsitzender Denis Nowell Pritt fungierte.

Der Streit um die Täterschaft

Bei dem Brand handelte es sich um eine Brandstiftung, deren Hergang bis heute nicht genau geklärt werden konnte. Die Nationalsozialisten schrieben die Tat einem kommunistischen Komplott zu und begannen unverzüglich mit der Verfolgung ihrer politischen Gegner (unter anderen Verhaftung Carl von Ossietzkys am 28. Februar 1933). Nach dem Krieg galt lange Zeit die Theorie, die Nazis selbst hätten den Brand gelegt, um die Macht besser an sich reißen zu können. Dies änderte sich Anfang der sechziger Jahre, als zunächst Fritz Tobias (unter Bezug auf Dr. Walter Zirpins), später auch andere wie Hans Mommsen, diese zu jener Zeit weitgehend gesellschaftlich akzeptierte Fassung in Frage stellten, initiiert durch eine Serie im Spiegel. Die Alleintäterthese in dieser Serie wurde aber wesentlich von ehemaligen Gestapo-Angehörigen und SS-Offizieren lanciert, die teilweise Redakteure im Spiegel waren, so etwa der ehemalige SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt.

Was folgte, war ein stark emotional gefärbter Historikerstreit, die so genannte Revisionismusdebatte, in deren Verlauf sich vor allem in der Bundesrepublik Deutschland die Vertreter der Theorie der Alleintäterschaft van der Lubbes durchsetzten (die so heute auch in den westdeutschen Geschichtsbüchern und im Brockhaus steht).

Allerdings hielten sich auch Zweifel an dieser These, unter anderem der, dass van der Lubbe unmöglich den ganzen Reichstag (der mit massiven Eichenmöbeln eingerichtet war) innerhalb von zwei Minuten nur mit einem Stück Stoff hätte anzünden können. Diese Ansicht wird auch von heutigen Brandermittlungsexperten geteilt. Allerdings brannte nicht der ganze Reichstag, sondern nur der Plenarsaal und ein Vorraum. Der bekannte schweizerische Sprengstoffchemiker Alfred Stettbacher publizierte schon im Oktober 1933 in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel „Die Geheimflüssigkeit“, das nur die stark brennbare und explosive Gaswolken bildende Flüssigkeit Methylnitrat das verwendete Brandmittel sein konnte. Die Bilder aus den Braunbüchern, die den ganzen Reichstag lichterloh brennend zeigen, sind Fotomontagen. Hinzu kommt, dass van der Lubbe massiv sehbehindert war: Auf einem Auge hatte er 15 %, auf dem anderen 20 % verbliebene Sehkraft. Der erste Mann am Tatort, Emil Lateit, und Tobias' Kronzeuge Dr. Zirpins widersprechen einander hinsichtlich der Sprachkenntnis van der Lubbes. Zudem widersprach sich Tobias' Kronzeuge Dr. Zirpins in seinen Aussagen 1933 und 1961 selbst in Bezug auf Pappschilder mit den Namen der Abgeordneten, die in den Trümmern gefunden wurden und die nach Meinung von Brandexperten zur Brandentwicklung maßgeblich beigetragen haben könnten.

Im Verlauf der Debatte wurde auch mit unwissenschaftlichen Mitteln gearbeitet: So schlug der damalige IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen in einer Aktennotiz Maßnahmen vor, u. a. Druck über dessen Vorgesetzte im Schuldienst auszuüben, wenn der Historiker Hans Schneider eine vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) selbst in Auftrag gegebene Studie zum Reichstagsbrand veröffentliche. Schneider hatte Textvergleiche mit den Quellen der Zitate von Fritz Tobias als des militanten Vertreters der Alleintäterschaft van der Lubbes angestellt, die viele derselben als nicht korrekt entlarvten. Warum das IfZ derart rigoros agierte, „aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation“ zu verhindern, ist unbekannt. Schneiders Arbeit ist neuerdings erschienen, s. u.

Es lässt sich also sagen, dass es auf die Frage nach der Täterschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine allgemein akzeptierte Antwort gibt.

Nicht unschuldig daran ist die bundesdeutsche Justiz. 1983 urteilte der Bundesgerichtshof im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens, van der Lubbe sei der Brandstifter gewesen – nur die Todesstrafe sei nicht rechtens. Wie der ehemalige Chefankläger des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, Robert Kempner, der das Wiederaufnahmeverfahren zusammen mit dem Bruder van der Lubbes seit 1974 betrieb, in seinen Erinnerungen berichtete, wurden noch nicht einmal die damals lebenden und aussagewilligen Zeugen in der Sache vernommen. Dann nämlich hätte ein alter Fliegergeneral namens Freiherr von Freyberg-Eisenberg von einem Gespräch mit dem Intimus Görings namens Lörzer vom Tag nach dem Reichstagsbrand berichten können: „Ich verstehe nicht, was die Leute alle für einen Unsinn über den Reichstagsbrand verbreiten. Ich [Lörzer] habe von meinem Freunde Göring mit einer Gruppe von SA-Männern den Auftrag bekommen, den Reichstag anzuzünden.“

Zeitstimmen

Victor Klemperer, Tagebuch 10. März 1933:

„Acht Tage vor der Wahl die plumpe Sache des Reichstagsbrandes – ich kann mir nicht denken, daß irgend jemand wirklich an kommunistische Täter glaubt statt an bezahlte Hakenkreuz-Arbeit.“

(Zwar fand der Brand nicht acht, sondern nur sechs Tage vor der Wahl statt, aber „acht Tage“ ist eine Redewendung in der deutschen Sprache und bedeutet „etwa eine Woche“. Victor Klemperer muss also nicht genau acht Tage gemeint haben.)

Literatur

  • Alfred Stettbacher: Spreng- und Schießstoffe, Zürich (Rascher) 1948
  • Alfons Sack: Der Reichstagsbrandprozess, Berlin (Ullstein) 1934
  • Braunbuch II: Dimitroff contra Göring, Editions du carrefour, Paris, Reprint Köln, Frankfurt/Main 1981, ISBN 3-7609-0552-8
  • Robert M. W. Kempner: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, Frankfurt/Main u. a. (Ullstein) 1983 – Zitat auf S. 99
  • Uwe Backes, Karl-Heinz Janßen, Eckhard Jesse: Reichstagsbrand – Aufklärung einer historischen Legende, Piper 1986.
  • Hans Schneider: Neues vom Reichstagsbrand – Eine Dokumentation. Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung. Mit einem Geleitwort von Iring Fetscher und Beiträgen von Dieter Deiseroth, Hersch Fischler, Wolf-Dieter Narr; herausgegeben von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V., Berliner Wissenschafts-Verlag, ISBN 3830509154
  • Dieter Deiseroth (Hrsg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht. Mit Beiträgen von Dieter Deiseroth, Hermann Graml, Ingo Müller, Hersch Fischler, Alexander Bahar, Reinhard Stachwitz; Verlagsgesellschaft Tischler, Berlin 2006, ISBN 3-922 654-65-7
  • Georgi Dimitroff: Tagebücher, Berlin (Aufbau) 2000, ISBN 3-351-02510-6
  • Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, edition q, Berlin 2001
  • Eckhard Jesse: Reichtagsbrand und Reichtagsbrandprozess, in: Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit(Hrsg): Die Anfänge der braunen Barbarei, München 2004.
  • Walther Hofer, Edouard Calic, Christoph Graf, Friedrich Zipfel: Der Reichstagsbrand – Eine wissenschaftliche Dokumentation. Reihe: Unerwünschte Bücher zum Faschismus Nr. 4, Ahriman-Verlag, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3922774806

Siehe auch

Betrug und Fälschung in der Wissenschaft