An mein Volk und an die deutsche Nation
Unter dem Druck der Berliner Märzrevolution von 1848 stellte sich die preußische Regierung scheinbar an die Spitze der deutschen National- und Freiheitsbewegung. Am 21. März 1848 ritt der preußische König Friedrich Wilhelm IV. unter schwarz-rot-goldenem Banner durch die Straßen Berlins. Die von dem preußischen Außenminister Heinrich Alexander von Arnim-Suckow vorformulierte Proklamation „An mein Volk und an die deutsche Nation“[1] gilt als wichtigstes historisches Dokument in diesem Zusammenhang.
Voraussetzung und Vorgeschichte
Der deutsche Nationalismus
Hauptartikel siehe → Deutsche Frage

Im Unterschied zu Frankreich und Großbritannien bildete Deutschland bis 1871 keine politische Einheit. Eine deutsche Identität konnte sich daher lediglich unter Berufung auf die gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur entwickeln. Noch im späten 18. Jahrhundert war der deutsche Nationalismus ein rein kulturelles Phänomen, eine Abgrenzungsbewegung gegenüber der in Europa vorherrschenden französischen Sprache, Architektur, Literatur, Mode und Theater. Eine nennenswert politische Dimension erhielt der deutsche Nationalismus erst unter dem Eindruck der Französischen Revolution. In Frankreich entwickelten die Bürger ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das unabhängig von ihrer Konfession, ständischen und sozialen Zugehörigkeit war. Ihre nationale Identität lag in der Volkssouveränität begründet, d. h. einer politischen Selbstbestimmung des Staatsvolkes. Die Franzosen empfanden sich also nicht mehr als passive Untertanen eines Königreiches, sondern als mündige Bürger einer Nation, die ihnen Freiheit und Gleichheit versprach. Diese Ideale ließen auch in den deutschen Staaten eine nicht zu trennende Verbindung zwischen der Strömung des Liberalismus und des Nationalismus entstehen. Zugleich nahm die deutsche Bevölkerung aber auch die sich besonders unter Napoleon verschärfende aggressive und imperiale Ausprägung des französischen Nationalismus wahr. Die vielfältigen Belastungen, etwa Soldateneinquartierungen und Kontributionen, ließen die französische Besetzung deutscher Länder als „Fremdherrschaft“ erscheinen. In den sogenannten Befreiungskriegen keimten schließlich Hoffnungen auf, dass das Volk als Gegenleistung für seinen Waffengang gegen Napoleon einen freiheitlichen, geeinten deutschen Nationalstaat erhalten würde. Diese liberalen Erwartungen zerschlugen sich jedoch während des Wiener Kongresses, der mit dem Deutschen Bund lediglich einen losen Zusammenschluss deutscher Einzelstaaten schuf. Dem Deutschen Bund fehlten eine gemeinsame Rechtsprechung, Verwaltung, Gesetzgebung und Heerorganisation.[2][3]
In Preußen wurde die deutsche Nationalbewegung der Restaurationszeit zunächst überwiegend von jungen Männern getragen, die an den napoleonischen Kriegen als Freiwillige teilgenommen hatten. Ihren Einsatz für nationale Einheit, Freiheitsrechte und eine Verfassung bekräftigten sie durch die soziale Organisation in Vereinen, insbesondere Turnvereinen, Burschenschaften und Gesangsvereinen.[4] Das preußische Bildungsbürgertum stellte, vielfach durch die Geschichtsphilosophie Hegels dazu angeregt, die zweite Trägergruppe des deutschen Nationalismus. Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 läuteten jedoch das vorläufige Ende der politischen Öffentlichkeit im Deutschen Bund ein. Die Burschenschaften wurden dazu gedrängt, sich selbst aufzulösen. Jegliche politischen Versammlungen wurden verboten und die Zensur verschärft. Dennoch gelang es nicht, die nationale und liberale Bewegung vollständig zu unterdrücken. Die Burschenschaften gaben sich beispielsweise nun nach außen als harmlose Lese- und Kaffeegesellschaften aus. Nach der Julirevolution von 1830 in Paris und den nationalen Unabhängigkeitskämpfen der Griechen und Polen gewann die organisierte deutsche Nationalbewegung erneut an Selbstbewusstsein. Wieder kam es zur Gründung von national gesinnten Vereinen. Protest gegen die deutsche Kleinstaaterei wurde auch in Form von Nationalfesten wie dem Wartburgfest von 1817 oder dem Hambacher Fest von 1832 geäußert, die sich an dem Vorbild der französischen Revolutionsfeste orientierten. Zudem weiteten sich die anfänglich nur von einer Minderheit verfochtenen nationalen Ideen durch das wachsende Kommunikations- und Verkehrswesen auf alle Bevölkerungsschichten aus. Der deutsche Nationalismus entwickelte sich zu einer Massenbewegung, die sich allerdings trotz ihrer freiheitlichen Ausrichtung häufig auch gegen Juden und Katholiken richtete.[5][6][7]
Nationalverständnis und Nationalpolitik Friedrich Wilhelms IV. vor 1848

Mit dem Regierungsantritt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. am 7. Juni 1840 schien Bewegung in die deutsche Frage zu kommen. Der Öffentlichkeit war bekannt, dass Friedrich Wilhelm IV. der deutschen Nationalbewegung nicht ablehnend gegenüberstand. Allerdings war das Nationalverständnis des neuen Königs unvereinbar mit dem der liberalen Kräfte. Sein Nationalkonzept basierte auf einer Wiederherstellung des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches, das er als christlichen und ständischen Idealstaat ansah. Ebenso glaubte er, nicht die historischen Rechte der deutschen Dynastien verletzen zu dürfen. Wegen ihrer Einsetzung von Gottes Gnaden und ihrer seit Jahrhunderten bestehenden Herrschaftstradition meinte er auf ihre Zustimmung angewiesen zu sein, um eine nationale Einigung vorantreiben zu können. Vor allem sollten die Habsburger, die zuletzt die römisch-deutsche Kaiserkrone getragen hatten, seinem Verständnis nach wieder „zum höchsten Haupt der Christenheit“ aufsteigen. Sich selbst sah Friedrich Wilhelm IV. in der Rolle eines zukünftigen „Königs der Deutschen“, der von den deutschen Fürsten gewählt und anschließend im Frankfurter Kaiserdom St. Bartholomäus gesalbt und gekrönt werden sollte (vgl. die Rolle der Kurfürsten im Heiligen Römischen Reich). In dieser Funktion wollte er als eine Art Premierminister dem deutschen Kaiser dienen.[8] Nach Christopher Clark hätte Friedrich Wilhelm IV. aber durchaus Interesse an einer deutschen Kaiserwürde gehabt.[9] Frank-Lothar Kroll hebt hervor, dass das Nationalverständnis Friedrich Wilhelms IV. weder mit dem Begriff des liberalen Nationalismus noch mit dem des konservativen Internationalismus gefasst werden kann. Zwar habe der preußische König mit den Vertretern des konservativen Internationalismus, etwa dem österreichischen Außenminister Metternich und Zar Nikolaus I., das Interesse an „Interventionismus zum Schutz der legitimen Dynastien und zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung“ (so Kroll) geteilt, lehnte aber im Gegensatz zu ihnen „eine einzelstaatliche Großmachtpolitik“ ab. Kroll hält es für wahrscheinlich, dass Friedrich Wilhelm IV. deutschen Interessen und preußischen Hegemonieansprüchen weniger Priorität einräumte als dem Erhalt der übernationalen Heiligen Allianz.[10]
Insbesondere die im Zuge der Rheinkrise von 1840 ausgelöste nationale Euphorie wollte der König nutzen, um trotz seiner Ablehnung einer zeitgemäßen Verfassung Popularität in der preußischen Bevölkerung zu gewinnen. Im Dezember 1840 schrieb er in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern, dass er sich einen französischen Angriff am Rhein herbeiwünsche, denn „dann trete der teutsche Bund zum ersten Male als Europäische Macht auf“. In der Rheinkrise setzte Friedrich Wilhelm auf eine Kooperation mit Österreich: In einem Brief an Metternich vom 10. Januar 1841 forderte er, dass Österreich der „Geburtshelfer“ des neuen Deutschlands sein müsse. Österreich fürchtete allerdings, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates zu separatistischen Bewegungen im Vielvölkerstaat ermutigen würde, was den territorialen Zerfall der Habsburgermonarchie bedeuten konnte. Ohne Unterstützung aus Wien beließ Friedrich Wilhelm seine Nationalpolitik bei symbolischen Gesten, so auch bei dem Kölner Dombaufest von 1842, bei dem die Grundsteinlegung zum Weiterbau des Doms zelebriert wurde. Hatten das Wartburgfest 1817 und das Hambacher Fest 1832 die säkular-freiheitlichen Festakte der Französischen Revolution nachgeahmt, wollte der preußische König dem nun Veranstaltungen mit „monarchisch-christlich Werten entgegensetzen“.[11][12]
Ausarbeitung der Proklamation und Königsritt im März 1848

Neue Impulse erfuhr die deutsche Frage während der Revolution von 1848/1849. Nachdem im Februar 1848 der französische König Louis-Philippe I. gestürzt und in Paris die Zweite Republik ausgerufen worden war, kam es am 18. März auch in Berlin zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen königlichen Truppen und Zivilisten. Als der König am 19. März 1848 den Befehl gab, die Truppen zurückzuziehen, begab er sich in unmittelbare Abhängigkeit von der Berliner Opposition. Im Umkreis Friedrich Wilhelms gewann in dieser Situation ein Beraterkreis an Bedeutung, der die Initiative dadurch wiedergewinnen wollte, dass der Monarch die Führung in der deutschen Einigung übernehmen sollte. Der bisherige preußische Diplomat in Paris, Heinrich Alexander von Arnim-Suckow, der am 21. März 1848 zum Außenminister ernannt wurde, verbreitete ohne Absprache mit dem König noch am Morgen desselben Tages Plakate in Berlin, die einen Ritt des Königs „mit den alten ehrwürdigen Farben deutscher Nation“ (gemeint: schwarz-rot-gold) ankündigten. Arnim legte darüber hinaus dem Staatsministerium und König seinen bereits am 17. März 1848 formulierten Entwurf zu der Proklamation „An mein Volk und an die deutsche Nation“ vor. Im Gegensatz zu Friedrich Wilhelm IV. war Arnim ein liberaler Verfechter einer starken preußischen Vorherrschaft in Deutschland.[13][14]
Der König brachte seine Abneigung gegenüber solchen Plänen schon wenige Stunden später bei seinem Umritt durch die Straßen Berlins zum Ausdruck: Auf dem Schlossplatz, bei der Universität, dem Alexanderplatz und Cöllnischen Rathaus hielt er kurze Reden, in denen er davor warnte, die Legitimität der anderen deutschen Fürsten in Frage zu stellen:
„Was Ihr hier seht (…) ist keine Usurpation. Ich will keine Fürsten vom Throne stürzen. Alles richte sich nur auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.[15]“
Auf einen Hochruf der Menge, der ihn als „Kaiser von Deutschland“ feierte, reagierte der König ablehnend. Vermutlich, so der Historiker Rüdiger Hachtmann, zeichnete sich bereits hier die spätere Ablehnung der deutschen Kaiserkrone ab, die ihm die gesamtdeutsche Frankfurter Nationalversammlung im April 1849 anbieten sollte. Friedrich Wilhelm hielt die Öffentlichkeit bzw. Vertreter des Volkes für nicht berechtigt, ihm die Kaiserkrone zu verleihen. Dies sah er allein als Vorrecht der deutschen Fürsten an.[16][17]
Inhalt der Proklamation „An mein Volk und an die deutsche Nation“
Anspielung auf den Befreiungskrieg von 1813

Um den Anspruch einer preußischen Führung Deutschlands historisch zu legitimieren, zog Arnim Parallelen zu der Proklamation „An mein Volk“ von 1813, in der Friedrich Wilhelms Vater zum Widerstand gegen die napoleonischen Truppen aufgerufen hatte:
„Mit Vertrauen sprach der König vor fünfunddreißig Jahren in den Tagen hoher Gefahr zu seinem Volke, und sein Vertrauen ward nicht zuschanden. Der König, mit seinem Volke vereinigt, rettete Preußen und Deutschland von Schmach und Erniedrigung. Mit Vertrauen spreche Ich heute, im Augenblicke wo das Vaterland in höchster Gefahr schwebt, zu der deutschen Nation.[18]“
Wie vor dem preußischen Kriegseintritt in den Befreiungskriegen, so drohte auch 1848 ein Krieg gegen Frankreich. Die preußische Regierung fürchtete, dass das revolutionäre Frankreich wie schon 1792 und 1806 Preußen angreifen könnte, was allerdings nicht geschah. Friedrich Wilhelm IV. erwog dennoch zeitweise einen Präventivkrieg gegen Paris. Preußen, so zumindest die Aussage der Proklamation, habe also bereits in den Befreiungskriegen eine für die nationale Sache herausragende Rolle gespielt, was es nun dazu berechtigen sollte, die deutsche Nation erneut anzuführen.[19][20] Tatsächlich hatte der Aufruf von 1813 jedoch keinen „deutschen Volkskrieg“ begründet: Obwohl Friedrich Wilhelm III. seine preußischen Untertanen in dem Dokument als Deutsche ansprach, meinte er damit lediglich die Bewohner der vier ihm verbliebenen Provinzen, namentlich Brandenburger, Preußen, Schlesier und Litauer. Zudem erinnerte die Proklamation an die „vergangene preußische Glorie unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich den Großen“. Eine Assoziation, die auf eine zukünftige deutsche Einheit hinweist, wird dagegen an keiner Stelle beschworen. Auch Freiwilligenverbände spielten in den Befreiungskriegen, anders als es Arnim darstellt, kaum eine Rolle. Die Niederlage Napoleons wurde hauptsächlich durch die reguläre preußische Armee herbeigeführt.[21][22]
Verhältnis zwischen Revolution und deutscher Nation
Weiter heißt es in dem Dokument:
„Teutschland ist von innerer Gährung ergriffen und kann durch äußere Gefahr von mehr als einer Seite bedroht werden. Rettung aus dieser doppelten (gemeint; revolutionäre und außenpolitische) Gefahr kann nur (…) unter einer Leitung hervorgehen. Ich (Friedrich Wilhelm IV.) übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr.[23]“
Neben der Verteidigung nach außen betonte die Proklamation also auch die Verpflichtung Preußens revolutionäre Unruhen bzw. „innere Gährung“ in Deutschland zu verhindern. Zu diesem Zweck schlug der Aufruf eine „Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter (der) Leitung“ Friedrich Wilhelms IV. vor. Mit diesem „Vorstoß in die nationale Einheitsfrage“ wollte Arnim die revolutionäre Bewegung unter die Kontrolle der preußischen Regierung bringen.[24] Das „Eingehen auf die Nationalbewegung“ geschah aber auch im Interesse Friedrich Wilhelms IV., da dieser den deutschen Nationalismus nicht seinen „liberalen und demokratischen Gegnern“ überlassen wollte. Auf diese Weise sollte aus Sicht des Monarchen die Nationalbewegung von freiheitlich-revolutionären Elementen „gereinigt“ und zugleich mit den konservativen Kräften versöhnt werden.[25] Kroll sieht „die Tage der Gefahr“ als Hinweis auf die seit dem Sturz des Staatskanzlers Metternich bestehende Handlungsunfähigkeit Österreichs im Deutschen Bund an. Da Österreich als historisch legitime deutsche Führungsmacht ausfalle, müsse Preußen vorübergehend dessen leitende Position einnehmen.[26]
Im weiteren Verlauf wird, um Friedrich Wilhelms Nationalkonzept entgegenzukommen, auf das „Banner“ des Heiligen Römischen Reiches angespielt:
„Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reiches gestellt.[27]“
Damit folgt die Proklamation der irrtümlichen Annahme, die Farben Schwarz-Rot-Gold seien bereits die Farben des Alten Reiches gewesen. Tatsächlich setzte sich die Fahne der römisch-deutschen Kaiser aber aus einem schwarzen Doppelkopfadler auf goldenem Hintergrund zusammen.[28][29]
Verhältnis zwischen Preußen und Deutschland
Der Kernsatz der Proklamation, dass „Preußen fortan in Deutschland aufgehe“, wurde bewusst vage gehalten, da innerhalb der Regierung zu unterschiedliche Vorstellungen zirkulierten, wie das „Verhältnis von Preußen zu Deutschland“ (so Rüdiger Hachtmann) überhaupt gestaltet werden konnte. Zudem hätte eine Konkretisierung des Einheitsplanes die um ihre politische Souveränität fürchtenden anderen deutschen Fürsten nur noch mehr gegen Preußen aufgebracht. Laut dem Historiker Walter Bußmann hätte Friedrich Wilhelm IV. bei aller nationalen Schwärmerei sich nie mit einer völligen Auflösung Preußens abgefunden. In erster Linie sei es in der Proklamation darum gegangen, die Gemüter der Öffentlichkeit nach dem Berliner Barrikadenkampf ruhig zu stellen, während die deutsche Frage eher zweitrangig gewesen sei. Die Spaltung zwischen Preußen und Deutschland verfestigte sich sogar noch durch die Konkurrenz der beiden Nationalversammlungen in Berlin und Frankfurt am Main. Der Historiker Anselm Doering-Manteuffel kommt bei der mehrdeutigen Formulierung „Preußen gehe fortan in Deutschland auf“ zu einem anderen Ergebnis: Zum Zeitpunkt der Proklamation stand der Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung noch aus. Deshalb habe die preußische Regierung nur schwer abschätzen können, was die Nationalbewegung konkret unter einer deutschen Einheit verstand. Die Formulierung blieb entsprechend unpräzise. Gleichwohl sei die Proklamation nur aufgrund der „hilflosen“ Situation des Königs entstanden und nur ein „halbherziges“ Bekenntnis zur Nationalbewegung.[30][31][32]
Zweiter Vereinigter Landtag und liberale Zugeständnisse
In der Proklamation heißt es weiter, dass die „Fürsten und Stände Deutschlands“ dem für April einberufenen Zweiten Vereinigten Landtag in Berlin beitreten sollten:
„Als Mittel und gesetzliches Organ, um im Verein mit Meinem Volk zur Rettung und Beruhigung Deutschlands voranzugehen, bietet sich der auf den 2. April bereits einberufene Landtag dar. Ich beabsichtige, in einer unverzüglich näher zu erwägenden Form den Fürsten und Ständen Deutschlands die Gelegenheit zu eröffnen, mit Organen dieses Landtages zu einer gemeinschaftlichen Versammlung zusammenzutreten.[33]“
Diese in der Proklamation vorgeschlagene „Erweiterung des preußischen Landtages zu einer deutschen Nationalvertretung“ (so Heinrich August Winkler) stellte sich als kaum realisierbares Projekt heraus. Die liberalen und demokratischen Kräfte in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten wollten keine preußische Vorherrschaft akzeptieren, solange Preußen kein echter Verfassungsstaat war. Die Institution des Vereinigten Landtages beruhte auf einer ständischen Grundlage, die nur einen kleinen Teil des Volkes repräsentierte und nicht aus Wahlen hervorging. Um ihren Widerstand gegen den Zweiten Vereinigten Landtag zu demonstrieren, schossen beispielsweise Oppositionelle in Stuttgart öffentlich auf eine Puppe, die Friedrich Wilhelm IV. darstellen sollte, und warfen sie anschließend ins Feuer. Auch in den preußischen Provinzen, besonders in Schlesien, kam es zu Protesten. In dem letzten Satz der Proklamation wurden zentrale Märzforderungen wie die Einführung von „wahren constitutionellen Verfassungen“, Ministerverantwortlichkeit, Geschworenengerichte und einer „wahrhaft volksthümlichen Verwaltung“ scheinbar in das Regierungsprogramm aufgenommen. Damit ging die Regierung zwar noch über die Zugeständnisse in den Reformpatenten vom 18. März 1848 hinaus, blieb jedoch in ihren Formulierungen erneut „ungenau“ und „doppeldeutig“. Rückblickend rechtfertigte Friedrich Wilhelm IV. dies mit der Behauptung, dass er Deutschland im März 1848 in Flammen stehend gesehen habe und es nur mit dem „unreinen Wasser“ des Konstitutionalismus hätte löschen können. Er habe mit seinen liberalen Zugeständnissen lediglich beabsichtigt, den revolutionären Unruhen deutschlandweit die Grundlage zu entziehen.[34][35][36] Dennoch trafen die Proklamation und das Verhalten der Regierung auf entschiedene Ablehnung im hochkonservativen Umfeld des Königs. Dieses habe, so der Historiker Heinrich August Winkler, darin eine „widerwärtige Anbiederung an die Revolution“ und „geistigen Verrat an Preußen“ gesehen.[37] Der königliche Berater und Vertraute Leopold von Gerlach kommentierte die preußische Deutschlandpolitik in seinem Tagebuch wie folgt:
„Wie heuchlerisch ist überhaupt diese Germanomanie und was für Wunden hat sie nicht schon Deutschland geschlagen?“[38]
Für Gerlach stellte die nationale Begeisterung liberaler Ausprägung, der Friedrich Wilhelm in der Proklamation teilweise nachgegeben hatte, einen Fremdimport aus dem revolutionären Frankreich dar. Seinem Verständnis nach könne Deutschland in der historischen Nachfolge des Heiligen Römischen Reiches nur als ein „ständisch-monarchischer Herrschaftsverband“ bestehen. Von diesem Kerngedanken der bisherigen preußischen Außenpolitik sei Friedrich Wilhelm IV. aber nun abgewichen.[39]
Ausblick
Preußens Deutschlandpolitik in der Schleswig-Holsteinischen Erhebung
Der in der Proklamation erhobene Anspruch, Deutschland militärisch verteidigen zu wollen, stellte die preußischen Regierung in der sogenannten Schleswig-Holsteinischen Erhebung erstmals auf die Probe. Hintergrund war die multiethnische Zusammensetzung des dänischen Gesamtstaates. Es ging um die Frage, ob die deutschsprachigen Herzogtümer Schleswig und Holstein, die von dem dänischen König Friedrich VII. regiert wurden, in einen deutschen Nationalstaat eingegliedert werden konnten. Die dänische Annexion Schleswigs am 21. März 1848 löste in den deutschen Staaten eine nationale Empörung aus. In Kiel bildete sich eine provisorische Regierung, die den Bundestag und später die gesamtdeutsche Nationalversammlung um Aufnahme bat. Am 4. April 1848 beauftragte der Bundestag die preußische Regierung, mit Dänemark zu einem „Vermittlungsgeschäft“ zu kommen.
Abermals dem öffentlichen Druck nachgebend, befahl Friedrich Wilhelm IV. schließlich die Mobilmachung der preußischen Armee. Am 23. April 1848 überschritt ein unter preußischem Oberbefehl stehendes Bundesheer die Grenze zu Schleswig und drang bis nach Jütland vor. Unter dem Druck Russlands, Großbritanniens, Frankreichs und Schwedens musste Preußen jedoch am 26. August 1848 in den Waffenstillstand von Malmö einwilligen. Dieser äußere Widerstand zeige, so Christopher Clark, dass „die deutsche Frage letztlich eine europäische Frage war, die Preußen nicht im Alleingang lösen konnte“. Die gesamtdeutsche Nationalversammlung, die die schleswig-holsteinische Angelegenheit zu einer „Ehrensache der deutschen Nation“ erklärt hatte, trat als Aggressor auf, während „Dänemark Territorium verteidigte, das es besaß“ (Dieter Langewiesche). Aus Sicht der europäischen Nachbarn konnte ein möglicher deutscher Nationalstaat das seit dem Wiener Kongress bestehende Gleichgewicht zwischen den Großmächten stören. Nach Rüdiger Hachtmann kam der preußischen Regierung der Waffenstillstand jedoch durchaus entgegen. Nach Malmö waren die preußischen Truppen nicht länger außerhalb Preußens gebunden, was ihren möglichen Einsatz gegen revolutionäre Unruhen im Inneren beförderte.[40][41][42][43]

Ablehnung der deutschen Kaiserwürde durch Friedrich Wilhelm IV.
Hauptartikel → Kaiserdeputation
Die Frage nach der Grenzziehung und Staatsform des deutschen Nationalstaates blieb bis zum Ende der Revolution kontrovers diskutiert. Da allerdings die Mehrheit der Abgeordneten der gesamtdeutschen Nationalversammlung die Fürsten in die neue Staatsordnung einbeziehen wollte, fiel den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen eine Schlüsselrolle zu. Somit gewann die Frage an Bedeutung, ob Österreich entsprechend der großdeutschen Lösung zu Deutschland gehören oder entsprechend der kleindeutschen Lösung ausgeklammert werden sollte. Für die Nationalversammlung war es jedoch nicht vorstellbar, die nicht-deutschsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie, etwa Böhmen und Slowenien, in den deutschen Nationalstaat einzugliedern. Diese Vorstellung lief darauf hinaus, dass die außerdeutschen Gebiete nur durch eine lockere Personalunion mit der restlichen Donaumonarchie verbunden geblieben wären, was angesichts der separatistischen Bewegungen de facto zur Auflösung des Vielvölkerstaates beigetragen hätte. Die Absage aus Wien ließ somit nur noch eine kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung zu. Am 28. März 1849 wählte die Frankfurter Nationalversammlung mit 290 von insgesamt 538 möglichen Stimmen Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser der Deutschen. Der Monarch lehnte jedoch am 3. April 1849 die ihm von einer Gesandtschaft angebotene Kaiserkrone ab, da er kein Herrscher von Volkes Gnaden sein und eine militärische Konfrontation mit Österreich vermeiden wollte.[44]
Bismarcksche Reichsgründung von oben

Hauptartikel → Deutsche Reichsgründung
Erst im Zuge der deutschen Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 kam die Gründung eines deutschen Nationalstaates zustande. Die Gründung des Kaiserreiches geschah allerdings unter gänzlich anderen Voraussetzungen als dies 1849 erwartet wurde: Gegen eine finanzielle Zusicherung des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck hatte König Ludwig II. von Bayern in dem sogenannten Kaiserbrief dem preußischen König Wilhelm I. im Namen aller deutscher Fürsten die Kaiserkrone angeboten. Das Dokument sollte jeden Eindruck vermeiden, als sei der deutsche Nationalstaat unter dem Druck von Volksvertretern bzw. des Reichstages gegründet worden. Erst nachdem alle Fürsten den Kaiserbrief bestätigt hatten, wurde nach zwei Tagen Wartezeit die Abgeordnetendelegation des Norddeutschen Bundes zum König vorgelassen, um diesen um die Annahme der deutschen Kaiserwürde zu bitten. Die Kreuzzeitung kommentierte diesen Vorgang wie folgt: „Heute macht der Kaiser die Verfassung, nicht aber die Verfassung den Kaiser“. Am 18. Januar 1871 wurde Wilhelm I. im Spiegelsaal von Schloss Versailles bei Paris zum deutschen Kaiser ausgerufen. Die nationale Einigung war zwar somit im Sinne der kleindeutschen Lösung unter dem Ausschluss Österreichs erreicht, aber die von der Revolution gewollte politische Freiheit und Mitsprache nur eingeschränkt verwirklicht worden.[45][46]
Einzelnachweise
- ↑ Digitalisat eines Drucks des Dokuments beim Deutschen Historischen Museum.
- ↑ Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat. Beck, München 1983, S. 300–305.
- ↑ Wolfgang J. Mommsen: 1848 – Die ungewollte Revolution: Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Fischer, Berlin 2000, S. 31.
- ↑ Karen Hagemann: Männlicher Muth und teutsche Ehre. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens. Schöningh, Paderborn 2002, S. 44.
- ↑ Hans-Werner Hahn: Handbuch der deutschen Geschichte. Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49. Klett, Stuttgart 2010, S. 126.
- ↑ Christian Jansen: Vormärz und soziale Unruhen. In: Karl Marx 1818–1883: Leben. Werk. Zeit. Theiss, Stuttgart 2018, S. 76–77.
- ↑ Wolfgang J. Mommsen: 1848 – Die ungewollte Revolution: Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Fischer, Berlin 2000, S. 31.
- ↑ David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Siedler, Berlin 1995, S. 275–276.
- ↑ Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947. Pantheon, München 2008, S. 483.
- ↑ Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der Romantik. Spiess, Berlin 1990, S. 152.
- ↑ Wolfgang J. Mommsen: 1848 – Die ungewollte Revolution: Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Fischer, Berlin 2000, S. 72.
- ↑ David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Siedler, Berlin 1995, S. 87.
- ↑ Wolf Nitschke: Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg (1803–1868). Eine politische Biographie. Berlin 2004, S. 213.
- ↑ David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Siedler, Berlin 1995, S. 222.
- ↑ David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Siedler, Berlin 1995, S. 218.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 211.
- ↑ David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Siedler, Berlin 1995, S. 217–218.
- ↑ Walter Grab (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation. 131 Dokumente und eine Zeittafel. Nymphenburger Verlag, München 1980, S. 59.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 122.
- ↑ Christopher Clark: Preußen: Aufstieg und Niedergang 1600–1947. Pantheon, München 2008, S. 560.
- ↑ Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Campus. Frankfurt am Main/New York 1998, S. 217.
- ↑ Peter Brandt: Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte. In: An der Schwelle zur Moderne. Deutschland um 1800. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Historisches Forschungszentrum, Bonn 1999, S. 99.
- ↑ Walter Grab (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation. 131 Dokumente und eine Zeittafel. Nymphenburger Verlag, München 1980, S. 59.
- ↑ Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV., 1795–1861: Psychopathologie und Geschichte. Vadenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1992, S. 129.
- ↑ Frank-Lothar Kroll: Der gesamtdeutsche Einheitsgedanke Friedrich Wilhelms IV. im Krisenjahr 1848. In: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der Romantik. Spiess, Berlin 1990, S. 128.
- ↑ Frank-Lothar Kroll: Der gesamtdeutsche Einheitsgedanke Friedrich Wilhelms IV. im Krisenjahr 1848. In: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der Romantik. Spiess, Berlin 1990, S. 130.
- ↑ Walter Grab (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation. 131 Dokumente und eine Zeittafel. Nymphenburger Verlag, München 1980, S. 59.
- ↑ Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV., 1795–1861: Psychopathologie und Geschichte. Vadenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1992, S. 129.
- ↑ Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Beck, München 2014, S. 103.
- ↑ Walter Bußmann: Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV.: Eine Biographie. Siedler, München 1996, S. 295.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 671.
- ↑ Anselm Doering-Manteuffel: Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856. Vandenhoeck, Göttingen 1991, S. 74.
- ↑ Walter Grab (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation. 131 Dokumente und eine Zeittafel, Nymphenburger Verlag. München 1980. S. 59.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 291.
- ↑ Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Beck, München 2014, S. 103.
- ↑ Frank-Lothar Kroll: Der gesamtdeutsche Einheitsgedanke Friedrich Wilhelms IV. im Krisenjahr 1848. In: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der Romantik. Spiess, Berlin 1990, S. 129.
- ↑ Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Beck, München 2014, S. 103.
- ↑ Bernhard Ruetz: Der preußische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit. Duncker und Humblot, Berlin 2001, S. 78.
- ↑ Bernhard Ruetz: Der preußische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit. Duncker und Humblot, Berlin 2001, S. 78.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 670.
- ↑ Walter Bußmann: Zwischen Preussen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV.: Eine Biographie. Siedler, München 1996, S. 302.
- ↑ Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947. Pantheon, München 2008, S. 570.
- ↑ Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Beck, München 2000, S. 272.
- ↑ Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Dietz, Bonn 1997, S. 871–873.
- ↑ Guntram Schulze-Wegener: Wilhelm I. Deutscher Kaiser – König von Preußen – Nationaler Mythos. Mittler, Berlin 2015, S. 422–423.
- ↑ Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Beck, München 2014, S. 211.