Kampf der Kulturen
In seinem Buch Clash of Civilizations, welches mit "Zusammenprall der Kulturen" übersetzt werden kann, aber in der deutschen Übersetzung Kampf der Kulturen heißt, stellte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington 1998 die These auf, dass die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern von Konflikten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise bestimmt sein wird.
„Kampf der Kulturen?“
In einem Essay in der Zeitschrift Foreign Affairs ging Huntington, der damals auch als Berater des US-Außenministeriums tätig war, der Frage nach, ob es einen Kampf der Kulturen gäbe („The Clash of Civilizations?“). In diesem Artikel behandelte er die Fragen nach einem neuen Paradigma der Weltpolitik und der politischen Wissenschaft der internationalen Beziehungen und stellte hier sein Zivilisationsparadigma vor. Dieses Paradigma geht auf seine Beratertätigkeiten innerhalb der Commission on Integrated Long Term Strategy zurück, das 1987 von der US-Regierung zur Beratung in außenpolitischen Fragen einberufen wurde. Diese Kommission empfahl der US-Regierung, sich von dem alten „Hauptfeind Kommunismus“ zu lösen und den Konflikten in der so genannten Dritten Welt mehr Bedeutung beizumessen, da diese Konflikte einen kumulativ negativen Effekt auf den Zugang der Vereinigten Staaten zu kritischen Regionen besitzen und auch zukünftig besitzen werden. Die Fragestellung Huntingtons fand sehr schnell ein mediales Interesse. In seinem folgenden pseudowissenschaftlichen Buch „Kampf der Kulturen“ wird aus einer Fragestellung eine Feststellung.
Nach Huntington kommt es nach dem Ende das Kalten Krieges und dem Zerfall des sozialistischen Lagers zu neuen Linien des Kampfes zwischen den von ihm ausgemachten Kulturkreisen, einem „Kampf der Kulturen“. Dieser kann nach seiner Sicht zwei verschiedene Formen der Gewaltsamkeit annehmen. Die verbreitetsten Kriege seien Bruchlinienkriege zwischen lokalen Gruppen aus unterschiedlichsten Kulturen. Die gefährlichste Form des Krieges wären Kernstaatenkriege zwischen den großen Staaten unterschiedlicher Kulturen. Die Hauptursache für diese beiden Formen des Konflikts und damit für die politische Instabilität im nächsten Vierteljahrhundert seien das Wiedererstarken des Islams und der Aufstieg Chinas. Die Beziehungen des Westens zu diesen so genannten „Herausforderer-Kulturen“ würden sich somit besonders schwierig gestalten.
Mittlerweile äußert sich Huntington wesentlich zurückhaltender zu seinen Thesen. Eindringlich warnte er vor dem Kriege gegen den Irak. Den Fundamentalismus bewertet er heute nicht mehr als eine Erscheinung des Mittelalters, sondern stimmt den aktuellen Forschungen zu, dass der Fundamentalismus ein modernes Phänomen ist, welches erst mit dem Kolonialismus entstand. Trotz dieser veränderten Haltung, sind seine Thesen mittlerweile medialer und politischer Common sense.
Ideengeschichtlicher Hintergrund in Europa
Die für Huntington charakeristische Typisierung von Kulturen und die apokalyptische Vorstellung vom "unausweichlichen Kampf" (Nikolai Danilewski) der Kulturen miteinander spielt in den auf die Zyklentheorie basierenden idealtypischen Geschichtsbildern, wie sie bereits von Giambattista Vico formuliert wurden, eine zentrale Rolle. Die Typisierung von Kulturen ist noch im 20. Jahrhundert charakteristisch für Historiker und Kulturwissenschaftler wie Ch. Dawson, R. Coulborn, Reinhold Niebuhr, Nikolai Danilewski, Pitirim Sorokin, Henri Pirenne, Othmar Anderle, Karl August Wittfogel, J. De Beus und nicht zuletzt eben von Samuel P. Huntington und Bassam Tibi. Bei Oswald Spengler und Arnold Toynbee werden diese in ihrem Rigorismus am konsequentesten konstruiert.
In der Volkstumsforschung und in der Volks- und Kulturbodenforschung, wurde die Vorstellung vom "Kampf der Kulturen" in den 1920er Jahren versucht zu verwissenschaftlichen. Diese Wissenschaften verstanden sich dem "Deutschtum" verpflichtet, als "kämpfende Wissenschaft". Mit "Überfremdung" wurden Prozesse der Integration und der Assimilation als "Gefahr" der "Umvolkung" deutscher "Volksgruppen" beschrieben. Abgeleitet wurden daraus geopolitische und ethnozentristische Konzepte. So wurde gefordert, dass sich Nationalgrenzen nicht nach ihrer historischen Entstehung bilden, sondern nach dem Konzept des Volkstums. Ideologisierend wissenschaftlich und politisch wurden dazu Konzepte wie "Volksgruppe" und "Volksgemeinschaft", "Lebensraum", "Kulturraum", "Brauchtum" oder "Gesittung" entwickelt, die jeweils vor "Überfremdung" "schützen" sollten.
Weniger populär als bei Huntington finden sich ethnopolitische und geopolitische Konzepte, die auf die Vorstellung eines Kulturkampfes hinauslaufen, bei Alain de Benoist und anderen Vordenkern der Neuen Rechten.
Kernaussagen Huntingtons
Der Faktor Kultur wird in der internationalen Politik massiv an Bedeutung gewinnen
Im Wesentlichen führt Huntington folgende Gründe für diesen Bedeutungsgewinn an:
- Multipolarität und Multikulturalität oder „wer bist du, statt wo stehst du”
Eine identitätsstiftende Polarisierung der Ideologien wie in der Zeit des Kalten Krieges ist nicht mehr da. Menschen suchen Identität (wieder) in ihrer Kultur. Infolgedessen findet tendenziell ein Rückbezug auf Herkunft, Religion, Sprache, Sitten und Gebräuche, Werte und traditionelle Institutionen statt.
- Distinktivitätstheoretischer Ansatz
Menschen grenzen sich gegenüber anderen Individuen ab und stabilisieren ihre eigene Identität (u.a.) über eine Definition wie sie nicht sind. Huntington diagnostiziert auf der Mikroebene eine durch Globalisierungsprozesse intensivere Auseinandersetzung mit dem „Anders sein”, die nach seiner Ansicht dazu führt, dass Menschen sich vermehrt über Distinktion identifizieren. Auf der Makroebene führen seiner Meinung nach Globalisierungsprozesse zu einer selektiven Adaption und Assimilation. Ziel von Assimilation und Adaption ist es, die eigene Kulturseele zu stärken. Kulturfremdes, das nicht nützlich zu sein scheint, wird ignoriert oder abqualifiziert.
Einteilung der Welt in Kulturkreise
Kulturkreise sind nach Huntington dynamisch, ohne scharfe Grenzen, und entwickeln sich weiter. Trotzdem unternimmt er den Versuch, Kulturkreise zu definieren. Jeder Kulturkreis hat einen Kernstaat bzw. einen potentiellen Kernstaat. Kernstaaten sind die Machtzentren der Kulturen.
Kulturkreise und Kernstaaten
- Sinisch - China
- Japanisch - Japan isoliert
- Hinduistisch - Indien
- Islamisch - Organisation der Islamischen Konferenz
- Slawisch-Orthodox - Russland
- Westlich - USA , EU (bzw. europäische Kernstaaten: Frankreich, Deutschland, (Großbritannien))
- Lateinamerikanisch?
Die Existenz eines lateinamerikanischen Kulturkreises stellt H. in Frage. Er sieht jedoch zwei Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung dieser Region:- eine Ausbildung eines eigenständigen Kulturkreises;
- Anbindung an den westlichen Kulturkreis.
- Afrikanisch?
(ohne die nordafrikanischen islamischen Regionen und den Nahen Osten).
Die Existenz eines (einheitlichen) afrikanischen Kulturkreises bezweifelt H. ebenfalls. Jedoch sieht er die Möglichkeit der Entwicklung eines eigenständigen afrikanischen Kulturkreises mit dem potentiellen Kernstaat Südafrika.
Relativer Machtverlust des Westens
Der Westen verliert an relativer Macht (u.a. durch Bevölkerungswachstum des Islams und das Wirtschaftswachstum Ostasiens). Außerdem sind der Universalitätsanspruch westlicher Werte (inklusive Menschenrechte) und das Gleichsetzen von Modernisierung und Verwestlichung nach Huntingtons Meinung falsch, gefährlich und unmoralisch.
Er fordert eine Neuordnung der Politik, die einer multipolaren, multikulturellen Welt gerecht wird. Unterschiede sollten akzeptiert und Gemeinsamkeiten gesucht werden. Der Minimalkonsens der Moral sei die – conditio humana. Verständnis und Kooperation sollten Priorität haben. Konkret nennt er die Umstrukturierung des UN-Sicherheitsrates (Ständige Sitze an die Kernstaaten der Kulturkreise) und eine neue "balance of power" die der Logik des Kalten Kriegs folgt (Kernstaaten sollen Atomwaffen besitzen – auf diese Weise könne die Macht im eigenen Kulturkreis gesichert werden und eventuell internationale Stabilität erreicht werden. Die Verbreitung von ABC-Waffen ließe sich auf diese Weise eindämmen oder verhindern).
Als wesentliches Problem des Westens, neben wirtschaftlichen und demographischen Fragen, stuft er auch das Problem des moralischen Verfalls, des "kulturellen Selbstmords" und der politischen Uneinigkeit ein. Zeichen dafür sieht er in folgenden Aspekten:
- Zunahme von asozialem Verhalten (Kriminalität, Drogenkonsum, generelle Gewalt)
- Verfall der Familie, damit zusammenhängend Zunahme von Ehescheidungen, uneheliche Geburten, Müttern im Teenageralter und Alleinerziehenden
- Rückgang des Sozialkapitals, d.h. die Freiwillige Mitgliedschaft in Vereinen, was das Schwinden des damit verbunden zwischenmenschlichen Vertrauens zur Folge hat
- Nachlassen des Arbeitsethos und zunehmender Egoismus
- abnehmendes Interesse an Bildung und geistiger Betätigung
Bruchlinienkonflikte
Kriege zwischen Gemeinschaften, Gruppen und Nationen unterschiedlicher Kulturkreise bezeichnet Huntington als Bruchlinienkriege (Friktionen). In Bruchlinienkonflikten bekommen die Primärbeteiligten Unterstützung von ihren kulturellen Verwandten.
- Ehemaliges Jugoslawien – Balkan-Konflikt, Beginn 1991:
Die kulturellen Gemeinschaftsidentitäten waren in Jugoslawien zur Zeit des kalten Krieges nicht stark ausgeprägt. Menschen unterschiedlicher Kulturkreise lebten friedlich zusammen. Kirchen und Moscheen wurden selten aufgesucht.
Huntington sieht eine wesentliche Ursache des Konfliktes im Zusammenbruch der übergreifenden jugoslawischen Identität. Dieser Umstand führte seiner Meinung nach dazu, dass die religiöse Identität an Bedeutung gewann und dass eine – für Bruchlinienkriege typische - Dynamik von Aktion - Reaktion, Druck und Gegendruck, die kulturellen Identitäten verfestigte und fokussierte.
Die Primärbeteiligten bekamen Hilfe von ihren kulturellen Verwandten. Eine Ausnahme war die Unterstützung der Bosnier durch die USA.
Bruchlinienkonflikte kochen nach Huntingtons Ansicht von unten nach oben hoch und Bruchlinienfrieden sickert von oben nach unten. Entsprechend können Primärparteien den Konflikt alleine nicht verhindern. Eine Verhinderung oder Deeskalation hängt von den Verhandlungen der Kernstaaten der großen Kulturkreise ab.
Kernstaatenkonflikte
Zwei oder mehrere Kernstaaten der großen Kulturkreise führen Krieg untereinander. Dieser Konflikttyp birgt die Gefahr eines dritten Weltkrieges, da neue Staaten jederzeit hinzukommen können. Eine weitere Quelle der Gefahr sieht Huntington in der Einmischung eines Kernstaates einer Kultur in den Konflikt innerhalb eines anderen Kulturkreises z.B. Einmischung Europas und der USA in den Nahostkonflikt.
Kritik
Huntingtons eurozentrischer und mehrheitlich konservativer Ansatz wird von der Friedensforschung kritisch gesehen, da er zu einer Rechtfertigung von Kriegen des Westens gegen die islamische Welt genutzt werden kann und keinen Handlungsspielraum offen lässt (self-fulfilling-prophecy). Auch ist die Definition des zentralen Begriffes "Kultur" unscharf, was viele vom Auge des Betrachters beeinflusste Auslegungen ermöglicht. Des Weiteren benutzt er die Begriffe "Kultur" und "Zivilisationen" synonym. Drittens ist zu fragen, was ist Moral? Wenn schon die Menschenrechte als gemeinsamer Konsens nicht gelten sollen?
Literatur
- Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. Simon & Schuster, New York 1998. ISBN 0-68484-441-9
Zur Ideengeschichte:
- Gazi Çağlar: Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen: der Westen gegen den Rest der Welt; Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Unrast, Münster 2002, ISBN 3-89771-414-0
- Roger Griffin: International Fascism. Theories, Causes, and the New Consensus. Arnold, London 1998. ISBN 0340706147
Weitere zivilistionsparadigmatische Literatur:
- Bassam Tibi: Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus. Hoffmann und Campe, Hamburg 1995. ISBN 3-45511-060-6
- Tony Blankley: The West's Last Chance. Will We Win the Clash of Civilizations? Regnery Publishing, Washington DC 2005. ISBN 0-89526-015-8
- Robert Spencer (Editor): The Myth of Islamic Tolerance. How Islamic Law Treats Non-Muslims. Prometheus Books, Amherst NY 2004, 2005. ISBN 1-59102-249-5
Weblinks
- Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations (Vollständige Wiedergabe des Artikels, den Samuel P. Huntington 1993 in Foreign Affairs veröffentlichte.)
Zur Kritik:
- Michael Schmidt-Salomon, Leitkultur Aufklärung ("Frankfurter Rundschau", 25. März 2006 - vgl. [1], [2])
- Niall Ferguson, Huntington liegt falsch ("Die Welt", 10.03.2006)
- Harald Müller, Eine Kritik an Huntingtons kulturalistischer Globaltheorie
- Andreas Neumann, Buchkritik: Kampf der Kulturen
- Jörg Steinhaus: Kampf der Kulturen: Nur ein neues Feindbild?
- Kulturkritisches Lexikon zu "Kampf der Kulturen" - vgl. [3]
- Eine sehr gefährliche Falle »Kampf der Kulturen« – mit dieser These schien Samuel P. Huntington vor 13 Jahren den Schlüssel zur Erklärung der Weltlage gefunden zu haben. Hilft sie uns heute weiter? Von Thomas Assheuer, In: Die Zeit Nr. 7 vom 9.2.2006
- Isolde Charim, Islam und Westen als Ideologie (TAZ, 24. Februar 2006)
- Wolfram Pfreundschuh, Gegen die Politisierung der Kultur im Kampf um die Weltordnung (Kulturkritik.net, 2004)
- Wolfram Pfreundschuh, Der sogenannte "Kampf der Kulturen" - eine ungeheuerliche Inszenierung (Kulturkritik.net, 2006)