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Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

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Tschornobyl 1997

Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der Stadt Prypjat, Ukraine (damals Sowjetunion) als Folge einer Kernschmelze und Explosion im Kernreaktor Tschornobyl Block 4. Er gilt als die zweitschwerste nukleare Havarie nach der von Majak und war eine der größten Umweltkatastrophen überhaupt.

Bekannt ist diese Katastrophe unter dem russischen Namen der Nachbarstadt Tschernobyl, da Russisch zum Zeitpunkt der Katastrophe Hauptamtssprache war. Der heute amtliche ukrainische Name der Stadt lautet Tschornobyl. Vereinzelt werden auch die englischen Schreibweisen Chernobyl bzw. Chornobyl verwendet.

Bedienungsfehler und Mängel der Konstruktion des Reaktors lösten einen so genannten Super-GAU aus, das heißt einen Unfall, der die Möglichkeiten der eingesetzten Sicherheitstechnik überforderte. Große Mengen an radioaktiver Materie wurden in die Luft geschleudert und verteilten sich hauptsächlich über die Region nordöstlich von Tschornobyl, aber auch über viele Regionen Europas. Der Unfall führte bei einer nicht genau bekannten Zahl von Menschen zum Tod. Mehrere Tausend Menschen erkrankten an Krebs, der auf die Strahlung zurückgeführt wird. Auch bei anderen Erkrankungen wird die Strahlung als mögliche Ursache angesehen. Dazu kommen psychische, soziale, ökologische und ökonomische Schäden. Über die zu erwartenden Langzeitfolgen besteht seit Jahren ein Streit auch unter Wissenschaftlern.

Nach der Katastrophe hatten Hunderttausende Helfer, so genannte "Liquidatoren", einen provisorischen Betonmantel um den explodierten Reaktor errichtet, der inzwischen an vielen Stellen gerissen ist und einzustürzen droht. Mit ausländischer Finanzhilfe soll deshalb in den kommenden Jahren eine neue Schutzhülle gebaut werden.

Die Katastrophe

Ursachen

Als Hauptursache gelten die bauartbedingten Eigenschaften des Kernreaktors (RBMK-1000) und dessen Betrieb in einem unzulässig niedrigem Leistungsbereich. Kennzeichnend für diesen Reaktortyp unter dieser Voraussetzung ist ein stark positiver Void-Koeffizient – die Verringerung der Neutronenabsorbtion des Kühlwassers infolge von Dampfblasenbildung (Dichteänderung). Ein hoher Void-Koeffizient wurde gleichzeitig durch den fortgeschrittenen Abbrand des Kernbrennstoffes begünstigt. Weiterhin war die betriebliche Reaktivitätsreserve (ORM) nicht in das automatische Reaktorsicherheitssystem eingebunden sondern es waren lediglich Minimalwerte in den Betriebsvorschriften vermerkt. Nach diesen hätte der Reaktor bereits am Vortag nach der Leistungsabsenkung auf etwa 50 % des Nennwertes abgeschaltet werden müssen. Die ORM wurde ausgehend von verschiedenen Reaktorparametern numerisch durch einen Computer berechnet, so dass diese nur mit einer Verzögerung von einigen Minuten ermittelt werden konnte und zeitnahe Werte dem Personal unmittelbar vor der Leistungsexkursion nicht zur Verfügung standen. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Experimentes (26. April, 01:23:04) betrug sie nachträglichen Berechnungen zufolge einem Äquivalent von 6 bis 8 Stäben – einem Wert, der einen Betrieb des Reaktors untersagte.

Als möglichen Grund für den endgültigen Auslöser der Leistungsexkursion gilt die Konstruktion des Kontrollstabsystems. Durch das gleichzeitige Absenken mehrerer Stabgruppen aus der oberen Endlage, z.B. durch Auslösung der Reaktorschnellabschaltung, kam es zu einer kurzzeitigen Reaktivitätserhöhung. Bedingt durch den großen Reaktorkern und einer langsamen Einfahrgeschwindigkeit benötigten die Kontrollstäbe im Vergleich zu westlichen Reaktoren viel Zeit (18 bis 20 Sekunden), um vollständig einzufahren. Ob erst die tatsächlich um 01:23:40 manuell ausgelöste Notabschaltung oder die bereits 36 Sekunden frühere Unterbrechung der Wärmeabfuhr durch Schließen der Turbinendampfzufuhr die unkontrollierte Leistungsexkursion auslösten, ist umstritten. Letztlich wurde diese erst durch die vorhergehenden Ereignisse ermöglicht. Eine weitere Schwäche des RBMK war ein fehlender Sicherheitsbehälter (Containment), auch wenn unklar ist, ob ein solches Containment den Explosionen standgehalten hätte.

Inwiefern das Verhalten des anwesenden Personals maßgeblich zum Unfall beitrug, bleibt ebenfalls umstritten. Dass Betriebsvorschriften verletzt wurden, ist Tatsache, in welchem Umfang sie dem Personal bekannt waren, ist fraglich. Unerfahrenheit und unzureichende Kenntnisse, insbesondere im Zusammenhang mit dem Wiederanfahren des (mit Xenon vergifteten) Reaktors nach dem Leistungseinbruch um 00:28, werden angeführt. Der Vorwurf eines Fehlers durch einen Operator bei der Leistungsregelungsumschaltung (als Auslöser des Leistungseinbruches) wird von anderer Seite mit wiederholten technischen Problemen mit diesem System zurückgewiesen. Da beim Experiment ein neuartiger Spannungsregler getestet werden sollte, bildeten einen Großteil des anwesenden Personals Elektrotechniker. Nicht zuletzt wurden getreu der Geheimhaltungspolitik zu früheren Störfällen in den Kernkraftwerken Ignalina und Leningrad weder Untersuchungen angestellt noch das Personal in den übrigen Kraftwerken mit wichtigen Informationen vertraut.

Wesentlich zum Hergang der Unfalls beigetragen hat die Verschiebung des Experimentes um rund einen halben Tag. Die lange Haltezeit nach dem Herabfahren begünstigte die Anreicherung des Reaktors mit neutronenabsorbierenden Xenon-135. Weiterhin war zum Zeitpunkt des Experimentes ein anderes Schichtpersonal anwesend, als ursprünglich geplant war.

Experiment

Im Rahmen einer zwecks Wartungsarbeiten anstehenden Abschaltung des Reaktors sollte ein Experiment zum Nachweis der Deckung des Energieeigenbedarfs im Notfall durchgeführt werden. Es sollte getestet werden, ob die Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen bei einem totalen Stromausfall die Zeit von etwa 40 bis 60 Sekunden bis zum Anlaufen der Notstromaggregate für eine vorübergehende Sicherstellung der Notkühlung ausreicht. Das Experiment hätte nach Sicherheitsvorschriften bereits vor der kommerziellen Inbetriebnahme nach Fertigstellung im Dezember 1983 durchgeführt werden sollen. Ein unvergifteter Reaktor ohne Abbrand hätte sichere Voraussetzungen geschaffen.

Vorgesehen war die Einleitung des Experimentes bei reduzierter Reaktorleistung (700 bis 1000 MWth) mit Schließung der Dampfzufuhr zu den Turbinen. Von den acht Hauptzirkulationspumpen sollten vier mit dem Generator auslaufen, während die anderen vier weiterhin vom Netz gespeist werden. Teile des Sicherheitssystems wurden abgeschaltet, so dass das Experiment ggf. wiederholt werden konnte.

Chronologie der Ereignisse

25. April 1986, 1:06: Als erster Schritt sollte die Leistung des Reaktors von ihrem Nennwert bei 3.200 Megawatt thermisch (=MWth) auf 1.000 MWth reduziert werden, wie bei einer Regelabschaltung üblich. Um 13:05 wurde auf Anweisung des Lastverteilers in Kiew die Leistung bei 1.600 MWth stabilisiert.

23:10: Die Leistung wurde weiter abgesenkt. Nach dem Schichtwechsel um 24:00 schaltete die neue Mannschaft um 00:28 bei 500 MWth die Reaktorleistungsregelung um. Durch einen Bedienfehler, durch den der Sollwert für die Gesamtleistungsregelung anscheinend nicht richtig eingestellt wurde, oder auf Grund eines technischen Defekts sank die Leistung weiter bis auf nur etwa 30 MW.

Wie nach jeder Leistungsabsenkung erhöhte sich vorübergehend die Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern („Xe-Vergiftung“). Da Xenon-135 die für die nukleare Kettenreaktion benötigten Neutronen sehr stark absorbiert, nahm aufgrund der Konzentrationszunahme die Reaktivität des Reaktors immer weiter ab. Als die Betriebsmannschaft am 26. April 1986 um 00:32 Uhr die Leistung des Reaktors durch weiteres Ausfahren von Regelstäben wieder anheben wollte, gelang ihr das infolge der mittlerweile aufgebauten Xe-Vergiftung nur bis zu etwa 200 MWth oder 7 % der Nennleistung.

Obwohl der Betrieb auf diesem Leistungsniveau unzulässig war (laut Vorschrift durfte der Reaktor nicht unterhalb von 20 Prozent der Nennleistung betrieben werden) und sich zu diesem Zeitpunkt außerdem viel weniger Regelstäbe im Kern befanden, als für einen sicheren Betrieb notwendig waren, wurde der Reaktor nicht abgeschaltet, sondern das Signal zum Beginn des Testlaufs gegeben.

26. April 1986, 01:03 bzw. 01:07: Um die zusätzliche Last des bei Turbineneinlassventilschließung anfahrenden Kernnotkühlsystems zu simulieren, wurden nacheinander zwei zusätzliche Hauptkühlmittelpumpen in Betrieb genommen. Infolge des erhöhten Kühlmitteldurchsatzes nahm der Dampfblasengehalt im Reaktorkern weiter ab. Die Reaktivitätsabnahme führte zum Herausfahren weiterer Regelstäbe, um die Leistung zu stabilisieren. Dies wäre der letzte Zeitpunkt gewesen, an dem man den Reaktor noch durch eine Notabschaltung hätte retten können.

01:19: Zur Stabilisierung des fallenden Wasserstands in den Dampfseparatoren wurde die Speisewasserzufuhr erhöht. Dies führte jedoch zu weiterer Unterkühlung und Abnahme des Dampfblasengehalts, welches wiederum durch Stabausfahren kompensiert wurde. In den folgenden Minuten versuchten die Operateure durch Regulierung der Speisewasser- und Turbinendampfzufuhr Wasserstand und Druck zu stabilisieren. Beide Parameter hätten zu einer Reaktorschnellabschaltung geführt; entsprechende Warnanzeigen wurden jedoch blockiert. Der Reaktor befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem äußerst instabilen Zustand, in dem jede kleinste Veränderung eines Parameters schwerwiegende Folgen haben konnte.

01:23: Der eigentliche Test begann. Das Haupteinlassventil der Turbine wurde zur Messung der Auslaufenergie geschlossen und somit dem Generator die Kraftzufuhr genommen. Dadurch wurde die Wärmeabfuhr aus dem Reaktor unterbrochen, die Temperatur stieg an und Kühlmittel verdampfte.

Im Gegensatz zu Leichtwasserreaktoren westlicher Bauart, in denen das Kühlmittel gleichzeitig Moderator ist, haben Reaktoren des RBMK-Typs im unteren Leistungsbereich einen positiven so genannten Dampfblasenkoeffizient (Voidkoeffizient). Das bedeutet, dass mit zunehmendem Verdampfen des Kühlmittels die Reaktivität des Reaktors steigt.

Genau das geschah auch hier. Der dadurch wachsende Neutronenfluss bewirkte einen verstärkten Abbau der im Kern angesammelten Neutronengifte (insbesondere Xe-135). Dadurch stiegen Reaktivität und Reaktorleistung immer schneller an, wodurch wieder größere Mengen Kühlmittel verdampften. Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Um 01:23:35 löste der Schichtleiter manuell die Notabschaltung des Reaktors aus.

Dazu wurden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor eingefahren, doch hier zeigte sich ein weiterer Konzeptionsfehler des Reaktortyps: Durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke (Graphit war der Hauptmoderator des Reaktors) wurde beim Einfahren eines vollständig herausgezogenen Stabs die Reaktivität kurzzeitig erhöht, bis der Stab tiefer in den Kern eingedrungen war.

Die durch das gleichzeitige Einführen aller Stäbe (über 250) massiv gesteigerte Neutronenausbeute ließ die Reaktivität so weit ansteigen, bis schließlich (um 01:23:44) die prompten Neutronen alleine (also ohne die verzögerten Neutronen) für die Kettenreaktion ausreichten („prompte Kritikalität“) und die Leistung innerhalb von Millisekunden das Hundertfache des Nennwertes überschritt („nukleare Leistungsexkursion“).

Die Hitze verformte die Kanäle der Regelstäbe, so dass diese nicht weit genug in den Reaktorkern eindringen konnten, um ihre volle Wirkung zu erzielen, und sie ließ die Druckröhren reißen und das Zirkonium der Brennstäbe mit dem umgebenden Wasser reagieren. Wasserstoff entstand in größeren Mengen und bildete mit dem Sauerstoff der Luft Knallgas, das sich vermutlich entzündete und zu einer zweiten Explosion (nur Sekunden nach der „nuklearen Exkursion“) führte.

Welche Explosion zum Abheben des über 1.000 Tonnen schweren Deckels des Reaktorkerns führte, ist nicht ganz klar. Außerdem zerstörten die Explosionen das (nur als Wetterschutz ausgebildete) Dach des Reaktorgebäudes, sodass der Reaktorkern nun nicht mehr eingeschlossen war und direkte Verbindung zur Atmosphäre hatte. Der glühende Graphit im Reaktorkern fing sofort Feuer. Insgesamt verbrannten während der folgenden 10 Tage 250 Tonnen Graphit, das sind etwa 15 Prozent des Gesamtinventars.

Große Mengen an radioaktiver Materie wurden durch die Explosionen und den anschließenden Brand des Graphit-Moderators in die Umwelt freigesetzt, wobei die hohen Temperaturen des Graphitbrandes für eine Freisetzung in große Höhen sorgten. Insbesondere die leicht flüchtigen Isotope Iod-131 und Cäsium-137 bildeten gefährliche Aerosole, die in einer radioaktiven Wolke teilweise hunderte oder gar tausende Kilometer weit getragen wurden, bevor sie der Regen aus der Atmosphäre auswusch. Radioaktive Metalle mit höherem Siedepunkt wurden hingegen vor allem in Form von Staubpartikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.

Gegen 05:00 waren die Brände außerhalb des Reaktors gelöscht. Block 3 wurde abgeschaltet.

27. April 1986: Die Blöcke 1 und 2 wurden um 01:13 bzw. 02:13 abgeschaltet. Es wurde begonnen, den Reaktor mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschütten. Dies verringerte die Spaltproduktfreisetzung und deckte das brennende Graphit im Kern ab.

Am 6. Mai 1986 wurde die Spaltproduktfreisetzung weitgehend unterbunden.

Folgen der Reaktorkatastrophe

Vorbemerkung zu den verschiedenen Studien

Die Folgen der Reaktorkatastrophe werden nach wie vor sehr kontrovers erörtert. Ein im September 2005 veröffentlichter Report des Tschornobyl-Forums beschreibt die gesundheitlichen, ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen aus der Sicht der Mitglieder dieses Forums. Das Tschernobyl-Forum besteht aus acht Organisationen der UNO (dies sind die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), bei der auch das wissenschaftliche Sekretariat angesiedelt ist; die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), das Büro der Vereinten Nationen zur Koordinierung der humanitären Hilfe (OCHA), das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen über die Wirkungen atomarer Strahlungen (UNSCEAR) und die Weltbank) sowie aus den Regierungen von Weißrussland, Russland und der Ukraine. Was die gesundheitlichen Folgen angeht, basiert der Report des Tschernobyl-Forums auf der WHO-Studie "Health Effects of the Chernobyl Accident and Special Health Care Programmes. Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group “Health” (EGH). Working Draft August 31, 2005".

Die Ausarbeitung des Tschornobyl-Forums wird von einigen Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen kritisiert. Dem Report wird einerseits vorgeworfen, parteiisch zu sein und die Folgen des Reaktorunglücks vorsätzlich zu verharmlosen. Andererseits wird auf methodische Mängel hingewiesen. So umfasse die Studie lediglich die Folgen in Belarus, Russland und der Ukraine, obwohl ein erheblicher Teil der Strahlenbelastungen in Mittel- und Westeuropa anfiel. Außerdem habe die Studie des Tschornobyl-Forums Publikationen, die höhere Opferzahlen nahe legen, unberücksichtigt gelassen. Schließlich wird kritisiert, dass die Untersuchungen erst fünf Jahre nach dem Unglück begonnen wurden (Beispiel für die Kritik einer NGO).

Mit "The other report on Chernobyl (TORCH)" wurde ein 'Gegenreport' zur Ausarbeitung des Tschornobyl-Forums veröffentlicht. Dieser Report wurde von den britischen Wissenschaftlern PhD Ian Fairlie und DPhil David Sumner erarbeit. Er sagt weitaus schwerwiegendere gesundheitsschädigende Folgen des Reaktorunglücks voraus. In Auftrag gegeben und privat finanziert wurde die Studie von der Grünen Europaabgeordneten und Atomkraftgegnerin Rebecca Harms.

Die nachfolgenden Angaben stammen im Wesentlichen aus obigen beiden Studien (siehe Weblinks).

Kontaminierte Gebiete

Karte zeigt die Caesium-137 Kontamination in Weißrussland, Russland, und der Ukraine. In Curie pro Quadratmeter.

Die größten Freisetzungen radioaktiver Stoffe fanden während des Zeitraums von zehn Tagen nach der Explosion statt. Die Wolken mit dem radioaktiven Fallout verteilten sich zunächst über viele Teile Europas und schließlich über die gesamte nördliche Halbkugel. Wechselnde Luftströmungen trieben sie zunächst nach Skandinavien, dann über Polen, Tschechien, Österreich, Süddeutschland und Norditalien. Eine dritte Wolke erreichte den Balkan, Griechenland und die Türkei. Innerhalb dieser Länder wurde der Boden je nach regionalen Regenfällen unterschiedlich hoch belastet. Insgesamt wurden etwa 218.000 Quadratkilometer mit mehr als 37.000 Becquerel (37 kBq) Cs-137 pro m² radioaktiv belastet. Mehr als 70 Prozent dieser Gebiete liegen in Russland, der Ukraine und Weißrussland. Während hier die stärksten Konzentrationen an flüchtigen Nukliden und Brennstoffpartikeln entstanden, wurde mehr als die Hälfte der Gesamtmenge der flüchtigen Bestandteile und heißen Partikel außerhalb dieser Länder abgelagert. Jugoslawien, Finnland, Schweden, Bulgarien, Norwegen, Rumänien, Deutschland, Österreich und Polen erhielten jeweils mehr als ein Petabecquerel (10 hoch 15 Bq oder eine Million Milliarden Becquerel) an Cäsium-137. Insgesamt wurden in Europa etwa 3.900.000 km² (40% der Gesamtfläche) durch Cäsium-137 kontaminiert (mindestens 4 kBq pro m²).

In den am stärksten belasteten Gebieten Deutschlands, im Südosten von Bayern, lagen die Bodenkontaminationen bei bis zu 2 Ci/km² Cs-137. Diese Landkreise hätten auch in Belarus, Russland und der Ukraine den Status der kontaminierten Zone erhalten. Auch einige Regionen in Grossbritannien und Skandinavien sind teilweise hohen Cäsium-Kontaminationen ausgesetzt, wobei die Belastung im Laufe der Jahre nur langsam abnimmt.

Strahlenexponierte Personengruppen

Unmittelbar nach dem Unglück und bis Ende 1987 wurden etwa 200.000 Aufräumarbeiter („Liquidatoren“) eingesetzt. Davon erhielten ca. 1.000 innerhalb des ersten Tages nach dem Unglück sehr hohe Strahlendosen im Bereich von 2 bis 20 Gray (externe Gamma-Bestrahlung). Die restlichen Liquidatoren erhielten demgegenüber wesentlich geringere Strahlendosen bis zu maximal etwa 500 milli-Sievert (mSv), bei einem Mittelwert von etwa 100 mSv. Die Zahl der Liquidatoren erhöhte sich in den nächsten Jahren auf insgesamt etwa 600.000, doch erhielten die später eingesetzten Liquidatoren deutlich geringere Dosen.

Im Frühjahr und Sommer 1986 wurden etwa 116.000 Personen aus der 30-Kilometer-Zone rund um den Reaktor evakuiert. Später wurden zirka 240.000 weitere Personen umgesiedelt. Für die ukrainischen Evakuierten wurde ein mittlerer Dosiswert von 17 mSv (Schwankungsbereich 0,1 bis 380 mSv) errechnet, für die weißrussischen Evakuierten ein Mittelwert von 31 mSv (mit einem maximalen Durchschnittswert in zwei Ortschaften von 300 mSv).

In den ersten Tagen nach dem Unfall führte die Aufnahme von radioaktivem Jod mit der Nahrung zu stark schwankenden Schilddrüsendosen in der allgemeinen Bevölkerung von im Mittel etwa 0,03 bis 0,3 Gy mit Spitzenwerten bis zu etwa 50 Gy. Eine Ausnahme davon bildeten die Einwohner von Prypjat, die durch die rechtzeitige Ausgabe von Tabletten mit stabilem Jod wesentlich geringere Schilddrüsendosen erhielten.

Die nicht evakuierte Bevölkerung erhielt während der fast 20 Jahre seit dem Unfall sowohl durch externe Bestrahlung als auch durch Aufnahme mit der Nahrung als interne Strahlenexposition effektive Gesamtdosen von im Mittel etwa 10 bis 20 mSv bei Spitzenwerten von einigen 100 mSv. Heute erhalten die fünf Millionen Betroffenen in kontaminierten Gebieten generell Tschernobyl-bedingte Dosen von unter 1 mSv/Jahr, doch rund 100.000 erhalten immer noch mehr als 1 mSv pro Jahr.

Gesundheitliche Folgen

Akute Strahlenkrankheit

Akute Strahlenkrankheit wurde zunächst bei 237 Personen vermutet und bei 134 Personen (insbesondere Kraftwerksbeschäftigten und Feuerwehrleuten) bestätigt. Von diesen sind 28 im Jahr 1986 und weitere 19 in den Jahren 1987 bis 2004 verstorben, einige möglicherweise auch aus anderer Ursache.

Langzeitfolgen

Die Langzeitfolgen des Unglücks sind schwer abzuschätzen. Wegen der Unsicherheit vieler Daten und epidemiologischer Modell-Parameter sind alle Voraussagen über zukünftige Morbiditäts- oder Mortalitätszahlen mit Vorsicht zu betrachten.

Schilddrüsenkrebs und Leukämien

Zu den bisher am häufigsten beobachteten gesundheitlichen Folgen gehört ein dramatischer Anstieg der Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Personen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine, die zum Zeitpunkt des Unglücks Kinder oder Jugendliche waren. Der Anstieg wird auf die Belastung mit radioaktivem Iod zurückgeführt und wurde Anfang der 1990er Jahre zuerst in Weißrussland beobachtet. Insgesamt wurden in den genannten drei Ländern bis Anfang 2006 etwa 5000 Fälle diagnostiziert. Mit weiteren Fällen wird noch über viele Jahre gerechnet. Von den betroffenen Patienten seien bis 2002 in Weissrussland 14 gestorben, davon 6 aus anderen Ursachen (persönliche Mitteilung). Umstritten ist, ob ein erhöhtes Schilddrüsenkrebs-Risiko auch für Menschen besteht, die zum Zeitpunkt der höchsten Belastung durch radioaktives Iod bereits erwachsen waren.

Ein durch freigesetzte radioaktive Strahlung bedingter Anstieg der Fälle von Leukämie ist bisher nicht eindeutig feststellbar, kann aber auch nicht widerlegt werden. Diesbezügliche Studien hatten zum Teil unsichere Datengrundlagen oder brachten widersprüchliche Ergebnisse. In einer großen Kohorte von Liquidatoren in Russland wurde (bei "registrierten" Strahlendosen zwischen 150 und 300 mSv) eine annähernde Verdoppelung des Leukämierisikos gefunden. Weitere Beobachtungen und Untersuchungen sind nötig.

Andere Krebserkrankungen

In Folge der durch die Katastrophe bedingten Freisetzung von radioaktiver Strahlung sind auch andere Krebserkrankungen zu erwarten. Sie werden aber zum größten Teil erst nach einer Latenzzeit von mehreren Jahrzehnten auftreten. Bisher konnten nach Angaben der International Agency for Research on Cancer (IARC) mit Ausnahme von Schilddrüsenkrebs in den am stärksten kontaminierten Gebieten keine erhöhten Krebsraten festgestellt werden, die eindeutig auf die Strahlung zurückgeführt werden können. Hinweise auf erhöhte Raten z.B. von Brustkrebs müssten weiter verfolgt wrden.

Schätzungen der IARC über die zu erwartende Häufigkeit an Krebserkrankungen beruhen auf Risikomodellen, die aus Studien bei anderen Populationen (hauptsächlich Opfern der Atombombenabwürfe in Japan) und auf der (umstrittenen) Basis der linearen Dosis/Wirkungs-Beziehung entwickelt wurden. Nach diesen Modellen wird bis 2065 in Europa mit ungefähr 16.000 Fällen von Schilddrüsenkrebs und 25.000 Fällen von anderen Krebsarten als Folge der Tschernobyl-bedingten Strahlenbelastung gerechnet. Zwei Drittel der Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs und mindestens die Hälfte der anderen Krebserkrankungen seien in Weißrussland, der Ukraine und den am stärksten kontaminierten Gebieten der russischen Föderation zu erwarten. Ca. 16.000 Todesfälle könnten auf diese Krebserkrankungen zurückgeführt werden.

Bei der hohen Zahl von Krebserkrankungen, die insgesamt in diesem Zeitraum in Europa auftreten würden, werde dieser Anstieg aber kaum in den nationalen Krebsstatistiken nachzuweisen sein.

Zu höheren Fallzahl-Schätzungen kam im April 2006 der "TORCH-Bericht" (The Other Report on Chernobyl), der von der EP-Abgeordneten Rebecca Harms (Fraktion "Die Grünen") in Auftrag gegeben worden war. Zwei britische Forscher kamen hier zum Ergebnis, dass unter den damals lebenden 570 Millionen Menschen zwischen 30.000 und 60.000 zusätzliche Krebstodesfälle durch die Katastrophe von Tschernobyl möglich sein könnten.

Strahlenbedingte Veränderungen des Genoms

Ionisierende Strahlung kann zu molekularen Veränderungen in der DNA führen. Die meisten dieser Veränderungen werden durch zelleigene Reparatursysteme wieder rückgängig gemacht. In einigen Fällen kann aber fehlerhaft oder nicht reparierte DNA eine Wirkungskette auslösen, die sich als Erbschaden oder noch nach Jahrzehnten als Krebserkrankung manifestiert. Selbst niedrige Strahlendosen, die nach bisherigen Erkenntnissen keine direkten gesundheitlichen Auswirkungen haben, können nachweisbare genetische Veränderungen, z.B. in peripheren Lymphozyten bewirken. Solche Zellen werden daher auch als Biodosimeter benutzt, um Abschätzungen über die Strahlenbelastung von Individuen zu machen.

Einige Studien an Menschen aus Weißrussland und der Ukraine, die der Strahlung durch den Unfall von Tschornobyl ausgesetzt waren, legen einen Zusammenhang zwischen dem in diesen Studien beobachteten signifikanten Anstieg bei der Mutation von Minisatelliten der DNA der Untersuchten und der Strahlenexposition nahe. Inwiefern diese Veränderungen zu Krankheitssymptomen führen können, ist jedoch unklar. Die Weltgesundheitsorganisation hält die statistische Aussagekraft von Studien zu diesem Thema aufgrund der bisher zu kleinen Fallzahlen für beschränkt. [1]

Der Bericht des Tschernobyl-Forums sieht "wegen der relativ niedrigen Dosis, der die Bewohner der betroffenen Gebiete ausgesetzt waren und sind", keinen Beweis oder Hinweis auf verringerte Fruchtbarkeit bei Männern und Frauen als direkte Folge ionisierender Strahlung. Diese Dosen hätten wahrscheinlich keinen größeren Effekt auf die Zahl der Totgeburten, bezüglich negativer Geburtsfolgen, auf Komplikationen bei der Geburt und auf die allgemeine Gesundheit der Kinder. Die gesunkenen Geburtenraten in den kontaminierten Gebieten könnten auf die Ängste der Bevölkerung und auf den Wegzug vieler jüngerer Menschen zurückzuführen sein. Ein mäßiger, aber beständiger Anstieg von berichteten angeborenen Missbildungen in kontaminierten und nicht kontaminierten Gebieten Weißrusslands scheine auf eine vollständigere Erfassung und nicht auf Strahlung zurückzugehen.

Andere (körperliche) Gesundheitsfolgen

In den am stärksten von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Ländern ist ein erheblicher Anstieg auch bei vielen nicht bösartigen Erkrankungen zu beobachten. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist deutlich gesunken. Beides gilt jedoch auch für die nicht kontaminierten Gebiete. Es ist umstritten, wie weit diese Veränderungen auf höhere Strahlenbelastung oder auf andere Faktoren (z.B. Armut, schlechte Ernährung, ungesunde Lebensbedingungen, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, psychische Belastungen im Zusammenhang mit der Katastrophe sowie den Evakuierungen und Umsiedlungen, selbstschädigendes Verhalten, bessere Diagnostik und Erfassung von Krankheiten) zurückzuführen ist. Die Zuverlässigkeit der Daten und die methodische Qualität vieler Studien sind sehr unterschiedlich.

Bei Erkrankungen der Augenlinsen (z.B. dem Grauen Star ist ein Zusammenhang mit radioaktiver Belastung wahrscheinlich. Schon relativ geringe Dosen in der Größenordnung von 250 mGy scheinen eine Zunahme der Bildung von Grauem Star zu bewirken. Einer solchen Dosis waren u.a. viele Aufräumarbeiter in den ersten Tagen nach der Explosion ausgesetzt. Auch bei anderen Augenerkrankungen (Akkomodationsstörungen, Makuladystrophien und Gefäßveränderungen) wird ein Zusammenhang mit radioaktiver Strahlung vermutet. Hier sind weitere Beobachtungen nötig.

Hohe Dosen radioaktiver Strahlung können ein breites Spektrum kardiovaskulärer Komplikationen verursachen. Die Auswirkungen chronischer und niedriger Strahlungsbelastung auf das Herz-Kreislauf-System sind weniger klar.

In Russland wurde in einer großen Studie an Notfall-Einsatzkräften von Tschernobyl ein signifikant höheres Risiko für tödliche Herz-Kreislauf-Krankheiten festgestellt. Ob dieses höhere Risiko allein auf höhere Strahlendosen oder auf konkurrierende Krankheitsursachen zurückzuführen ist, muss in weiteren Untersuchungen beobachtet werden. Es deckt sich aber mit Ergebnissen von Studien, die an Überlebenden von Atombombenangriffen durchgeführt wurden.

In mehreren Studien wurden Beeinträchtigungen des zellulären und humoralen Immunsystems gefunden. Die Interpretation dieser Befunde ist jedoch schwierig, weil sie auch andere Ursachen (Stress, chronische Infektionen, Ernährungsmängel, Chemikalien) haben können. Die Langzeitfolgen solcher Beeinträchtigungen sind noch unklar.

Mentale Gesundheit und psychosoziale Auswirkungen

Eine erhebliche Belastung für die Gesundheit durch die Katastrophe von Tschernobyl liegt in direkt oder indirekt von ihr verursachten mentalen und psychosozialen Folgen. Als mentale Folgen des Unglücks werden unter anderem Angst vor möglichen Folgen der Strahlung, das Drängen in eine Opferrolle, die zu einem Gefühl sozialer Ausgrenzung führt, sowie Stress in Zusammenhang mit Evakuierung und Umsiedlung genannt. Angst kann zu Krankheitserscheinungen und zu gesundheitsschädigendem Lebenswandel (Ernährung, Alkohol, Tabak) führen. Auch die hohe Suizidrate der Region wird damit erklärt. Inwiefern die fahrlässig oder bewusst falsche Informationspolitik (von welcher Seite auch immer) in Bezug auf die tatsächlichen Folgen des Unglücks die Unsicherheit der Menschen verstärkte, ist schwer abzuschätzen.

Reaktionen auf das Unglück außerhalb der ehemaligen Sowjetunion

In den Ländern außerhalb der damaligen Sowjetunion waren die Reaktionen auf das Reaktorunglück sehr unterschiedlich. So beherrschten in Süddeutschland und Österreich monatelang hitzige Diskussionen über "verstrahlte Lebensmittel" und andere mögliche Verstrahlungen die Öffentlichkeit. Dabei war die grundsätzliche Einstellung zur Kernenergie vielfach wichtiger als Sachargumente. Auch heute noch sind in der Diskussion um Tschernobyl die Grenzen zwischen sachlicher Information, gezielter Verharmlosung und absichtlich geschürter Verängstigung mitunter fließend. Die Katastrophe von Tschernobyl ist für Manche zum Symbol für die Gefahren der Nutzung der Kernenergie geworden und wird von Atomkraftgegnern häufig als Argument für einen schnellen Atomausstieg verwendet. Kernenergiebefürworter beklagen hingegen, dass Tschernobyl als Totschlagargument gegen die Nutzung der Kernenergie missbraucht werde.

Inwieweit seinerzeit bestimmte Empfehlungen zum Unterpflügen von Feldfrüchten oder zum Sperren von Kinderspielplätzen angemessen und notwendig waren, wird wohl noch eine Zeit lang umstritten bleiben. Weitgehend anerkannt ist heute allerdings, dass die damaligen Strahlenexpositionen in Deutschland und Österreich meist niedriger und nur in Ausnahmefällen etwa vergleichbar waren mit den Strahlenexpositionen durch Atombombentests vor dem Teststopabkommen.

Ein Beispiel für die damalige Diskussion in Deutschland ist die so genannte „Strahlenmolke“: Einige Molkereien in besonders betroffenen Gebieten waren angewiesen worden, die Molke von der Milch abzutrennen und nicht zu verkaufen, sondern einzulagern, da sich in ihr das radioaktive Cäsium besonders angereichert hatte. Der Vorschlag, diese Molke als Dünger auf Felder aufzubringen (Molke ist ein gutes Düngemittel), hatte keinerlei Chancen auf Umsetzung, obwohl die Radioaktivität der Molke kleiner war als die von manchem marktgängigen Düngemittel, diese Verwendung der Molke also sogar zu einer Verringerung der Radioaktivität auf Feldern geführt hätte. Stattdessen wurde die Molke in teuren, extra errichteten Spezialanlagen über Ionenaustauscher „entsorgt“.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden nach Bekanntwerden des Reaktorunglücks die Landwirte aufgefordert, den eigentlich für Anfang Mai anstehenden Umstieg von der Winterfütterung der Milchkühe auf Sommerfütterung (und Weide) noch bis nach den ersten Regenfällen hinauszuzögern (die Katastrophe fiel zusammen mit einer mehrwöchigen Schönwetterperiode, die einerseits das Wachstum der Wiesen sehr anregte, auf der anderen Seite aber auch mit einem stetig blasenden Ostwind die Verbreitung des radioaktiven Staubs nach Westen bewirkte). Später gab es dann eine Ausgleichszahlung für die landwirtschaftlichen Betriebe für die entstandenen Mehrkosten bei der Fütterung.

Auswirkungen Tschernobyls auf Länder außerhalb der ehemaligen Sowjetunion

Andererseits gab es tatsächlich messbare Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl auch in Westeuropa. So sind beispielsweise auch heute noch in einigen Regionen Deutschlands, insbesondere im Süden, Pilze, Waldbeeren und Wildtiere hoch belastet. Laut Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) ist die Kontamierung rund zehnmal höher als im Norden Deutschlands. In Deutschland wurden im Muskelfleisch von Wildschweinen Cäsium-137-Werte von bis zu 40.000 Bq/kg gemessen. Der Durchschnittswert beträgt 6.800 Bq/kg und damit mehr als das Zehnfache des EU-Grenzwertes von 600 Bq/kg. Wer seine Strahlungbelastung reduzieren will, sollte auf Waldpilze und Wildtiere verzichten.

In einigen Ländern gelten weiterhin Einschränkungen bei Produktion, Transport und Verzehr von Lebensmitteln, die immer noch durch den radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl belastet sind.

Ökonomische Folgen

Die Katastrophe von Tschernobyl verursachte immense Kosten und schadete der Wirtschaft in der Region. Wegen des ökonomischen Umbruchs aufgrund des Zusammenbruchs der UdSSR sind die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen Tschernobyls aber kaum zu erheben. Die Kosten haben ein großes Loch in die Budgets der drei beteiligten Länder gerissen.

Besonders betroffene Zweige der lokalen Wirtschaft waren Land- und Forstwirtschaft. So konnten aufgrund der Strahlenbelastung knapp 800.000 Hektar (ha) Land und 700.000 ha Wald nicht mehr wirtschaftlich genutzt werden. Die Landwirtschaft der Region litt und leidet aber auch unter dem „Stigma Tschernobyl“ (kaum Nachfrage nach Produkten aus der Region, kaum private Investitionen).

Weltweit verursachte der Unfall von Tschernobyl erhebliche wirtschaftliche Schäden durch eine Eskalation und Emotionalisierung der Diskussion um radiologische Themen. Der Verlust von Rationalität und die Politisierung der Forschung in diesem Themengebiet führten zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden, da vor dem Eindruck des Unfalls von Tschernobyl politische Entscheidungen zum Ausstieg aus der Atomtechnologie getroffen wurden, die heute mit etwas zeitlichem Abstand wieder aufgehoben werden. Gesellschaftlich werden erhebliche Ressourcen in der – oft wenig sachkundigen – Diskussion um Kernenergie gebunden, die dann für die Fortentwicklung anderer wichtiger Themen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Tschernobyl und die gesperrte Zone nach dem Unfall

Am 2. und 3. Mai 1986 wurden etwa 45.000 Einwohner aus den Gebieten in einem Umkreis von 10 km um den Reaktor evakuiert. Weitere 116.000 Einwohner wurden am 4. Mai 1986 aus dem Gebiet 30 km um den Reaktor evakuiert. In den folgenden Jahren wurden weitere 210.000 Einwohner umgesiedelt, so dass die Sperrzone mittlerweile 4.300 km² groß ist.

Etwa 1.000 Bewohner sind angesichts der wirtschaftlichen Lage trotz der stark erhöhten Strahlungswerte zum Teil schon Wochen nach dem Unglück in die gesperrte Zone zurückgekehrt. Der Grund war für die meisten, dass ihnen weder die damalige Sowjetunion noch der heutige ukrainische Staat in den Orten, in die sie evakuiert wurden, eine ausreichende Lebensgrundlage zur Verfügung stellen konnte. Dazu kommt, dass viele der Rückkehrer die Gesundheitsgefahr durch die Strahlung nicht sehr hoch einschätzten. Da es sich auch damals überwiegend um ältere Leute handelte, ist unklar, wieviele davon an den Folgen der Strahlung starben. Einige heute noch lebende Rückkehrer meinen, es seien "sehr viele gestorben". Einige berichten aber auch, sie hätten auch nach 20 Jahren in der verstrahlten Region keine strahlenbedingten Beschwerden. Im Dorf Tschernobyl selbst, einige Kilometer südlich des Reaktors, leben heute etwa 100 Rückkehrer. 2001 eröffnete auch die orthodoxe Dorfkirche Sv. Ilja wieder, zum Sonntagsgottesdienst erscheinen regelmäßig etwa 30 Gläubige. Alle Rückkehrer wie auch alle Bewohner der „Zone 3“, der Region rund um die Sperrzone, erhalten ab dem Alter von 47 Jahren eine kleine Sonderrente vom ukrainischen Staat in Höhe von umgerechnet 60 US-Dollar im Monat. Unabhängig davon ernähren sich praktisch alle Bewohner der Sperrzone, wie der belasteten, aber nicht evakuierten „Zone 3“, auch aufgrund der Armut und Arbeitslosigkeit vor Ort, von den Waldpilzen und dem vor Ort gezogenen Gemüse und Obst. Die gesundheitlichen Folgen bei den Erwachsenen sind schwer abzuschätzen, vor allem auch deshalb, weil es andere ungünstige Faktoren wie die mangelhafte Ernährung, die schlechte Wirtschaftlage, Alkoholismus und eine steigende AIDS-Rate gibt. Laut Einschätzung des Radiologischen Instituts der Stadt Ivankiv, etwa 50 Kilometer südlich von Tschernobyl, sind nur etwa 3 Prozent der Proben von Gemüse, Obst und Wildfleisch, die die Bewohner dort kostenlos zur Untersuchung einreichen, über die (mit westeuropäischem Niveau im Einklang befindlichen) Grenzwerte hinaus belastet. Die Messwerte schwanken aber sehr stark nach Mikro-Regionen, es gibt einzelne Proben, die enorm hoch belastet sind.

Was die Kinder betrifft, die in „Zone 3“ wohnen, schätzt Prof. Dr. Evgenia Stepanova, Chefärztin der Pädiatrischen Abteilung der 1987 für die Tschernobyl-Opfer gegründeten Klinik für Radiologie in Kiew, ein, dass etwa 90 Prozent der Kinder der Region an strahlenbedingter Immunschwäche leiden. Die Folgen seien insbesondere häufige Erkrankungen aller Art wie Lungenentzündung oder Allergien. Leukämie oder andere Krebserkrankungen bei Kindern träten aber "heute nicht besonders gehäuft" auf. Prof. Dr. Stepanova ist seit 1987 Chefärztin an dieser Klinik, war zuvor als Ärztin eines Krankenhauses in einem sowjetischen Atomkomplex in Sibirien eingesetzt. Das Dorf Tschernobyl ist heute vor allem Wohnort aller Arbeiter und Wissenschaftler, die im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe in der Sperrzone eingesetzt sind. Das Dorf wurde dafür ausgewählt, weil es innerhalb der Sperrzone als verhältnismäßig minderbelastet eingestuft wurde. Das Betreten ist trotzdem nur mit besonderer Genehmigung möglich. Auf Warnschildern wird vor der Gefahr von offenbar gelegentlich auftretenden Staubstürmen im Sommer gewarnt, die stark erhöhte Radioaktivität verbreiten. Für die Bewohner sind dafür in Tschernobyl besondere Schutzräume angelegt, die laut Warnschildern sofort aufgesucht werden sollen und die man nicht verlassen solle, bevor die Stürme sich gelegt hätten oder man gerettet werde. Es gibt dort heute ein kleines Hotel für ausländische Wissenschaftler, auch die Verwaltung der Sperrzone und verschiedene wissenschaftliche Institute der Ukraine haben dort ihren Sitz bzw. Außenstellen. Aus Strahlenschutzgründen wechseln die bei den dauernden Ausbesserungsarbeiten am "Sarkophag" eingesetzten und in Tschernobyl untergebrachten Arbeiter alle 14 Tage. Die Mitarbeiter der Verwaltung haben eine auf Montag bis Donnerstag verkürzte Arbeitswoche, kehren am Wochenende in ihre Wohnorte außerhalb der Sperrzone, meist nach Kiew, zurück. Vor Verlassen der Sperrzone gibt es Kontrollen auf radioaktive Kontamination. Besuchern vor Ort ist es selbst überlassen, wie sie mit der radioaktiven Belastung der Umgebung umgehen. Während insbesondere einheimische Wissenschaftler ungeschützt in der Sperrzone unterwegs sind, trifft man in der am höchsten belasteten Zone im Umkreis von einigen Kilometern rund um den Reaktor auch Experten aus westlichen Ländern mit Atemschutz und Schutzanzügen.

Die Sperrzone von Tschernobyl erscheint heute auf den ersten Blick als Naturparadies. Elche, Wölfe, Hirsche sind hier zahlreich vorhanden, in den 1990er-Jahren wurden hier auch einige vom Aussterben bedrohten Przewalski-Pferde ausgesetzt. Binnen 20 Jahren sind die damals verlassenen Dörfer verwildert und zum großen Teil zugewachsen.

Bis zum Ende der Sowjetunion waren die meisten Folgen vor Ort Staatsgeheimnis. Die Behörden und Experten der heutigen Ukraine, zum Teil sogar mit denselben beteiligten Personen wie Ärzten oder Radiologen, gehen heute offen und sehr auskunftsfreudig damit um. Die Hilfsgelder für die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe sind heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Ukraine.

Selbst das zum Teil stark durch Plutonium verseuchte Zentrum der Sperrzone von Tschernobyl wurde in den letzten Jahren auch von Plünderern heimgesucht, obwohl das Gebiet eigentlich abgesperrt, durch Schranken und Kontrollen abgeschirmt ist. Fast alle Wohnungen in der am 27. April 1986 nachmittags binnen Stunden evakuierten Stadt Prypjat sind geplündert, Türen eingeschlagen, Küchenherde und Möbel geraubt. Wildschweine und wildernde Hunde sind auf den ehemaligen und langsam zuwachsenden Straßen anzutreffen. Im Fundus des ehemaligen Theaters der Stadt lagern bis heute die Großplakate mit den Konterfeis der einstigen sowjetischen Politbüro-Mitglieder und zahlreiche Spruchbänder und Fahnen, vorbereitet für die Mai-Demonstration, die am 1. Mai 1986 in der Stadt stattfinden sollte.

Auch die meisten der tausenden 1986 eingesetzten Fahrzeuge und Hubschrauber, die wegen ihrer geringen bis hohen Verstrahlung damals auf einem zentralen "Friedhof" im Sperrgebiet abgestellt wurden, sind trotz formaler Bewachung und Einzäunung ausgeschlachtet und geplündert. Motoren und Windschutzscheiben fehlen, ganze Hubschrauber sind zerlegt und verschwunden.

Der Kernreaktor Tschernobyl heute

Alle drei noch funktionsfähigen Blöcke wurden nach dem Ende der Aufräumarbeiten wieder hochgefahren. Der zweite Reaktorblock wurde im Oktober 1991 nach einem Feuer in der Turbinenhalle abgeschaltet. Block 1 folgte im November 1996, Block 3 am 15. Dezember 2000. Die Abschaltung erfolgte insbesondere auf Druck der Europäischen Union, die Ukraine erhielt dafür entsprechende Ausgleichszahlungen.

Der havarierte Reaktorblock ist heute durch einen provisorischen, durchlässigen "Sarkophag" gedeckelt. Im Inneren ist weitgehend die Situation vom Zeitpunkt der Katastrophe in heißer Form konserviert. Von rund 190 Tonnen Reaktorkernmasse befinden sich Schätzungen zufolge noch rund 150-180 Tonnen im Gebäude, teils in Form geschmolzener und erstarrter Brennelemente aus Uran, Plutonium, Graphit und Sand (es wird auch Elefantenfuß genannt), teils in Form von Staub und Asche, in Form ausgewaschener Flüssigkeiten im Reaktorsumpf und Fundament oder in anderer Form.

Der internationale „Shelter Implementation Plan“ hat als Ziel, einen neuen haltbaren Sarkophag zu errichten. Als erste Maßnahme wurden das Dach des ursprünglichen Sarkophags verstärkt und die Belüftungsanlage verbessert. Der neue Sarkophag soll über dem alten errichtet werden. Dadurch soll es möglich sein, den alten Sarkophag zu entfernen, ohne dass weitere radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Der neue Sarkophag soll 257,44 Meter lang, 150 Meter breit und 108,39 Meter hoch werden.

Siehe auch

Literatur

  • 20 Jahre nach Tschernobyl – Eine Bilanz aus Sicht des Strahlenschutzes, Bericht der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Heft 50 (2006), H. HOFFMANN GmbH – FACHVERLAG, Berlin, ISBN 3-87344-127-6, ISSN 0948-308X
  • Chernobyl’s Legacy: Health, Environmental and Socio-Economic Impacts and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine; April 2006 (PDF-Dokument)
  • Igor Kostin/T. Johnson (Mitarbeit)/Übers. C. Kalscheuer: Tschernobyl - Nahaufnahme. München: Verlag Antje Kunstmann, 2006. 240 Seiten. ISBN 3-88897-435-6 (Fotoband, Reportage; Auszug, Besprechung: in der Süddeutschen Ztg. vom 24. März 2006 (hgn) mit ca. 10 Abbi.Beispielen)
  • Environmental Consequences of the Chernobyl Accident and Their Remediation: Twenty Years of Experience; Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group “Environment” (EGE), August 2005 (PDF-Dokument)
  • World Health Organization: Health Effects of the Chernobyl Accident and Special Health Care Programms. Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group “Health” (EGH) April 2006, Download: [1] (PDF 1,6 MB)
  • IAEA (Hrsg.): Chernobyl's Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts (...). September 2005 (PDF-Dokument)
  • Peter Jacob, Werner Rühm, Herwig G. Paretzke: 20 Jahre Tschernobyl – Die gesundheitlichen Auswirkungen In: Physik Journal 5 (2006), Nr. 4, S. 43 – 49 (www.physik-journal.de Zugang zu einer pdf-Datei)
  • Oda Becker, Helmut Hirsch: Tschernobyl: Sanierung des Sarkophags - Wettlauf mit der Zeit. Hamburg/Hannover: Greenpeace, 2004 (PDF-Dokument)
  • H. Dederichs, E. Konoplya, P. Hill, R. Hille: Systemtische Differenzierung kontaminierter und nicht kontaminierter Nutzflächen in der Region Korma., Schriftenreihe Reaktorsicherheit und Strahlenschutz; BMU-2002-613, 2002. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
  • A. Bayer, A. Kaul, C. Reiners: Zehn Jahre nach Tschernobyl, eine Bilanz. München: Gustav Fischer Verlag, 1996. - ISBN 3-43725-198-8
  • Karl-Heinz Karisch/Joachim Wille (Hg.): Der Tschernobyl-Schock. Zehn Jahre nach dem Super-GAU. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996. - ISBN 3-59613-301-7
  • Grigori Medwedew: Verbrannte Seelen - Die Katastrophe von Tschernobyl, Carl Hanser Verlag München Wien, 1991. - ISBN 3-44616-116-3
  • V. M. Chernousenko: Chernobyl. Insight from the Inside. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag, 1991. - ISBN 3-54053-698-1
  • Antje Hilliges/Irina Wachidowa: Als wir Tschernobyl überlebten. - ISBN 3-45364-508-1
  • Swetlana Alexijewitsch Stimmen aus Tschernobyl in: 20 Jahre Tschernobyl Themenheft Aus Politik und Zeitgeschichte Beilage zur Wochenzeitung das Parlament, 27.3.2006 (weitere Beiträge von Sahm, Jochum und Pfaffenberger, Mojib Latif, Jens Ivo Engel), online lesbar: [2]
  • Zhores Medwedjew: Das Vermächtnis von Tschernobyl, Münster: Daedalus Verlag Joachim Herbst, 1991, ISBN 3-89126-030-X


Vorlage:Koordinate Artikel

  1. WHO: Health Effects of the Chernobyl Accident and Special Health Care Programmes. Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group “Health” (EGH). Working Draft August 31, 2005, S. 114-116; The other report on Chernobyl (Torch), S. 10f