Zum Inhalt springen

Alfred Russel Wallace

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 6. Juni 2006 um 19:16 Uhr durch Holger.waechtler (Diskussion | Beiträge) (Anti-Vaccination-Kampagnen). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Alfred Russel Wallace im Jahr 1912

Alfred Russel Wallace (* 8. Januar 1823 in Usk, Monmouthshire; † 7. November 1913 in Broadstone, Dorset) war Naturforscher, Philosoph, Sozialist und Aktivist der englischen und irischen Landreformbewegung.

Unabhängig, und doch gemeinsam mit Charles Darwin erarbeitete und propagierte er die moderne Evolutionstheorie. Er gilt als Begründer der Biogeographie und Wegbereiter der Ökologie. Die Wallace-Line im Malayischen Archipel trägt seinen Namen. Wallace bereiste in den Jahren 1848 bis 1852 das Amazonasgebiet. Von 1854 bis 1860 besuchte er das Malayische Archipel. Er betrieb umfangreiche Studien und sandte nicht weniger als 125.660 gesammelte und präparierte Exemplare gesammelter Arten nach England.

Wallace verstand sich zeitlebens als leidenschaftlicher Darwinist, widersprach energisch eugenischen Ideen und entwarf in seinen soziologischen Aufsätzen die Utopie eines gerechten demokratischen Sozialstaates, basierend aud evolutionären Prinzipien.

Leben & Reisen

  • 8. Januar 1823 geboren als achtes von 9 Geschwistern in Usk, Monmouthshire
  • 1828 Umzug der Familie nach Hertford, Schüler der Hertford Grammar School
  • 1836 Wallace muss, nachdem die Familie bankrott ist, die Schule verlassen
  • 1837 Umzug zu Bruder John (Bauunternehmer) nach London, Kontakt mit Robert Owen's Ideen
  • 1837 Beginn der Arbeit im Vermessungsgeschäft seines Bruders William, Uhrmacherlehre
  • 1839 Selbststudium Mathematik und Geometrie, Lektüre des ersten Botanikbuches
  • 1843 Tod des Vaters
  • 1843-1844 Lehrer von „junior classes“ in Leicester
  • 1844 Alfred trifft in Leicester seinen späteren Reisepartner Henry Walter Bates, beginnt Insekten zu sammeln
  • 1846 Bruder William stirbt, Zusammenarbeit mit Bruder John, erneut als Landvermesser, Architekturprojekt
  • 1848-1852 Reise nach Südamerika, Verlust der gesamten Sammlung durch Schiffbruch auf der Heimreise
  • 1853 Veröffentlichung Narrative of Travels on Amazon and Rio Negro
  • 1854-1862 Reise nach Singapur, Aufenthalt und Sammlung im Malayischen Archipel
  • 1855 Sarawak-Paper
  • 1858 Ternate-Essay
  • 1864 Wallace lernt seine spätere Frau Annie Mitten kennen, wird Assistenzsekretär bei der Royal Geographical Society
  • 1865 Heirat mit Annie Mitten, in den folgenden Jahren werden sie 3 Kinder zeugen
  • 1869 Veröffentlichung The Malay Archipelago
  • 1879 finanzielle Probleme. Wallace schreibt für die Encyclopedia Britannica
  • 1881 Veröffentlichung Land Nationalization, beantragt Civil List Pension von 200₤
  • 1885 Veröffentlichung Bad Times
  • 1886-1887 Vortragsreihe in Nordamerika: New York, Boston, Washington, San Francisco, Yosemite, Nevada, Quebec
  • 1889 Veröffentlichung Darwinism
  • 1897 Vorlesungen in der Schweiz: Davos
  • 1899 Antikriegs-Essays
  • 1913 Veröffentlichungen The Revolt of Democracy und Social Environment and Moral Progress
  • 7. November 1913 Alfred Russel Wallace stirbt in Dorset

Der junge Wallace: Self-Education, Landvermesser und Juniorarchitekt

Alfred's Vater, Thomas Vere Wallace, verbringt die meiste Zeit bis zu seiner Heirat im Müßiggang, als „non-practising lawyer“. Das süße Leben findet ein abruptes Ende in der Begegnung mit seiner späteren Frau Mary Anne Greenell im Jahr 1807. Er gibt ein aufwendig gestaltetes Literatur- und Kunstmagazin heraus; aufgrund des geringen kommerziellen Erfolges muss die Familie mehrmals den Wohnort wechseln, zuletzt nach Usk, Monmouthshire, wo der Lebensunterhalt sehr günstig ist.¹

Hier wird Alfred Russel Wallace am 8. Januar 1823 als achtes von insgesamt neun Geschwistern geboren (5 Schwestern, 3 Brüder). 1828 zieht die Familie nach Hertford. In den Jahren darauf folgt ein weiteres finanzielles Desaster, als der Vater einen Großteil des verbliebenen Vermögens der Familie einem „Freund“ anvertraut, der es in einer Reihe von erfolglosen Investitionen verliert. Alfred ist zu dieser Zeit Schüler der Hertford Grammar School, er gibt jüngeren Schülern Nachhilfe in Lesen, Arithmetik und Schreiben. Sein Vater arbeitet inzwischen in der örtlichen Bibliothek und ist Mitglied eines Buchclubs, so wird die Familie immer mit Büchern versorgt. Alfred liest sehr viele Reiseerzählungen, auch Comics und Lyrik.²

Das Neath Mechanics Institute

Ende 1836, im Alter von 13 Jahren, verlässt Alfred die Schule und zieht nach London zu seinem Bruder John. Hier arbeitet er zeitweise in einem Bauunternehmen. Die beiden Brüder verbringen ihre Abende oft in der Hall of Science, einer Art Intellektuellenclub, der vor allem von Arbeitern, frühen Sozialisten und Anhängern von Robert Owen frequentiert wird. In dieser Zeit liest er Age of Reason von Thomas Paine. Noch im selben Jahr folgt ein weiterer Umzug zu seinem Bruder William nach Bedfordshire, der dort ein Landvermessungsbüro betreibt. Alfred arbeitet bis 1843 (abgesehen von der kurzen Zeit seiner Uhrmacherlehre, die er bald wieder abbricht) mit William zusammen, sie ziehen durchs Land, immer den Aufträgen hinterher. Im April 1843 stirbt der Vater.³

Die Landvermessungsgeschäfte laufen in dieser Zeit nicht so gut. Deshalb sieht sich Alfred nach einem neuen Job um, er findet Arbeit als Lehrer für „junior classes“ in Leicester. Er bleibt nur ein Jahr, doch hier lernt er 1844 seinen späteren Reisebegleiter Henry Walter Bates, einen enthusiastischen Schmetterlings- und Käfersammler, kennen. Alfred lässt sich begeistern und beginnt ebenfalls mit dem Sammeln. In der Bibliothek von Leicester liest Alfred die Arbeiten von Humboldt und Malthus.

1846 stirbt sein Bruder William. Zusammen mit John folgt noch einmal eine kurze Tätigkeit als Landvermesser in Neath, auch ein Architekturprojekt: sie entwerfen das Neath Mechanics Institute & Library.

Der reisende Naturforscher, Biologe und Biogeograph

Der junge Alfred Russel Wallace im Alter von 24 Jahren

Vermutlich in den Jahren zwischen 1842 und 1846 las Wallace die Reiseberichte von Alexander von Humboldt und Charles Darwin. Nach der Lektüre von W.H. Edward's A Voyage up the Amazon beschließen Bates und Wallace im Jahr 1847, nach Pará (heute Belém) zu reisen, nicht ohne sich zuvor beim Verantwortlichen der Schmetterlingssammlung des British Museum zu vergewissern, dass in dieser Gegend noch viele unentdeckte Arten zu erwarten sind, und dass man die Reisekosten aus dem Verkauf doppelt gesammelter Exemplare begleichen können wird.

Südamerika

Die Überfahrt startet auf der Barke Mischief im Jahr 1848. In den folgenden 4 Jahren sammeln Wallace und Bates an Amazonas und Rio Negro, bei Barra, Sao Joaquin, Vaupes. Meist gehen sie getrennte Wege, Wallace wird zeitweise von seinem Bruder Herbert begleitet, bis dieser Ende Mai 1851 am Gelbfieber stirbt. Auch auf der Rückreise nach England verfolgt sie das Pech: auf dem mit Kautschuk beladenen Schiff, der Helen, bricht ein Feuer aus. Es sinkt, und mit ihm die gesamte Sammlung. Wallace kann nur einige wenige Zeichnungen ins Beiboot retten, aus dem sie 10 Tage später von der Jordeson aufgenommen werden (die auf der Rückreise in einen Sturm gerät und ebenfalls beinahe sinkt). So kann er nur einen kurzen Reisebericht schreiben, die Narrative of Travels on Amazon and Rio Negro. Es werden 750 Exemplare gedruckt.

Doch immerhin bringt dieser ihm einige Aufmerksamkeit und Kontakte ein. So lernt Wallace nach seiner Rückkehr in London Thomas Henry Huxley kennen, und in der Insektensammlung des Natural History Museum kommt es zu einem kurzem Zusammentreffen mit Charles Darwin.

Nur aufgrund des Engagements ihres Agenten, der ohne das Wissen der beiden Naturforscher die Sammlung über 200₤ versichert hatte, entgehen sie einem finanziellen Desaster. Wallace schätzt später die wirklichen Verluste auf etwa 500₤.

Das Malayische Archipel

Während seiner Besuche in den Vogel- und Insektensammlungen des British Museum komm Wallace zur Überzeugung, dass die Inselgruppen des Malayischen Archipel, von denen man bisher kaum mehr weiß, als dass sie eine unglaublich reiche Artenvielfalt beherbergen, wohl das lohnendste Ziel für einen Sammler und Naturforscher sein müsse.

Doch Reisen in den Osten sind teuer. Durch die Hilfe des Präsidenten der Royal Geographical Society, Roderick Murchison, bekommt er ein Ticket nach Singapur Anfang 1854, und wird die folgenden 8 Jahre mit Sammlungen und Forschungen im Malayischen Archipel verbringen. Nach Singapur bereist er Malacca, Borneo, Java, Sumatra, Bali, Lombok, Timor und Celebes, die Molukken und Papua-Neuguinea. Er sammelt und katalogisiert nicht weniger als 125.660 Arten, und sendet diese nach England.

Das Sarawak-Paper

Nachdem Wallace einige Zeit mit dem Sammeln auf der malayischen Halbinsel verbracht hat, reist er nach Sarawak auf Borneo, wo er sich mehr als ein Jahr mit weiteren Sammlungen und der Beobachtung von Orang-Utans beschäftigt. Hier verfasst er im Februar 1855 seine erste bedeutende wissenschaftliche Arbeit, die später als „Sarawak-Paper“ bekannt werden wird — der vollständige Titel lautet: On the Law Which Has Regulated the Introduction of New Species.¹⁰

Inhalt

In diesem Aufsatz leitet Wallace das Prinzip der langsamen, kontinuierlichen und graduellen Entwicklung der Arten aus den von Charles Lyell in seinem Buch Principles of Geology zusammengestellten allgemein anerkannten geologischen Beobachtungen ab:

Every species has come into existence coincident both in space and time with a pre-existing closely allied species.

So selbstverständlich dieser Satz in späteren Zeiten klingen wird, so revolutionär ist 1855 die Idee einer kontinuierlichen, graduellen Evolution des Lebens mit all ihren Implikationen: Da alle Arten miteinander zusammenhängen, und jede Art jeweils aus einer nahe verwandten, ähnlichen Art entstanden sein muss, ist auch die Entstehungsgeschichte des Lebens eine Folge von graduellen, kontinuierlichen Entwicklungen. In seinen Erläuterungen beschreibt er das Klassifizierungssystem der natürlichen Arten bereits als Baum, dessen Blätter, Äste, Verzweigungen und Stamm die (möglicherweise zum Teil schon ausgestorbenen, nicht mehr existierenden) Arten darstellen, die ihre gemeinsame Wurzel in Antitypen, d.h. Urtypen haben müssen — eine Interpretation, die allgemein Darwin zugeschrieben wird, der diese Darstellung später im Origin of the Species (1859) visualisieren wird:

Again, if we consider that we have only fragments of this vast system, the stem and main branches being represented by extinct species of which we have no knowledge, while a vast mass of limbs and boughs and minute twigs and scattered leaves is what we have to place in order, and determine the true position each originally occupied with regard to the others, the whole difficulty of the true Natural System of classification becomes apparent to us.
(Alfred Russel Wallace, On the Law Which Has Regulated the Introduction of New Species, In: Annals and Magazine of Natural History, Volume 16, 1855, p. 187, online [1])

Reaktionen

Der Text wird im September 1855 in den Annals and Magazine of Natural History abgedruckt. Das Echo ist gering, jedoch zeigt sich Charles Darwin in einem Brief beeindruckt, und merkt an, dass auch ihn dieses Thema seit langem beschäftigt:

By your letter, and even still more by your paper in the Annals, a year or more ago, I can plainly see that we have thought much alike and to a certain extent have come to similar conclusions. In regard to the paper in the Annals, I agree to the truth of almost every word of your paper; and I daresay that you will agree with me that it is very rare to find oneself agreeing pretty closely with any theoretical paper; for it is lamentable how each man draws his own different conclusions from the very same fact. This summer will make the twentieth year (!) since I opened my first note-book on the question how and in what way do species and varieties differ from each other. I am now preparing my work for publication, but I find the subject so very large, that though I have written many chapters, I do not suppose I shall go to press for two years. — Letter from C. Darwin to A.R. Wallace, May 1, 1857
(James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. I, p. 129-130, online [2])

Das Ternate-Essay

Im Januar 1858 erreicht Wallace die Molukkischen Gewürzinseln. Seit Monaten wird er von Fieber geplagt. Hier soll die Idee entstehen, die im fernen England einen wahren Erdrutsch von Ereignissen auslösen wird — hier schreibt Alfred Russel Wallace sein Essay On the Tendency of Varieties to depart indefinitely from the Original Type.¹¹

Inhalt

Unter Naturforschern des 19. Jahrhunderts ist allgemein anerkannt, dass es innerhalb der Arten varieties, d.h. Variationen gibt, die verständlicherweise auch einen Einfluss auf das Leben und die Möglichkeiten der Individuen haben — schließlich machen genau diese kleinen Änderungen die Haustierzucht möglich. Auch Wallace sind auf seinen Reisen immer wieder geographische Variationen — gekennzeichnet durch kleine Unterschiede in Färbung und Körperbau — aufgefallen, die doch nicht bedeutend genug sind, um als eigene Art gelten zu können. Wallace vermutet nun, dass species, also Arten, nichts anderes als varieties sind, die sich weit genug vom original type, der ursprünglichen Art, entfernt haben, um als neue, stabile und eigenständige Art zu gelten. Doch wie wird das Zusammenspiel dieser ständigen graduellen Variationen, sowohl zwischen den Individuen als auch zwischen den Arten, geregelt und stabilisiert, sodass wir den Eindruck einer nahezu konstanten Artenvielfalt haben? Und doch so dynamisch und divergent, dass sich aus Variationen immer neue Arten bilden konnten?

Da sich Populationen in der Natur im geometrischen Verhältnis fortpflanzen (d.h. mit im statistischen Mittel konstanter Zahl von Nachkommen pro Individuum oder Elternpärchen), müssten in kürzester Zeit gigantische Populationen entstehen. Wallace beschreibt am Beispiel von Vögeln, die 2-10 Nachkommen pro Jahr zeugen, dass sich ein einzelnes Pärchen innerhalb von nur wenigen Jahren millionenfach vermehren würde. Da uns jedoch die Zahl der existierenden Tiere nahezu konstant erscheint, muss es einen Regelmechanismus geben, der die Natur im Gleichgewicht hält. Im Februar 1858, kommt ihm die entscheidende Idee. Inspiriert durch die Texte von Thomas Robert Malthus und Robert Chambers, beschreibt Wallace das Leben der wilden Tiere, und auch das Bestehen ganzer Arten in der Natur als struggle for existence. Evolutionsbiologen werden dies später als das Prinzip der Selektion bezeichnen:

The life of wild animals is a struggle for existence. The full exertion of all their faculties and all their energies is required to preserve their own existence and provide for that of their infant offspring. The possibility of procuring food during the least favourable seasons, and of escaping the attacks of their most dangerous enemies, are the primary conditions which determine the existence both of individuals and of entire species.
(Alfred Russel Wallace, On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely From the Original Type, In: Proceedings of the Linnean Society, Volume 3, 1858, p. 53-62, quoted from p. 54, online [3])

Dieses Prinzip sorgt „ganz nebenbei“ für die Anpassung, die Adaption, der Arten an ihre Umwelt. Er regelt die Balance zwischen den Individuen einer Art, und die Verbreitung der Arten:

Now it is clear that what takes place among the individuals of a species must also occur among the several allied species of a group, — viz. that those which are best adapted to obtain a regular supply of food, and to defend themselves against the attacks of their enemies and the vicissitudes of the seasons, must necessarily obtain and preserve a superiority in population; while those species which from some defect of power or organization are the least capable of counteracting the vicissitudes of food, supply, &c., must diminish in numbers, and, in extreme cases, become altogether extinct. Between these extremes the species will present various degrees of capacity for ensuring the means of preserving life; and it is thus we account for the abundance or rarity of species.
(Alfred Russel Wallace, On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely From the Original Type, In: Proceedings of the Linnean Society, Volume 3, 1858, p. 53-62, quoted from p. 57, online [4])

Ein durch dieses Prinzip geregeltes Gleichgewicht in der Natur (Wallace verwendet zur Verdeutlichung das Sinnbild des centrifugal governor of the steam engine, which checks and corrects any irregularities almost before they become evident, des Zentrifugalreglers von Dampfmaschinen, der Unregelmäßigkeiten ausgleicht, beinahe bevor sie sichtbar werden) geht weit über das hinaus, was Darwin ein Jahr später in seiner Theorie beschreiben wird — ein vergleichbarer Mechanismus, der die Artenvielfalt kontinuierlich ausbalanciert, fehlt in Darwins Darstellung der Evolutionstheorie. Das Prinzip der divergenten graduellen Variation, der Veränderung von existierenden Arten in winzigen, ungerichteten Schritten weg von ihrem Ursprung, dem original type, wird also durch ein natürliches System von checks and balances geregelt und stabilisiert. Es erklärt, so glaubt Wallace, die Entstehung und scheinbare Konstanz der Artenvielfalt, so wie wir sie erleben:

This progression, by minute steps, in various directions, but always checked and balanced by the necessary conditions, subject to which alone existence can be preserved, may, it is believed, be followed out so as to agree with all the phenomena presented by organized beings, their extinction and succession in past ages, and all the extraordinary modifications of form, instinct, and habits which they exhibit.
(Alfred Russel Wallace, On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely From the Original Type, In: Proceedings of the Linnean Society, Volume 3, 1858, p. 53-62, quoted from conclusion on p. 62, online [5])

Am 1. März 1858 verfasst Wallace das Begleitschreiben zu seinem Manuskript und sendet den Brief nach England, an Charles Darwin, mit der Bitte, sein Manuskript, falls er die Ausführungen für sinnvoll hält, an Charles Lyell weiterzuleiten. Das Postschiff legt am 9. März in Ternate ab, mit diesem Brief und einem Schreiben an den Bruder seines alten Reisegefährten, Bates.¹²

Reaktionen

In London schlägt das Papier ein wie eine Bombe. Darwin sendet den Aufsatz weiter an Lyell mit der Bemerkung: „I never saw a more striking coincidence; if Wallace had my MS. sketch written out in 1842, he could not have made a better short abstract! Even his terms now stand as heads of my chapters.“¹³

Wenige Tage später schreibt Darwin erneut an Lyell und bittet um Rat: „But as I had not intended to publish any sketch, can I do so honourably, because Wallace has sent me an outline of his doctrine? I would far rather burn my whole book, than that he or any other man should think that I had behaved in a paltry spirit. Do you not think his having sent me this sketch ties my hands?“¹⁴

So kommt es zum „Delicate Arrangement“. Entsprechend dem Rat von Charles Lyell und Joseph Hooker erstellt Darwin einen Auszug aus seinem Manuskript, das er 1839 entwarf, und von dem er Hooker 1844 eine Kopie zu lesen gab. Gemeinsam mit der Zusammenfassung eines Briefes an Asa Gray aus dem Jahr 1857, mit dem er zeigen will, dass sich seine Ansichten seit 1839 nicht geändert haben, und mit dem Aufsatz von Wallace wird dieser Auszug am 1. Juli 1858 in den Sitzungen der Linnean Society vorgetragen, und dann im Journal of the Proceedings of the Linnean Society abgedruckt.¹⁵

1859 erscheint Darwin's Origin of the Species. Gleich am ersten Tag ist die gesamte Auflage von 1250 Stück ausverkauft. Wallace bekommt von Darwin ein Exemplar geschickt, es erreicht ihn im Jahr 1860. Erst zwei Jahre später kehrt er aus dem Malayischen Archipel zurück nach London und trifft Darwin.¹⁶

Darwin leitet sein Buch The Origins of the Species, wenn auch erst in späteren Auflagen, mit einem geschichtlichen Überblick ein, in dem er die wichtigsten Quellen angibt, aus welchen er Anregungen zu seinen Ideen erhalten hat. Dort findet sich, recht zurückhaltend formuliert, der Hinweis auf Wallace's Essay: „the theory of Natural Selection is promulgated by Mr. Wallace with admirable force and clearness“.¹⁷

Unter Historikern wird in späteren Jahrhunderten nicht ganz unumstritten sein, inwiefern Darwin von Wallace's Essay profitiert hat. John Langdon Brooks etwa wird versuchen zu belegen, dass Darwin einen 41 Seiten langen Einschub zum Divergenzprinzip, geschrieben auf andersfarbigen Papier, erst nach der Lektüre des Ternate-Essays eingefügt hat — und ihm eben dieses letzte Puzzlestück noch in seiner Theorie fehlte. Peter J. Bowler wird im Gegenzug argumentieren, dass Wallace erst durch seinen Briefwechsel mit Darwin die Prinzipien von Variation und Selektion überhaupt verstehen konnte — und dass das Ternate-Essay Darwin lediglich zur Veröffentlichung der Ergebnisse seiner Arbeit der letzten 20 Jahre zwingt.¹⁸

Der Darwinist

Alfred Russel Wallace bezeichnet sich zeitlebens einer der energischsten Verfechter des Darwinismus, gleichzeitig ist er einer der einflussreichsten Kritiker unter den ersten Darwinisten. Ihm widerstrebt besonders der Begriff Selection für den Prozess des struggle for existence, da die Metapher der „Selektion“ als aktiver Ausdruck eine handelnde Authorität impliziert. Er schlägt die Übernahme von Herbert Spencer's Begriff des survival of the fittest vor, des Überlebens des seiner Umwelt Angepasstesten, den Darwin dann auch ab der 6. Auflage verwendet:

I wish, therefore, to suggest to you the possibility of entirely avoiding this source of misconception in your great work (if not now too late), and also in any future editions of the "Origin," and I think it may be done without difficulty and very effectually by adopting Spencer's term (which he generally uses in preference to Natural Selection), viz. "Survival of the Fittest." This term is the plain expression of the fact; "Natural Selection" is a metaphorical expression of it, and to a certain degree indirect and incorrect, since, even personifying Nature, she does not so much select special variations as exterminate the most unfavourable ones. — Letter from C. Darwin to A.R. Wallace, July 2, 1866
(James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. I, p. 171, online [6])

Ein bemerkenswerter Unterschied in den Konzeptionen von Darwin und Wallace liegt in ihrer Herleitung: während Darwin seine Modelle für domesticated animals, also gezüchtete Haustiere entwirft, und dann mit der Analogie zur freien Natur argumentiert, zieht Alfred Russel Wallace seine Schlüsse direkt aus den Beobachtungen der Natur — und ist damit „more Darwinian than Darwin himself“.¹⁹

Auf seinen Vortragsreisen in Nordamerika und in der Schweiz propagiert er leidenschaftlich die Ideen der Evolutionstheorie. Darwin und Wallace bleiben zeitlebens im Briefkontakt. Nachdem Charles Darwin am 19. April 1882 stirbt, ist Alfred Russel Wallace bei der Beerdigung einer der Sargträger. Wallace wird nie den Anspruch auf die Priorität der Evolutionstheorie erheben.²⁰ Sein 1869 erschienenes Buch The Malay Archipelago beginnt mit der Widmung

To Charles Darwin, author of "The Origin of Species", I dedicate this book, Not only as a token of personal esteem and friendship. But also To express my deep admiration For His genius and his works.
(Alfred Russel Wallace, The Malay Archipelago, Macmillan and Co. London, 1869, online [7])

Darwin betont stets die Hochherzigkeit von Wallace. Die Details der Vorgänge im Jahr 1858 erfährt Wallace erst aus Darwins Autobiographie. Sieben Jahre nach Darwins Tod, 1891, erscheint Wallace's Version des Origin of the Species, er nennt sein Buch Darwinism. Ohne Darwins Einfluss wäre der Aufstieg des unbekannten Naturforschers in die elitären wissenschaftlichen Zirkel des viktorianischen Englands wohl kaum möglich gewesen.²¹

Der Landreformer

Die von Wallace in sein Buch The Malay Archipelago eingestreuten politischen Kommentare machen John Stuart Mill auf ihn aufmerksam, der ihn in die Land Tenure Reform Association einläd. Dort bleibt er bis zur Begründung der Land Nationalisation Society 1880 Mitglied. Er beginnt sein in zehn Auflagen gedrucktes Buch Land Nationalisation (1892) mit einem Zitat von James Anthony Froude, und macht diese Position zur Grundlage seiner späteren sozialphilosophischen Arbeiten:

Land is not, and cannot be property in the sense that moveable things are property. Every human being born into this planet must live upon the land if he lives at all. The land in any country is really the property of the nation which occupies it; and the tenure of it by individuals is ordered differently in different places, according to the habits of the people and the general convenience. — FROUDE
(Alfred Russel Wallace, Land Nationalisation. It's Necessity and it's Aims, Swan Sonnenschein & Co. London - Charles Scribner's Sons New York, 1892, p. vi, online [8])

Für über 30 Jahre wird Alfred Russel Wallace Präsident der Land Nationalisation Society bleiben, als einer der energischsten Fürsprecher für Landreformen in England und Irland.²²

Der Spiritualist

Ab dem Jahr 1864, etwa zeitgleich mit der Bekanntschaft seiner späteren Ehefrau Annie Mitten, konvertiert Alfred Russel Wallace vom rein materialistischen zu einem religiös-spirituellen Weltbild, das er in einem Brief später wie folgt beschreiben wird:

The completely materialistic mind of my youth and early manhood has been slowly moulded into the socialistic, spiritualistic, and theistic mind I now exhibit — a mind which is, as my scientific friends think, so weak and credulous in its declining years, as to believe that fruit and flowers, domestic animals, glorious birds and insects, wool, cotton, sugar and rubber, metals and gems, were all foreseen and foreordained for the education and enjoyment of man. The whole cumulative argument of my 'World of Life' is that in its every detail it calls for the agency of a mind... enormously above and beyond any human mind ... Whether this Unknown Reality is a single Being and acts everywhere in the universe as direct creator, organiser, and director of every minutest motion ... or through 'infinite grades of beings,' as I suggest, comes to much the same thing. Mine seems a more clear and intelligible supposition ... and it is the teaching of the Bible, of Swedenborg, and of Milton. — Letter from A.R. Wallace to James Marchant, written in 1913.
(James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. II, p. 181, online [9])

Dass hier der Begründer des Darwinismus eine religiöse, ja geradezu kreationistische Position einnimmt, wird seine Arbeiten ihm folgenden 20. Jahrhundert manchem Biologen und Biographen suspekt erscheinen lassen — und, bei einigen von ihnen, dazu führen, ihm jegliches Verständnis von Evolution und geographischer Variation abzusprechen; doch für Wallace stellt die Kombination aus Naturwissenschaft und Religion keinen Widerspruch dar.²³

Er nimmt an den zu dieser Zeit sehr populären Séancen teil, und fordert in seinen Schriften, dass auch und gerade „übernatürliche“, d.h. scheinbar unerklärbare Phänomene einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschreibung und Untersuchung bedürfen. Seine Kollegen — sehr viel tiefer als er in der akademischen Gesellschaft des viktorianischen Englands verwurzelt — mögen ihm dabei nicht so recht folgen. Nichtsdestotrotz stellt er seine Ansichten unbeeindruckt in Artikeln und Büchern dar.²⁴

Sozialdarwinismus

Das Prinzip der Selektion, des struggle for existence, wird sowohl von Darwin als auch von Wallace aus den Thesen in Thomas Robert Malthus ökonomischem Essay on the Principle of Population abgeleitet, wenn nicht gar übernommen. Zu diesem kommt, bei Darwin wie bei Wallace, die Annahme einer kontinuierlichen, graduellen Entwicklung durch ungerichtete Variation. Wer könnte bezweifeln, dass auch dieses Prinzip für menschliche Gesellschaften seine Gültigkeit hat? Dass menschliche Individuen sich unterscheiden, auch wenn sie unzweifelhaft derselben Art angehören?

Nachdem Wallace im Verlauf der 1860er Jahre einige Aufsätze zum Thema der Evolution des Menschen veröffentlicht hatte (beginngend mit The Origin of Human Races and the Antiquity of Man, 1864), erscheint 1871 Descent of Man von Charles Darwin. Beide, Darwin und Wallace glauben grundsätzlich an die Wirksamkeit evolutionärer Prinzipien in sozialen Systemen: Ideen des Sozialdarwinismus sind in den intellektuellen Kreisen des späten 19. Jahrhunderts weit verbreitet. In Opposition zu Lamarckisten wie Herbert Spencer, Francis Galton und Charles Darwin (sic!) lehnt Wallace jedoch die Erblichkeit von Charakter und Talent strikt ab. Er argumentiert, dass sich Eigenschaften wie etwa Genie sprunghaft, und nicht kontinuierlich durch graduelle Variation entwickeln, und deshalb nicht mit der Evolutionstheorie beschrieben werden können. Sie benötigen vielmehr eine eigene Theorie:

So with men of genius, whose mental faculties have been fully exercised in special directions, whether as men of science, artists, musicians, poets, or statesmen; if not only the inherent faculty but also the increased power derived from its exercise be inherited, then we ought frequently to see these faculties continuously increasing during a series of generations, culminating in some star of the first magnitude. But the very reverse of this is notoriously the case. Men of exceptional genius or mental power or mechanical skill appear suddenly, rising far above their immediate ancestors; and they are usually followed by successors who, though, sometimes great, rarely equal their parent, whose pre-eminent powers seem generation after generation to dwindle away to obscurity.
(Alfred Russel Wallace, Are Individually Acquired Characters Inherited? (1893), In: Fortnightly Review, p. 490-668, quote from p. 492-493, online [10])

In Opposition zu Galton, Spencer, Darwin und anderen, die bedauern, „that in our modern civilisation natural selection had no play“, dass in der modernen Zivilisation die natürliche Selektion keine Rolle spielt²⁵ — und den Menschen nahezu als domesticated animal begreifen, als Haustier, das seine Zuchtauswahl selbst in die Hand genommen hat —, wendet sich Wallace energisch gegen eugenische Konzepte. Er wird, hier in einem Interview als 90-jähriger, geradezu wütend, wenn seine Theorien als Grundlage für solche Entwürfe zitiert werden:

Why, never by word or deed have I given the slightest countenance to eugenics. Segregation of the unfit, indeed! It is a mere excuse for establishing a medical tyranny. And we have enough of this kind of tyranny already. Even now, the lunacy laws give dangerous powers to the medical fraternity. At the present moment, there are some perfectly sane people incarcerated in lunatic asylums simply for believing in spiritualism. The world does not want the eugenist to set it straight. Give the people good conditions, improve their environment, and all will tend towards the highest type. Eugenics is simply the meddlesome interference of an arrogant, scientific priestcraft.
(The Last of the Great Victorians. Special Interview with Dr. Alfred Russel Wallace, In: The Millgate Monthly, August 1912, p 657-663, quote p. 663, online [11])

Auch Wallace's sozialistische Gesellschaftsutopie enthält das Prinzip der Selektion, jedoch nicht durch eine „scientific priestcraft“, eine elitäre „wissenschaftliche Priesterschaft“, sondern durch die freie Wahl der Ehemänner durch ihre Frauen, frei von wirtschaftlichen Zwängen.²⁶ Kurz vor seinem Tod beschreibt er diese Vision in seinem Buch Social Environment and Moral Progress (1913) [12]. Geradezu prophetisch scheinen seine Warnungen vor jeder Art von elitären eugenischen Systemen:

But there is great danger in such a process of artificial selection by experts, who would certainly soon adopt methods very different from those of the founder. We have already had proposals made for the "segregation of the feeble-minded," while the "sterilization of the unfit" and of some classes of criminals is already being discussed. This might soon be extended to the destruction of deformed infants, as was actually proposed by the late Grant Allen; while Mr. Hiram M. Stanley, in a work on Our Civilization and the Marriage Problem, proposed more far-reaching measures. He says: "The drunkard, the criminal, the diseased, the morally weak, should never come into society. Not reform, but prevention, should be the cry."
Of course, our modern eugenists will disclaim any wish to adopt such measures as are here hinted at, which are in every way dangerous and detestable. But I protest strenuously against any direct interference with the freedom of marriage, which, as I shall show, is not only totally unnecessary, but would be a much greater source of danger to morals and to the well-being of humanity than the mere temporary evils it seeks to cure. I trust that all my readers will oppose any legislation on this subject by a chance body of elected persons who are totally unfitted to deal with far less complex problems than this one, and as to which they are sure to bungle disastrously.
(Alfred Russel Wallace, Social Environment and Moral Progress, 1913, p. 142-144, online [13])

Er wünscht sich eine Gesellschaft, in der Land und materielles Vermögen nicht persönlich vererbt werden kann, in dem jeder die gleichen Chancen und Startbedingungen hat, am struggle towards freedom teilzunehmen.²⁷

Der Sozialphilosoph und Sozialist

Schon früh setzte sich Wallace mit den Ansichten des frühen englischen Sozialisten und Sozialreformers Robert Owen auseinander, dessen Vorträge er erstmals 1837 in London hört.²⁸ Gegenüber seinem Freund James Marchant stellt er seinen politischen Standpunkt später wie folgt dar:

"Why am I a Socialist?" "I am a Socialist because I believe that the highest law for mankind is justice. I therefore take for my mottoe, 'Fiat Justitia, Ruat Cœlum'; and my definition of Socialism is, 'The use, by everyone, of his faculties for the common good, and the voluntary organisation of labour for the equal benefit of all.' That is absolute social justice; that is ideal Socialism. It is, therefore, the guiding star for all true social reform."
(James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Harper and Brothers Publishers, New York and London 1916, Vol. II, p. 152-153, online [14])

Im Fazit seines Essay True Individualism — The Essential Preliminary of a Real Social Advance fasst er seinen Traum eines gerechten Gesellschaftssystems zusammen, das jedem Mitglied das gleiche Recht auf einen guten Start ins Leben und eine bestmögliche Bildung zugesteht — eine Gesellschaft, die ohne ein Wettrennen um Wohlstand und Luxus auskommt:

Under such a system of society as is here suggested, when all were well educated and well trained and were all given an equal start in life, and when every one knew that however great an amount of wealth he might accumulate he would not be allowed to give or bequeath it to others in order that they might be free to live lives of idleness or pleasure, the mad race for wealth and luxury would be greatly diminished in intensity, and most men would be content with such a competence as would secure to them an enjoyable old age. And as work of every kind would have to be done by men who were as well educated and as refined as their employers, while only a small minority could possibly become employers, the greatest incentive would exist towards the voluntary association of workers for their common good, thus leading by a gradual transition to various forms of co-operation adapted to the conditions of each case. With such equality of education and endowment none would consent to engage in unhealthy occupations which were not absolutely necessary for the well-being of the community, and when such work was necessary they would see that every possible precautions were taken against injury. All the most difficult labour-problems of our day would thus receive an easy solution.
(Alfred Russel Wallace, True Individualism — The Essential Preliminary of a Real Social Advance, In: Studies scientific & social, Macmillan & Co. London 1900, Vol II, p. 510, online [15])

Neben seinen verschiedenen Aufsätzen beschreiben wohl die im letzten Lebensjahr, 1913, entstandenen Werke The Revolt of Democracy [16] und Social Environment and Moral Progress [17] seinen Standpunkt am deutlichsten.

Anti-Vaccination-Kampagnen

Wallace engagierte sich gegen das Vaccinationsprogramm, die Impfpflicht zur Eindämmung der Pocken. In verschiedenen Aufsätzen und im 1889 erschienen Buch Vaccination a Delusion versucht er, statistisch nachzuweisen, dass die Impfprogramme nach anfänglichen Erfolgen in den ersten Jahrzehnten im ausgehenden 19. Jahrhundert der öffentlichen Gesundheit eher schaden als nutzen. Wallace glaubte nicht an die Möglichkeit einer weltweiten Ausrottung des Pockenvirus. Erst 1980, 91 Jahre später, erklärt die WHO die Pocken als ausgestorben.²⁹

Nachleben

Datei:Alfred Russel Wallace Grave.png
Grab von Annie und Alfred Russel Wallace auf dem Friedhof von Broadstone. Der Grabstein ist ein fossiler Baumstamm, gefunden auf der Isle of Portland vor Dorset

Alfred Russel Wallace hat sich, gerade auch durch seine politischen und religiösen Schriften, angreifbar gemacht, und seinen Gegnern ein leichtes Ziel geboten. So wie er in seinen frühen Veröffentlichungen prägnant und mit geradezu unglaublich analytischer Schärfe seine Beobachtungen schildert und interpretiert, so leidenschaftlich propagiert er auch seine religiösen und politischen Ansichten, und polarisiert damit seine Zeitgenossen und Biographen:

There is, finally, something heroic about a man who independently constructs a theory of natural selection, which can be written, in its simplest form, as the accidental survival of the fittest, and spends the rest of his life proclaiming the ideals of co-operation and altruism as the way to hasten the perfecting of the human.
(Peter Raby, Alfred Russel Wallace. A Life, Chatto & Windus London, 2001, ISBN 0701168382, p. 294)
The lesson history is apparently teaching us here — that "knuckling down" is rewarded by the makers of reputations, while a willingness to take on diverse issues is not — is unfortunate because it suggests that scientists should remain narrowly focussed on their particular corners of science, and not venture out into the public domain. For Wallace, however, considerations of reputation and posterity were irrelevant. His priorities — social justice and the search for truth — made him the prototypical socially engaged scientist. Thus Wallace's review of the achievements of the nineteenth century, The wonderful Century, went beyond merely launding the scientific and technological developments of the era to assessing the impacts that those developments had had on ordinary people. In the penultimate chapter, "The Demon of Greed", he pointed out that many aspects of the industrial revolution had made people's lives worse, not better. Today, as technology comes to play an ever greater role in our lives, there is a pressing need for latter-day Wallaces - scientists willing to forsake their ivory towers (or their biotech companies) and become publicly engaged with social issues. Neglected though he may be, Wallace's example is nevertheless inspirational.
(Andrew Berry, Infinite Tropics. An Alfred Russel Wallace Anthology, London and New York 2002, ISBN 1859846521, p. 381)
In considering some stages of Wallace's life, it is possible to feel sorry for him, but the general conclusion is different and startling.
Perhaps few human beings have concluded, in their old age, a more honourable and satisfactory treaty with fate, or made a better thing of human predicament. In short, if ever a story had a happy ending, it was Wallace's.
(Amabel Williams-Ellis, Darwin's moon. A Biography of Alfred Russel Wallace, Blackie London, 1966, p. 234)

Nachdem Alfred Russel Wallace im Schatten von Darwin Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts fast in Vergessenheit gerät, deutet die Zahl der um die Jahrtausendwende erscheinenden Biographien und Aufsätze auf eine regelrechte Wallace-Renaissance hin.

Ehrungen

Alfred Russel Wallace wurde nie wirklich Mitglied der etablierten intellektuellen Elite des viktorianischen England; zu unorthodox und unangepasst waren seine Ansichten. Nichtsdestotrotz erhielt er schon zu Lebenszeiten viele Auszeichnungen und Titel, unter anderem:

Auf Mond und Mars sind Krater nach ihm benannt. Die Trennlinie zwischen den biogeographischen Gebieten Australiens und Südostasiens trägt ihm zu Ehren den Namen Wallace-Line.

Bibliographie

Datei:A.R. Wallace (1913).png
Alfred Russel Wallace (1913)

Alfred Russel Wallace veröffentlichte eine schier unglaubliche Zahl an Artikeln, Essays und Büchern, hier können wir nur die Bücher auflisten. Viele seiner Texte sind beim Gutenberg Projekt und auf der Alfred Russel Wallace Page online verfügbar [18].

Werke

  • 1853 Palm Trees on the Amazon
  • 1853 A Narrative of Travels on the Amazon and Rio Negro
  • 1866 The Scientific Aspect of the Supernatural
  • 1869 The Malay Archipelago
  • 1870 Contributions to the Theory of Natural Selection
  • 1874 Miracles and Modern Spiritualism
  • 1876 The Geographical Distribution of Animals
  • 1878 Tropical Nature and other Essays
  • 1879 Australasia. Stanford's Compendium of Geography and Travel
  • 1880 Island Life
  • 1882 Land Nationalisation
  • 1885 Bad Times
  • 1889 Darwinism
  • 1898 The Wonderful Century
  • 1900 Studies, Scientific and Social
  • 1901 The Wonderful Century Reader
  • 1901 Vaccination a Delusion
  • 1903 Man's Place in the Universe
  • 1905 My Life
  • 1907 Is Mars Habitable?
  • 1910 The World of Life
  • 1913 Social Environment and Moral Progress
  • 1913 The Revolt of Democracy

Eine Liste der von Alfred Russel Wallace veröffentlichten Artikel und Aufsätze findet sich in James Marchant's Buch: Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. II, ab Seite 258, online [19].

Sekundärliteratur und Biographien

  • Barbara G. Beddall, Wallace, Darwin and the Theory of Natural Selection. A Study in the Development of Ideas and Attitudes, in: Journal of the History of Biology, 1 (1968), p. 261-323.
  • Andrew Berry, Infinite Tropics. An Alfred Russel Wallace Anthology, Verso London and New York, 2002, ISBN 1859846521
  • Peter J. Bowler, Alfred Russel Wallace's Concepts of Variation, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, Vol. 31, 1976, p.17-29.
  • Arnold C. Brackman, A delicate Arrangement. The strange Case of Charles Darwin and Alfred Russel Wallace, Times Books New York, 1980, ISBN 081290883X
  • John Langdon Brooks, Just Before the Origin: Alfred Russel Wallace's Theory of Evolution, iUniverse, 1999, ISBN 1583481117
  • James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Harper and Brothers Publishers New York and London, 1916, online Vol. I [20], Vol. II [21], reprint ISBN 1421955350
  • H. Lewis McKinney, Wallace and Natural Selection, Yale University Press New Haven and London, 1972, ISBN 0300015569
  • David Quammen, Der Gesang des Dodo, Claassen Verlag, 1998, ISBN 3548600409
  • Peter Raby, Alfred Russel Wallace. A Life, Chatto & Windus London, 2001, ISBN 0701168382
  • Tim Severin, The Spice Islands Voyage: The Quest for Alfred Wallace, the Man Who Shared Darwin's Discovery of Evolution, Ulverscroft Large Print, 1998, ISBN 0786707216
  • Amabel Williams-Ellis, Darwin's moon. A Biography of Alfred Russel Wallace, Blackie London and Glasgow, 1966, ISBN 0216883989

Siehe auch

Anmerkungen und Quellennachweis

¹ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 7, 10-12.

² Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 12-13, 17, 46, 58, 74-76.

³ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 79, 87, 106, 135-139, 223.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 223, 230, 232, 237.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 239-245, 241, 264.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 232, 264.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 267, 275-281, 304-312, 320-321, 323-324.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 326-327.

Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 326-336. Sein Reisebericht ist gespickt mit Naturbeobachtungen und Analysen der kolonialen Gesellschaftsverhältnisse. Im Vorwort (The Malay Archipelago (1), p. xiv) schlüsselt er die gesammelten Arten auf.

¹⁰ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 54-355, 341.

¹¹ Vgl. Alfred Russel Wallace, The Malay Archipelago, p. 359.

¹² Die Chronologie der Ereignisse dieser Tage ist von verschiedenen Historikern im Streit um die Priorität Wallace vs. Darwin verschiedentlich rekonstruiert worden, u.a. von Brooks: Just Before the Origin.

¹³ Vgl. Letter CHARLES DARWIN TO C. LYELL. Down, 18th (June 1858), reprinted in Francis Darwin, The Life and Letters of Charles Darwin, online [22].

¹⁴ Vgl. Letter CHARLES DARWIN TO C. LYELL. Down, Friday (June 25, 1858), reprinted in Francis Darwin, The Life and Letters of Charles Darwin, online [23].

¹⁵ Vgl. Journal of the Proceedings of the Linnean Society, Vol. III, London 1859, p.45-62. Mit dem einleitenden Vortrag von Lyell und Hooker online verfügbar auf der Website der Linnean Society und beim British Library [24].

¹⁶ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (2), p. 1.

¹⁷ Vgl. Charles Darwin: The Origin of Species by means of Natural Selection, 6th edition, London 1872, p. xxi (online [25]).

¹⁸ Vgl. Peter J. Bowler, Alfred Russel Wallace's Concepts of Variation, und John Langdon Brooks, Just Before the Origin: Alfred Russel Wallace's Theory of Evolution.

¹⁹ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (2), p. 1-22, auch James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol. II, p.15, online [26].

²⁰ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (2), p. 102, 107ff.

²¹ So zumindest die Meinung einiger seiner Biographen: XXX TODO!!! Namen!!! XXX.

²² Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (2), p. 235, 240.

²³ Es schien im 20. Jahrhundert zur Pflicht eines Naturwissenschaftlers zu gehören, die Unvereinbarkeit der Wissenschaft mit konfessionellen oder gar spiritualistischen Glaubensbekenntnissen zu postulieren. In den Jahrhunderten zuvor wurde das nicht gar so eng gesehen: Malthus war anglikanischer Pfarrer, Darwin und Newton studierte Theologen (letzterer etwa veröffentlichte mehr theologische als naturwissenschaftlich orientierte Schriften). Ihr Deismus beschrieb einen Gott zumeist als den Schöpfer der Naturgesetze, der das Regelwerk schuf, das es als Naturforscher zu erkennen galt.

²⁴ Vgl. z.B. James Marchant, Alfred Russel Wallace. Letters and Reminiscences, Vol II, p. 187, Letter T.H. Huxley to A.R. Wallace (online [27]). Der erste Aufsatz zum Thema, „The Scientific Aspect of the Supernatural: Indicating the Desirableness of an Experimental Enquiry by Men of Science into the Alleged Powers of Clairvoyants and Mediums“, erschien 1866 (online [28]). Zu Wallace's spiritualistischen Ansichten wurde viel geschrieben, ein guter Einstieg in den Diskurs ist vielleicht Charles H. Smith: „Alfred Russel Wallace on Spiritualism, Man, and Evolution: An Analytical Essay“ (online [29]).

²⁵ Vgl. z.B. Wallace's Einführung in Human Selection (1890), p. 325, online [30].

²⁶ Vgl. Alfred Russel Wallace, Social Environment and Moral Progress, p. 147, online [31].

²⁷ Wallace definiert in seinen Ausführungen Progress, also Fortschritt, in Richtung des Zieles einer moralischen, gerechten und gleichberechtigten Gesellschaft. Die Phrase struggle towards freedom ist hier etwas out-of-context zitiert. Dies sei in diesem Fall ausnahmsweise erlaubt, da Wallace die Entwicklung der Zivilisationen als solchen begriff (vgl. dazu Alfred Russel Wallace, Social Environment and Moral Progress, p.134-135, online [32]). Die Darstellung seiner Ideen zu gerechten Besitzverhältnissen in Social Environment and Moral Progress und seinen Texten zur Landreform.

²⁸ Vgl. Alfred Russel Wallace, My Life (1), p. 87.

²⁹ Wallace sieht den Zwang zur Impfung als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte an. Er argumentiert nicht, wie etwa Haeckel (Die Lebenswunder, 1905) oder Darwin (Descent of Man, 1871, p. 134 in 2nd. ed., London 1882, online [33]), dass durch Impfungen der Prozess der natürlichen Selektion ausgehebelt, und damit die Evolution der Menschheit gefährdet sei. Wallace zweifelt die zuverlässige Immunisierung durch Vaccination an; er beschreibt Fälle aus Navy und Army, bei denen es trotz Immunisierung zu Pockenansteckungen kam. Vgl. etwa Alfred Russel Wallace: Vaccination a Delusion, London 1898 (online http://www._dot_whale_dot_.to/vaccine/wallace/book.html (_dot_ entfernen!), chapter 4: The Army and Navy as a Conclusive Test). Die entsprechenden Aufsätze werden bis heute von Gegnern der Impfpflicht zitiert.