Politikverdrossenheit
Der Begriff Politikverdrossenheit, auch Politikmüdigkeit, bezeichnet zwei verschiedene Arten negativer Einstellungen von Bürgern eines Staates:
- Politiker- und Parteienverdrossenheit als Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik einerseits und
- Politik- oder Staatsverdrossenheit als generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System und den demokratischen Institutionen andererseits.[1]
Politische Apathie und politisches Desinteresse können Folge negativer Erlebnisse im Zusammenhang mit politischen Verhältnissen und Vorgängen sein; sie können aber auch Ausdruck allgemeiner Zufriedenheit sein.[2] Insofern sind Desinteresse und Apathie nicht unbedingt Ausdruck einer Missstimmung, eines „Verdrusses“ an „der Politik“. Umgekehrt ist politisches Engagement, vom Ideal einer umfassenden politischen Teilhabe möglichst aller her betrachtet, nicht per se positiv zu bewerten, insbesondere dann nicht, wenn diesem Engagement rein destruktive, demokratiefeindliche Motive zugrunde liegen.
Unter Berücksichtigung der Parameter Zufriedenheit vs. Unzufriedenheit, Nähe vs. Distanz zur Politik und Partizipationsbereitschaft unterscheiden die Psychologen Janas und Preiser vier Typen:
- wenig Engagierte mit hoher politischer Unzufriedenheit („Resignierte“),
- wenig Engagierte mit hoher politischer Zufriedenheit („apathisch Zufriedene“),
- Engagierte mit hoher politischer Unzufriedenheit und eher unkonventioneller Partizipation („Revolutionäre“) und
- loyale und systemkonforme Engagierte mit geringer politischer Unzufriedenheit („Funktionäre“).
Zur vierten Gruppen gehören auch Anhänger von Oppositionsparteien, die mit der aktuellen Regierungspolitik zwar unzufrieden, aber zuversichtlich sind, einen Wandel durch einen Regierungswechsel herbeiführen zu können.
Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beklagte bereits 1966 die „Parlamentsverdrossenheit“, die sich anlässlich der Bundestagswahl 1965 gezeigt habe.[3] Der Vorwurf, Parlamente seien ineffektive „Schwatzbuden“, die dem „Willen des Volkes“ nicht Geltung verschafften, wurde in Deutschland bereits vor 1933 erhoben.
Obwohl die mit „Politikverdrossenheit“ erklärten Erscheinungen (mangelnde Beobachtung und/oder Ablehnung des Politikbetriebs) auch vor Fraenkels Analyse bekannt waren, tauchte der Begriff Ende der 1980er Jahre das erste Mal in der bundesdeutschen Debatte auf.[4] Die Gesellschaft für deutsche Sprache erklärte es 1992 zum Wort des Jahres und zwei Jahre später fand es Eingang in den Duden. Daneben sind auch verwandte Begriffe wie „Staats-“, „Politiker-“ oder „Parteienverdrossenheit“ entstanden.
Indizien für das Vorliegen einer weitverbreiteten Politikverdrossenheit
Politikverdrossenheit lässt sich vor allem am Sinken der Mitgliederzahlen politischer Parteien sowie an einer abnehmenden Wahlbeteiligung erkennen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass „apathisch Zufriedene“ im Sinne von Janas/Preiser (s.o.) nicht „verdrossen“ sind und „Revolutionäre“ im Sinne von Janas/Preiser sich nicht von der „Politik“ abwenden sowie dass politisches Engagement nicht nur darin besteht, die Aktivitäten von Parteien zu beobachten bzw. sich ggf. an diesen zu beteiligen.
In der „Bonner Republik“ verloren angesichts des Verbots der SRP (1952) und der KPD (1956) sowie der relativ geringen Stimmenzahl rechts- und linksextremer Parteien bei Bundestags- und Landtagswahlen (dezidiert rechte Parteien konnten sich nach den 1950er Jahren bis 1990 in bundesdeutschen Parlamenten nicht dauerhaft etablieren) viele aus den Augen, dass es immer auch „demokratieverdrossene“ Wahlberechtigte gab, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes ablehnten. Mit dem Beitritt der fünf neuen Länder zur BRD nahm der Anteil derer zu, die deren demokratischen System mit grundsätzlicher Skepsis, wenn nicht ablehnend gegenüberstanden.
Politik-/Parteienverdrossenheit in Deutschland
Seit Längerem ist neben der Politikverdrossenheit auch eine zunehmende Parteienverdrossenheit zu erkennen. Parteienverdrossene lehnen ausschließlich die Arbeit in und mit den Parteien, nicht aber unbedingt jedes politische Engagement ab. Rückläufige Mitgliederzahlen (siehe Tabelle), hoher Altersdurchschnitt der Mitglieder (2016 waren jeweils mehr als die Hälfte der CDU- und der SPD-Mitglieder über 60 Jahre alt[5]) und eine Abnahme der Stammwählerschaft zeigen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr so stabil ist wie zu Zeiten der Bonner Republik. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Rückgang der bedingungslosen Loyalität mit einer Partei, insbesondere einer Volkspartei, und die Zunahme der Zahl der Wechselwähler keine Symptome der Parteienverdrossenheit sind, da Wechselwähler lediglich einer anderen Partei ihr Vertrauen aussprechen, nicht aber allen Parteien misstrauen.
Wenn bekannt werde,
- dass Entscheidungen maßgeblicher Politiker offensichtlich weder auf Gewissensgründe zurückzuführen seien noch sich am Gemeinwohl orientierten, sondern Ausdruck von Lobbyismus seien,
- dass die Regierung bzw. die Fraktionsführung auf „Abweichler“ unter den Fraktionsmitgliedern Druck ausübe sowie
- dass immer wieder einzelne Politiker sich (aus der Sicht der Wahlberechtigten) unkorrekt verhielten,
dann führe das bei vielen Wahlberechtigten zu einer Ablehnung der „politischen Klasse“, der Politiker im Establishment, als Ganzer. Eine wichtige Rolle bei der Imageverschlechterung der politischen Klasse wird Massenmedien zugeschrieben, die angeblich den Eindruck erzeugten, unter Politikern gebe es überwiegend „schwarze Schafe“.
Jahresangabe (1990–2016) | Mitgliederzahlen von CDU, CSU, SPD, FDP, B90/Grüne, PDS/Die Linke in Tsd. |
---|---|
1990 | 2321,7 |
1991 | 2206,3 |
1992 | 2067,6 |
1993 | 1989,0 |
1994 | 1952,4 |
1995 | 1896,3 |
1996 | 1846,3 |
1997 | 1805,3 |
1998 | 1794,4 |
1999 | 1779,3 |
2000 | 1722,9 |
2001 | 1684,4 |
... | ... |
2008 | 1409,0 |
... | ... |
2011 | 1182,7 |
... | ... |
2016 | 1181,4 |
Eine zunehmende Parteienverdrossenheit zeigt sich in Deutschland auch im abnehmenden Ansehen der Politiker. Regelmäßig werden von Demoskopen Umfragen zum Ansehen bestimmter Berufsgruppen durchgeführt; dabei schneiden Politiker regelmäßig sehr schlecht ab.[6]
Politikverdrossenheit bei Jugendlichen
Bei Jugendlichen ist die Politikverdrossenheit ausgeprägt. Das Ergebnis der 14. Shell-Jugendstudie von 2002 lautet: „Inzwischen bezeichnen sich nur noch 30 % der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren als politisch interessiert. Für die Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren liegt für die Entwicklung des politischen Interesses im Rahmen der früheren Shell Jugendstudien eine Zeitreihe vor. Danach ist der Anteil der politisch interessierten Jugendlichen von 55 % im Jahre 1984 bzw. sogar 57 % 1991 inzwischen auf 34 % gesunken.“ Hierfür kann auch eine Politikerverdrossenheit verantwortlich gemacht werden.
Ein diskutiertes Thema ist, dass Jugendliche unter 18 Jahren kaum politische Mitspracherechte haben. Ihre Wünsche werden kaum beachtet, da sie nicht stimmberechtigt sind und somit ist diese Gruppe eben für Politiker „uninteressanter“. Ob die Herabsetzung des Wahlalters eine Lösung wäre, bleibt fraglich.
Gründe
Für die Entstehung und Ausprägung der Politikverdrossenheit werden verschiedene Gründe vorgebracht:
- Nicht eingehaltene Wahlversprechen:
Ein prominentes Beispiel eines nicht eingehaltenen Wahlversprechens ist die Mehrwertsteuererhöhung der großen Koalition 2007 um drei Prozentpunkte, obwohl die Koalitionäre vor der Wahl entweder nur eine Erhöhung um zwei Punkte oder gar keine Erhöhung angekündigt hatten.
Der Kommentar des damaligen Vizekanzlers der großen Koalition (2006) Müntefering (SPD), es sei „unfair“, die CDU und die SPD an ihren Wahlkampfversprechen zu messen, hat diesen Eindruck bei vielen Wählern noch verstärkt. Widerspruch dazu erfolgte weder von der SPD noch aus der CDU, weil Müntefering ein Dilemma anspricht: Mehrheiten bei einer Wahl erhalten grundsätzlich nur solche Parteien, die Wahlberechtigte vor der Wahl nicht durch Aussagen vor den Kopf stoßen, die sie nicht hören wollen.
In der jüngeren deutschen Geschichte war beispielsweise nach der Wiedervereinigung der Bundesrepublik mit der DDR eine zunehmende Politikverdrossenheit zu beobachten. So titelte die „Berliner Zeitung“ am 1. Juni 1992: „Kaum befreit und schon verdrossen“. Zur allgemeinen Wirtschaftsflaute kamen noch die hohe Staatsverschuldung, Parteien- und Finanzskandale, Flüchtlingsprobleme, wachsende Arbeitslosigkeit und die massenhafte Schließung von Betrieben im Osten sowie ganz allgemein die Enttäuschung über vollmundige (Wahl-)Versprechungen und deren spätere Relativierung oder Zurücknahme. Prominentes Beispiel ist das Versprechen des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl am 21. Juni 1990 (während der Debatte zum Zwei-plus-Vier-Vertrag im Bundestag): „Nur der Staatsvertrag gibt die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Sachsen bald wieder zu blühenden Landschaften werden können ...“.
Zumindest auf Bundesebene besitzen lediglich Parteien das Recht, Kandidaten nach dem Verhältniswahlrecht aufzustellen. Vielen politisch Engagierten reichen die Möglichkeiten zur politischen Beteiligung nicht, die das Grundgesetz ermöglicht, z.B. die Mitarbeit in einer Partei, das Recht, gewaltfrei zu demonstrieren, Leserbriefe zu schreiben, Blogs einzurichten und vor Gericht sein Recht zu erstreiten und so Parteipolitikern bei Bedarf großen Ärger zu bereiten.
Seitdem Willy Brandt als Bundeskanzler nach der Bundestagswahl 1969 seine Regierungserklärung unter das Motto gestellt hatte: „Mehr Demokratie wagen!“ und insbesondere nach der Wiedervereinigung wurde und wird immer wieder diskutiert, die seit 1949 nicht gefüllte Leerstelle des Art. 20 Abs. 2 GG zu füllen (wo von „Wahlen und Abstimmungen“ die Rede ist) sowie die direkte Wahl des Bundespräsidenten in das Grundgesetz aufzunehmen. Mit Hinweis auf die Erfahrungen der Weimarer Zeit werden von einer Minderheit der Historiker und Politiker basisdemokratische Elemente abgelehnt. Manche Wähler fühlen sich ohnmächtig und entmündigt.[7]
So haben beispielsweise diejenigen, die bei der Bundestagswahl 2017 die AfD gewählt haben, die mit dem Wahlslogan: „Merkel muss weg!“ für sich geworben hatte, paradoxerweise bewirkt, dass nur eine Regierung unter Führung von Angela Merkel in der 19. Wahlperiode des Bundestags die notwendige Mehrheit zum Regieren erhalten hat.
- Fehler in der Politik:
Viele Beobachter sehen den Hauptgrund für Politikverdrossenheit nicht bei den Bürgern, die falsche Erwartungen haben könnten, sondern bei „der Politik“ und „den Politikern“.
Politikern wird oft mangelnde Volksnähe vorgeworfen: Inwiefern Parteien und Politiker, die in den Parlamenten die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten sollen, bei der Entscheidungsfindung ihre Aufgabe als Delegierte des Volkes wahrnehmen oder vernachlässigen, wird von Bürgern oft sehr unterschiedlich bewertet. Das Resultat parlamentarischer Arbeit ist häufig nicht konform mit den Wünschen derer, die eine Regierungspartei gewählt haben.
Wer sich wünscht, auf das operative Geschäft gewählter Politiker maßgeblich Einfluss nehmen zu kennen, verkennt jedoch das Wesen der repräsentativen Demokratie. Durch die Wahl erhielten Mandatsträger das Mandat, an Stelle der Wähler die massgeblichen Entscheidungen zu treffen. Sie werden in den für eine Sachfrage zuständigen Ausschüssen von Fachleuten beraten. Das Hauptproblem liegt hier in der mangelnden Transparenz dieses Vorgangs für Außenstehende. Weil sie nicht nachvollziehen können, wie eine Entscheidung zustande gekommen ist, identifizieren sich viele Bürger nach der Wahl nicht mit dem Abgeordneten oder der Partei, die sie gewählt haben.
Zudem kann ein „Reformstau“, also das zu langsame Reagieren auf aktuelle Anforderungen, zu einem Vertrauensverlust gegenüber den Volksvertretern beitragen, wenn Wähler in den Politikern der Regierungsparteien die für den Stau Verantwortlichen sehen, was in der Regel der Fall ist, obwohl in Zeiten der Globalisierung und der Vorgaben von Richtlinien der EU Entscheidungsspielräume von Politikern in Deutschland oft kleiner sind, als sie zuzugeben bereit sind.
Auch greifen wichtige Regelungen, wie zur Finanzierung der Renten oder der Gestaltung des Gesundheitssystems, nach Ansicht vieler Wahlberechtigter nicht schnell genug oder gar nicht. Die Gemeinschaftsaufgaben werden ihrer Ansicht nach nicht gelöst, und es stellt sich enttäuschten oder wütenden Bürgern die Frage nach der Kompetenz der Parteien. Diese Situation korreliert mit der Existenzangst vieler Menschen, die diese oft auf „die Politik“ zurückführen.
- Eigeninteresse der Politiker:
Als weiterer Grund wird angenommen: Zunehmendes Eigeninteresse der Parteien, Macht und Geld stehen im Vordergrund und nicht das Wohlergehen des Staates und der Wähler. Menschen fühlen sich entmündigt angesichts der scheinbaren Allmacht des Beamtenstaates. Vertrauensverlust und Ablehnung der Parteien sind die Folge. Der persönliche Bezug zu den Volksvertretern ist fast vollständig verloren gegangen.[8] Viele Menschen haben das Gefühl, dass es den Politikern mehr um die eigene Inszenierung und eigene Interessen geht als um die konstruktive Lösung von Problemen.
- Parteien treffen nicht die Anliegen der Wähler:
Das Eisverkäufer-am-Strand-Problem wird ebenfalls als Erklärungsmodell für Politikverdrossenheit verwendet. Im Zwei-Parteien-System der USA lässt sich mit dem Modell zeigen, dass Parteien Wähler außerhalb der Mitte aus taktischen Gründen weitgehend ignorieren, da sie sich vom sogenannten Medianwähler die meisten Stimmen erhoffen. Allerdings eignet sich das Modell nur bedingt, die Situation in den meisten europäischen Ländern zu beschreiben. So besetzen beispielsweise in Deutschland zunehmend kleine Parteien politische Nischen (FDP, Die Linke, Bündnis 90/Grüne), während der Stimmenanteil der beiden großen Volksparteien CDU und SPD in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen hat. Diese Zersplitterung trägt möglicherweise dem Streben der großen Parteien zur Mitte Rechnung und sollte daher die negativen Effekte auf Randwähler kompensieren.
- Mangelnde Bildung:
Insbesondere unter Jugendlichen, aber auch unter Bürgern mit einem geringen Ausbildungsstand dürfte auch die zunehmende Komplexität politischer Entscheidungen zu einem wachsenden Desinteresse an Politik beitragen. Hier ist es Aufgabe des Staates, die politische Bildung zu fördern und dadurch mehr Menschen zur Partizipation zu bewegen. Als empirisch erwiesen gilt nämlich, dass mit wachsendem Bildungsgrad das Engagement für gesellschaftliche Belange zunimmt.
- Gleichheit aller Parteien:
Bürger erkennen nicht mehr die Unterschiede zwischen den großen Parteien. Es wird behauptet, dass sich die Politik in wesentlichen Fragen kaum noch unterscheide. Da unabhängig davon, welche Partei regiert, die gleiche Politik betrieben werde, scheint es aus ihrer Sicht nicht mehr sinnvoll zu sein, noch als „Stimmvieh“ zur Wahl zu gehen. Die „Wahl“ erscheint also nicht mehr als tatsächliche Wahl zwischen Alternativen, sondern nur noch als Legitimation bestehender Politik. So bleibe dem Bürger, wenn er dem politischen Kurs nicht zustimmt, mangels Alternativen nur die Verweigerung seiner Stimme.
- Rolle der Medien:
Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Grund der Politikverdrossenheit liegt bei den Medien. Ihnen muss aufgrund ihrer vermittelnden Stellung zwischen der Politik und den Bürgern eine Mitverantwortung zugeschrieben werden. Besonders die Tendenz zur überwiegend negativen Berichterstattung schürt bei den Bürgern die Vorstellung einer generell misslichen Lage sowie politischer Inkompetenz. Ebenso problematisch muss die Konflikt- und Skandalbetonung in der Medienberichterstattung gewertet werden. Politik wird vermehrt als „Streiterei“, „Nullsummenspiel“ oder auch als wenig konstruktives Zusammenwirken demokratisch gewählter Repräsentanten dargestellt. Skandale mögen zwar eine wichtige, demokratieerhaltende Funktion besitzen, können jedoch gleichsam zu Vertrauensverlust führen. Insofern ist die Häufung von Medienskandalen als eher problematisch zu beurteilen. Analoges gilt für die wachsende Tendenz, den Anteil unterhaltsamer, oberflächlicher Berichte (z. B. Homestorys, Privatleben von Politikern, etc.) zu Lasten substanzieller Information auszubauen. Dies fördert die Abkehr von der Politik, Politikverdrossenheit und schließlich eine abermals erhöhte Nachfrage nach Unterhaltungsprogrammen (Stichwort: Eskapismus). Das Verhalten der Medienkonsumenten darf somit als mitbestimmender Faktor gesehen werden. Die Einführung des kommerziellen Fernsehens habe, so Hans J. Kleinsteuber, als ein wichtiger Grund bei den Jugendlichen dazu geführt, dass unter ihnen heute zwei Drittel politisch desinteressiert seien; „im Privatfernsehen herrschen Sensation, Klatsch und Tratsch“, „die Welt der Politik“ hingegen lebe „von Fakten, Zahlen und nüchternen Sachverhalten“. Diesem Anspruch an Seriosität und Qualität werde auch das gesamte heutige Medien-„Infotainment“ nicht gerecht[9].
- Demokratisches Ethos
2016 behauptete Christian Schlüter von der Frankfurter Rundschau, dass es in breiten Kreisen der Bevölkerung die Haltung gebe: „Demokratie ist nicht unbedingt notwendig, Hauptsache der Laden läuft.“[10] Es sei also ein Mangel an „demokratischem Ethos“ beobachtbar. In den USA zum Beispiel, so Schlüter, betrachteten die Menschen, die zwischen den Weltkriegen geboren worden seien, eine demokratische Regierung wie einen heiligen Wert. Gebeten, auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten, wie ,wesentlich‘ es für sie sei, in einer Demokratie zu leben, wählten 72 Prozent die 10. In Europa seien es immer noch 55 Prozent. Bei den ab 1980 geborenen Europäern votierten dagegen nur noch 45 Prozent für eine 10, in den Vereinigten Staaten knapp über 30 Prozent. Schlüter schlussfolgert daraus, dass die Demokratie mit dem Nachwuchs auch ihre Zukunft verliere.
Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Prozess der Globalisierung bzw. Europäisierung, der nicht nur die wirtschaftspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Regierungen und erst recht der Regierungen von Ländern und der zugehörigen Parlamente gegen Null tendieren lässt. Jede Regierung müsse „unabweisbaren Sachzwängen“ folgen (z.B. EU-Richtlinien sinnentsprechend in nationales bzw. Landesrecht überführen), und es sei daher gleichgültig, wer die Regierung stelle.
Literatur
Aufsätze
- Kai Arzheimer: Politikverdrossenheit – eine Frage der Persönlichkeit? Der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsfaktoren und Verdrossenheitseinstellungen. In: Siegfried Schumann, Harald Schoen (Hrsg.): Persönlichkeit. Eine vergessene Größe der empirischen Sozialforschung. VS, Wiesbaden 2005, S. 193–207. (Manuskriptversion auf kai-arzheimer.com; PDF; 183 kB).
- Peter Lösche: Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler. In: ZParl. 26, 1995, S. 149–159.
- Peter Lösche: Parteienstaat Bonn – Parteienstaat Weimar? Über die Rolle von Parteien in der parlamentarischen Demokratie. In: Eberhard Kolb, Walter Mühlhausen (Hrsg.): Demokratie in der Krise. Parteien im Verfassungssystem der Weimarer Republik. Oldenbourg, München 1997, S. 141–164.
- Wolfgang Gaiser, Martine Gille, Winfried Krüger, Johann de Rijke: Politikverdrossenheit in Ost und West? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). B 19–20/2000.
- Brigitte Geißel, Virginia Penrose: Dynamiken der politischen Partizipation und Partizipationsforschung – Politische Partizipation von Frauen und Männern. In: gender ...politik...online. 2003. (online)
- Hans-Joachim Nitzsche: Politikverdruss – Mein Leben in einem bürokratischen Narrenhaus. ISBN 978-3-8391-1338-7.
Monographien
- Kai Arzheimer: Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs. Westdeutscher Verlag, Opladen 2002 ISBN 3-531-13797-2. (PDF-Datei; 1,23 MB)
- Ulf C. Goettges, Martin Häusler: Du sollst den Wähler für dumm verkaufen - Die 10 ungeschriebenen Gebote der Politik. Bastei Lübbe, Köln 2013, ISBN 978-3-404-60753-2.
- Iris Huth: Politische Verdrossenheit: Erscheinungsformen und Ursachen als Herausforderungen für das politische System und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert. Dissertation. Universität Münster 2003. LIT, Münster 2004, ISBN 3-8258-8183-0 (Politik und Partizipation, 3).
- Gert Pickel: Jugend und Politikverdrossenheit. Zwei Kulturen im Deutschland nach der Vereinigung. Leske + Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-3580-7. (Reihe: Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas. Band 2).
- 14. Shell Jugendstudie: Jugend 2002 – Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. Fischer, Frankfurt am Main, ISBN 3-596-15849-4.
- Jens Wolling: Politikverdrossenheit durch Massenmedien? Der Einfluss der Medien auf die Einstellungen der Bürger zur Politik. Westdeutscher Verlag, Opladen 1999.
- Philip Zeschmann: Wege aus der Politiker- und Parteiverdrossenheit. Demokratie für eine Zivilgesellschaft. Pro-Universitate-Verlag, Sinzheim 2000, ISBN 3-932490-70-3.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Silvia Janas / Siegfried Preiser: Lexikon der Psychologie: Politikverdrossenheit. spektrum.de. 2000
- ↑ Klaus Christoph: Politikverdrossenheit. Bundeszentrale für politische Bildung. 6. Januar 2012
- ↑ Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien. 4. Auflage. Stuttgart 1968, S. 69ff.
- ↑ Blätter für deutsche und internationale Politik: Demokratie ohne Volk, Juli 2010
- ↑ Oskar Niedermayer: Die soziale Zusammensetzung der Parteimitgliederschaften. Bundeszentrale für politische Bildung. 7. Oktober 2017
- ↑ Forschungsgruppe Weltaunschauungen in Deutschland (forwid): Berufsprestige 2013 -2016. 2. Februar 2017
- ↑ Johannes Heinrichs: Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit. Die „Revolution der Demokratie“ in Kürze. Steno, München [u. a.] 2005, ISBN 954-449-201-1 Onlineversion (PDF; 1,01 MB)
- ↑ Stiftung für Zukunftsfragen - eine Initiative von British American Tobacco: Was die Bundesbürger für 2016 erwarten – Rückkehr der „German Angst“, Forschung Aktuell, 265, 36. Jg., 16. Dezember 2015.
- ↑ Schleswig-Holstein-Journal vom 16. Oktober 2010
- ↑ Christian Schlüter Demokratieverdrossenheit: Der Demokratie fehlt der Nachwuchs. fr.de. 26. Juli 2016