Pharmakos
Mit pharmakòs wurde im antiken Griechenland ein menschliches Opfer bezeichnet, das für Reinigungsrituale vorgesehen war.
Quellenlage und Verwendung des Begriffs in der Antike
Die Bezeichnung pharmakòs für Menschenopfer, das einheitliche Merkmale im ganzen griechischen Raum aufweist, ist bereits bei einigen Autoren des 6. bis 4. Jahrhundert belegt[1], die zwar nur indirekt Aufschluß über das Ritual geben. Deren Verwendung des Terminus und Anspielungen auf bestimmte Handlungen lassen aber annehmen, dass sie eine lebendige und gemeinverständliche Begrifflichkeit verwenden. Mehrere Autoren der Hellenistischen Epoche[2] liefern direkte Beschreibungen des Rituals, die mit denen übereinstimmen, die von leteinischen Quellen überliefert sind[3]. Durch spätere Grammatiker, Lexikographen und Scholiasten[4] sind auch einige Ursprungslegenden bekannt[5].
Nicht sicher ist, ob das Wort phármakon die geschlechtsneutrale Form von pharmakòs sei. Phármakon wurde von den Griechen sowohl in der Bedeutung von Gift als auch in der Bedeutung von Heilmittel verwendet. Einige spätere Quellen[6] verwenden auch das Wort katharma (Unrat, Sühneopfer) mit der gleichen Bedeutung wie pharmakòs. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments der Septuaginta und im Neuen Testament wird das Wort pharmakòs (manchmal phármakos) mit der Bedeutung von „Magier“ verwendet.
Gesicherte Erkenntnisse über die Opferung des pharmakòs
Das Ritual ist für viele griechische Städte und Kolonien des Mittelmeeres belegt und wurde ausgeführt, um die Stadt zu läutern, wenn Seuchen, Hungersnot, Kriege aber auch sonstige Krisen und Gefahren befürchtet wurden oder eingetroffen waren. In manchen Städten, wie Abdera, wurde die Opferung jährlich an einem bestimmten Tag dürchgeführt und für Athen und andere Städte Ioniens ist eine Verbindung mit den Thargelien-Feiern vermutet worden. Im Allgemeinen wird aber angenommen, dass die Opferung des pharmakòs – zumindest in seiner ursprünglichen Form – nicht Teil des offiziellen religiösen Kalenders war.
In allen Städten wurde als pharmakòs ein Mann[7] aus den Armen, Sklaven oder Fremden ausgewählt oder – wie in Abdera – gekauft. Für den Sprung von den Klippen von Leukas wurde ein verurteilter Verbrecher ausgewählt. Der Mann wurde entweder wegen seiner besonderen Hässlichkeit – so in Kolophon – oder zufällig ausgewählt und reichlich beköstigt – in Marseille ein Jahr lang – auf Kosten der Stadt. Für die Opferung wurde der Mann mit pflanzlichen Ornamenten behangen, durch die Stadt in einer Prozession oder Verfolgung gejagt, mit Ruten gepeitscht, mit Schmährufen beschimpft und von den Stadtbewohnern unter Verwünschungen aus der Stadt geführt. In Abdera, in Athen und in anderen ionischen Städten wurde der Mann anschließend mit Steinen beworfen und verjagt oder gesteinigt. In Marseille und Leukas wurde er von einer Felsklippe ins Meer gestürzt. In Kolophon wurde das Opfer wahrscheinlich verbrannt und dessen Asche ins Meer gestreut.
Alle Quellen berichten von der Teilnahme aller Stadbewohner an der Opferung selbst dort, wo diese – wie in Athen – unwahrscheinlich zu sein scheint.
Einige Autoren[8] haben Wert darauf gelegt, dass viele Quellen von einer Aussendung und nicht von einer Tötung des pharmakòs sprechen und dass die Handlung des Rituals nicht die Tötung eines Menschen als Ziel hatte. Andere[9] haben darauf hingewiesen, dass in den Berichten die Tötung oft absichtlich verschleiert wird[10] und dass das Verjagen eines Menschen in unbewohnte Gebiete, der durch Peitschenhiebe und Steinwürfe schwer verletzt sein dürfte, nichts anderes als eine Tötung sein kann. Für diese Autoren liegt das Hauptmerkmal des pharmakòs-Rituals in der einmütigen Ausübung der Gewalt seitens der Stadtgemeinschaft.
Die Opferung von pharmakòs genannten Opfern wurde bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte in ritualisierter Form praktiziert.
Ansätze in der anthropologischen Forschung
Louis-Jules Gernet hat darauf hingewiesen, dass Merkmale des pharmakòs auch bei einigen mythologischen Personen zu finden sind: So bei Dolon, der in der Ilias als „dreckig“ und schnell beim Laufen und von Euripides als „armer Teufel“ beschrieben wird und bei Thersites. Basierend auf einem Attribut – estolisménos, gerüstet, bewaffnet, geschmückt – mit dem im Suda-Lexikon der pharmakòs beschrieben wird, hat Gernet auch die Vermutung, der pharmakòs könnte eine Maske gewesen sein, aufgestellt. Er selbst weist aber darauf hin, dass weitere Anhaltspunkte für diese Vermutung nicht auszumachen sind.
H. Jeanmaire hat hervorgehoben, dass die Dokumente, in denen die opferkultischen Praktiken des pharmakòs und des Menschenopfers im Allgemeinen direkt erwähnt werden, hauptsächlich von frühchristlichen Autoren stammen, die die heidnischen Kultformen damit verurteilen wollten. Diese Zeugnisse berufen sich aber auf lokalgeschichtliche Werke von griechischen Philosophen und deren Zuverlässlichkeit könne nicht angezweifelt werden.
Jean-Pierre Vernant hat in seiner Analyse des König Ödipus in der Figur des pharmakòs das Motiv der Königsopferung erkannt, wie es auch in der Opferung des Narrenkönigs vorkommt. Der Narrenkönig habe alle Merkmale des Königs – nur umgekehrt: er verkörpert die Krisenzeit des Karnevals, in dem alle gesellschaftlichen Werte umgedreht erscheinen, und die kathartische Wiederherstellung der Ordnung durch seine feierliche Tötung.
Die Cambridge Ritualists haben das pharmakòs-Ritual mit dem Tod- und Wiederentstehungsmotiv des Wechsels der Jahreszeiten in Verbindung gebracht.
Walter Burkert hält die Erklärungsversuche nach dem Muster der Cambridge Ritualists für Spekulationen, die einen „ebenso einfachen wie erschreckenden Charakter dieses Dramas“[11] verdunkeln. Er hebt den kollektiven Charakter der Opferung hervor und bringt dieselbe in Verbindung mit anderen Notizen über mythisierte, nicht riualisierte oder gar politische[12] Formen des Menschenopfers oder Ausstoßung, die in den antiken Quellen in großer Menge vorhanden sind.
René Girard hat die pharmakòs-Rituale in der Aufstellung des Rahmens seiner Theorie des Sündenbocks extensiv thematisiert[13].
Quellen
- ↑ Hipponax aus Kolophon, Aristophanes, Lysias, Demostenes und andere.
- ↑ Kallimachos, Strabon, Plutarch und andere.
- ↑ Vergil (Aen, III, 57), Ovid, Petron.
- ↑ Servius, Suda-Lexikon, Johannes Tzetzes und andere.
- ↑ Weitere Quellen und genauere Angaben der hier genannten können u.a. aus Walter Burkert, Griechische Religion, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1977, 139-141, Irene Huber, Rituale der Seuchen- und Schadensabwehr im Vorderen Orient und Griechenland, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2005, 115-126 entnommen werden.
- ↑ So z.B. Suda und Herodian.
- ↑ Einige Quellen sprechen für Athen von zwei Männern oder von einem Mann und einer Frau.
- ↑ So z.B.. I. Huber, Rituale der Seuchen- und Schadensabwehr im Vorderen Orient und Griechenland und andere dort genannte Studien.
- ↑ So W. Burkert, R. Girard, siehe Literaturangaben.
- ↑ So z. B. berichtet Strabon, dass man in Leukas das hinuntergestürzte Opfer wieder aufzufischen versuchte.
- ↑ W. Burkert, Griechische Religion, 140.
- ↑ Für W. Burkert wie auch für J.-P. Vernant ist die Institution des ostrakismòs, des „Scherbengerichts“, die demokratische Rationalisierung einer dem Menschenopfer ähnlichen Tradition.
- ↑ Siehe dazu Die mimetische Theorie von René Girard.
Literatur
- Walter Burkert, Griechische Religion, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1977
- Louis-Jules Gernet, Anthropologie de la Grèce Antique, Flammarion, Paris 1999
- René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Fischer, Frankfurt a. M. 1994
- René Girard, Ausstossung und Verfolgung, Fischer, Frankfurt a. M. 1992
- Irene Huber, Rituale der Seuchen- und Schadensabwehr im vorderen Orient und Griechenland, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2005
- Henri Jeanmaire, Dionysos. Histoire du culte de Bacchus, Payot, Paris 1951
- Jean-Pierre Vernant, Ambiguïté et renversement; Sur la structure énigmatique d'OEdipe-Roi, in J.-P. Vernant, P. Vidal Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne, Éd. La Découverte, Paris 2004.