Tungusische Sprachen
Die tungusischen oder auch mandschu-tungusischen Sprachen sind eine Sprachfamilie von 12 relativ eng verwandten Sprachen, die von etwa 75.000 Sprechern in Nord-China, ostsibirischen Gebieten Russlands und Teilen der Mongolei gesprochen werden.

Tungusisch als Untergruppe der altaischen Sprachen
Die tungusischen Sprachen werden oft in einen genetischen Zusammenhang mit den mongolischen und Turksprachen gebracht und mit diesen als altaische Sprachfamilie zusammengefasst. Die typologischen und lexikalischen Übereinstimmungen mit den mongolischen und Turksprachen - im geringeren Umfang auch mit dem Koreanischen, Japanischen und mit sog. paläosibirischen Sprachen - sind jedoch auch durch eine gegenseitigen Beeinflussung durch Sprachkontakt anstatt durch genetische Verwandtschaft zu erklären. Diese Frage ist in der historischen Linguistik weiterhin umstritten, allerdings wächst die Tendenz, die Altaisprachen lediglich als arealen Sprachbund, aber nicht als genetische Einheit zu betrachten. Lexikalische Übereinstimmungen vor allem mit mongolischen und Turksprachen dürften zumindest größtenteils durch diffundierende Kulturwörter bedingt sein. (Dazu ausführlich im Artikel Altaische Sprachen.)
Klassifikation
Anhand lexikalischer und grammatischer Untersuchungen lassen sich die tungusischen Sprachen in die drei Gruppen Nord-Tungusisch (eigtl. Tungusisch), Südost-Tungusisch (Amur-Sprachen) und Südwest-Tungusisch (Mandschu-Sprachen) einteilen. Genauere Untersuchungen zeigten zudem, dass die beiden letzteren Gruppen enger verwandt sind. Insgesamt ergibt sich folgende Klassifikation:
- Tungusisch 12 Sprachen, 75 Tsd Sprecher
- Nord-Tungusisch
- Ewen
- Ewenisch (Lamutisch) (7.5 Tsd, ethnisch 17 Tsd) Russland: Jakutien, Kamtschatka
- Ewenki
- Ewenkisch (30 Tsd) Russland (10 Tsd): Sachalin; Solon in China (20 Tsd): Innere Mongolei, Mandschurei
- Orotschonisch (1.2 Tsd, ethnisch 7 Tsd) China: Innere Mongolei, Mandschurei
- Negidal
- Negidalisch (0.2 Tsd, ethnisch 0.5 Tsd) Russland: Amur-Unterlauf, Chabarowsk
- Ewen
- Süd-Tungusisch
- Südost
- Nanai
- Udihe
- Südwest (Mandschu)
- Mandschurisch (0.1 Tsd, ethnisch 10 Mio ?) China, Mandschurei (Sprache der Kaiser der Mandschu-Dynastie)
- Xibenisch (Sibe, Xibo, Sibo) (30 Tsd, ethn. 170 Tsd) China: Xingjiang, Ili und Urumtschi
- Juchen (Jurchen, Nuchen, Nuzhen) † China (früher von den Nuzhen gesprochen)
- Südost
- Nord-Tungusisch
Geographische Verbreitung
Die Anzahl und Benennung der Einzelsprachen variiert je nach Standpunkt der jeweiligen Wissenschaftler. Die Definition von relativ nahe verwandten Varianten (also Dialekten) als Sprachen folgt in einigen Fällen politischen Vorgaben. Alle tungusischen Sprachen sind vom Aussterben bedroht oder zumindest gefährdet.
Übersicht
Tungusische Sprachen - geographische Verteilung
Sprache / Gruppe | Sprecher | Geographische Verbreitung |
---|---|---|
NORD-TUNGUSISCH (TUNGUS) | . | . |
Ewenisch | 7.5 Tsd | Russland: Jakutien, Kamtschatka |
Ewenki-Solon | 30 Tsd | Russland: AK Ewenken, Sachalin "Ewenki" 10 Tsd China: Innere Mongolei, auch Mandschurei "Solon" 20 Tsd |
Negidalisch | 0.2 Tsd | Russland: Amurgebiet, Chabarowsk |
SÜDOST-TUNGUSISCH (AMUR) | . | . |
Nanai | 6 Tsd | Russland: Amur-Ussuri, Chabarowsk Krai |
Ultscha | 1 Tsd | Russland: Chabarowsk Krai, Ultsch-Region |
Orok | 0.1 Tsd | Russland: Sachalin |
Udihe | 0.1 Tsd | Russland: Chabarowsk Krai |
Orotsch | 0.1 Tsd | Russland: Chabarowsk Krai |
SÜD-TUNGUSISCH (MANDSCHU) | . | |
Mandschu | 0.1 Tsd | China: Mandschurei (ethn mehrere Mio) |
Xibe | 30 Tsd | China: Xingjiang, Ili-Gebiet (ethn 170 Tsd) |
Jurchen | † | China: früher Mandschurei, Nordchina |
Nordtungusisch (Tungusisch i.e.S.)
Das Ewenische (alte Bezeichnung: "Lamutisch") ist in Nordost-Sibirien in Jakutien und auf der Kamtschatka-Halbinsel verbreitet.
In vielen Teilen Sibiriens, einigen Regionen der Mongolei und im äußersten Nordosten der Volksrepublik China wird die ewenkische Sprache gebraucht. Es ist das Tungusische im engeren Sinne. Ewenkisch weist viele regionale Varianten auf, die in Sibirien, vor allem auf Sachalin, von etwa 10 Tsd. Menschen gesprochen. In China wird das Ewenkische "Solon" genannt und dort von etwa 20 Tsd. in der Inneren Mongolei und Mandschurei gesprochen. (Früher wurden diese Dialekte des Ewenkischen als separate Sprachen betrachtet.)
Zu dieser Gruppe gehört sprachlich auch das Negidalische, das noch von rund 200 Personen am Amur-Unterlauf gesprochen wird (geographisch eine Amur-Sprache).
Südost-Tungusisch: Amur-Sprachen
In den zu Russland gehörenden Regionen am Unterlauf des Amur (Chabarowsk Krai) werden folgende tungusische Sprachen gesprochen: Nanai (Gold, Hezhe), Ultscha, Orokisch, Orotsch und Udihe. Das Negidalische, das auch am Amur gesprochen wird, gehört linguistisch zu den nordtungusischen Sprachen. Sie haben zusammen nur 7-8 Tsd. Sprecher.
Südwest-Tungusisch: Mandschu-Sprachen
In der Mandschurei wird noch in zwei Dörfern die mandschurische Sprache (Mandschu) von weniger als 100 Personen gesprochen. Die übergroße Mehrheit der über 10 Millionen Mandschuren der Volksrepublik China sprechen heute Varianten der chinesischen Sprache. Die mandschurische Sprache war eine der Amtssprachen der Qing-Dynastie (1644–1911). Die Xibe-Sprache, die sich aus dem Mandschurischen entwickelt hat, ist heute in Xinjiang im Ili-Gebiet verbreitet (rund 30 Tsd Sprecher).
Ausgestorben ist die im Mittelalter in Nord-China (Jin-Dynastie 1114–1234) als Schrift- und Amtssprache gebrauchte Sprache der Jurchen. Möglicherweise hat sich das Mandschu aus dem Jurchen entwickelt.
Schriftsprachen
Eine tungusische Schrift- und Literatursprache im eigentlichen Sinne war nur das Mandschu, für das als Offizialsprache der chinesischen Mandschu-Dynastie im 17. Jhdt. - basierend auf mongolischen Vorbildern - eine Schrift geschaffen wurde, in der es auch eine nennenswerte Literatur gibt.
1931 bekamen das Ewenkische, Ewenische und Nanai die lateinische Schrift, kurz danach 1936/37 wurden sie kyrillisch verschriftet.
"Tatarisch" und tungusisch
Im Russischen wurden einige tungusische Sprachen - wie viele andere sibirische Sprachen auch - "tatarisch" genannt. Das heißt natürlich nicht, dass sie mit der heute Tatarisch genannten Turksprache enger verwandt wären.
Tungusische Etymologien (Wortgleichungen)
Einen Blick auf den tungusischen Grundwortschatz bietet die folgende Tabelle. Sie zeigt, dass die tungusischen Sprachen eng verwandt sind, lässt aber auch die Hauptgruppierungen in Nord Ewen-Ewenki-Negidal), Südost (Amur-Sprachen) und Südwest (Mandschu-Juchen) erkennen.
Bedeutung | Proto- Tungus. |
Evenki | Even | Negidal | Manchu | Jurchen | Ulcha | Orok | Nanai | Oroch | Udihe |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Mutter; Frau | *eni | enin | enin | enin | enen | enin | en- | enin | enin | eni | enin |
Schwester (ält.) | *eke(n) | ekin | ekın | exe | xexə | xexe | eqte | ekte | ekte | eki | exi |
Bruder (ält.) | *aka | aka | aqa | aga | xaxa | xaxa | aGa | aka | . | aka | aga' |
Schwiegertochter | *bener | bener | benır | bene | . | . | bener | . | bener | bene | bene |
Brust; Herz | *(k)ukun | ukun | ökın | öxön | oxo | . | kukun | qun | kun | okon | . |
Nase | *xoŋa | oŋokto | oŋıt | oŋokto | xoŋqo | . | xoŋqo | . | qoŋkto- | xoŋko | . |
Sehne,Faden | *sire(kte) | sirekte | siren | sijen | sirge | . | sirekte | sirekte | sirikte | sijekte | siekte |
Auge | *(n)iasa | esa | äsıl | esa | jasa | ŋiaci | isal | isal | nisal | isa | jehä (?) |
Hand, Pfote | *mana | mana | mana | mana | . | . | mana | . | maja | manaka | mane |
Wasser | *mu(ke) | mu | mo | mu | muke | mo | mu | mu | muke | mu | mu |
Fels | *kada(r) | kadar | qadar | kada | xada | . | qadali | qada | qadar | kada | kada |
Eis | *djuke | djuke | djök | djuxe | djuxe | djuxe | djue | duke | djuke | djuke | judge |
3 | *ilan | ilan | ilın | ilan | ilan | jilan | ilan | ilan | ilaŋ | ilan | ilan |
4 | *dügin | diγi | diγi | diγi | duju | dujin | duin | djin | duin | di | di |
5 | *tuŋa | tuŋa | tunŋın | tuŋna | sunja | cunja | tunja | tunda | tojŋa | tuŋa | tuŋa |
7 | *nadan | nadan | nadın | nadan | nadan | nadan | nadan | nadan | nadaŋ | nadan | nadan |
Sprachliche Eigenschaften
Typologisch weisen die tungusischen Sprachen große Ähnlichkeit mit den beiden anderen Gruppen der altaischen Sprachen (Turkisch und Mongolisch) auf, diese Merkmale sind also weitgehend gemeinaltaisch und finden sich zum Teil auch bei uralischen und paläosibirischen Sprachen (siehe Altaische Sprachen).
Die wichtigsten typologischen Charakteristika der mongolischen Sprachen sind:
- Mittelgroße Phoneminventare, einfache Silbenstruktur, kaum Konsonantencluster.
- Vokalharmonie zwischen letztem Vokal des Stamms und folgendem Suffix, die auf verschiedenen Vokaloppositionen beruht.
- Eine weitgehend agglutinative Wortbildung und Flexion, und zwar nahezu auschließlich durch Suffixe. Jedes Morphem hat eine spezifische Bedeutung und grammatische Funktion und ist - abgesehen von den Erfordernissen der Vokalharmonie - unveränderlich. Es gibt in den tungusischen Sprachen aber auch Ansätze von periphrastischen Bildungen (Flexion mit Hilfswörtern).
- Bei der Nominalbildung gilt die Markerfolge PLURAL - KASUS - POSSESSIVUM, abweichend vom Turkischen und Mongolischen, vergleichbar mit dem Finnischen.
- Adjektive werden nicht flektiert, sie zeigen keine Konkordanz mit ihrem Bestimmungswort.
- Es gibt keine Artikel.
- Es gibt kein grammatisches Geschlecht.
- Ebenso wie die mongolischen Sprachen besitzen auch die tungusischen das Konzept der Konverben, die als Ersatz für Nebensatzkonstruktionen verwendet werden. Generell werden Nebensätze nominalisiert und in den Hauptsatz als Satzteil eingebaut.
- Die normale Satzfolge ist SOV (Subjekt-Objekt-Verb).
Siehe auch
- Mandschu-tungusische Völker
- Altaische Sprachen
- Mongolische Sprachen
- Turksprachen
- Paläosibirische Sprachen
Literatur
- Benzing, Johannes (1955a): Die tungusischen Sprachen: Versuch einer vergleichenden Grammatik. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1955, Nr. 11) Wiesbaden: Steiner
- Benzing, Johannes (1955b): Lamutische Grammatik mit Bibliographie, Sprachproben und Glossar. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Veröffentlichungen der orientalischen Kommission, 6) Wiesbaden: Franz Steiner
- Castrén, Matthias A. (1856) : Grundzüge einer tungusischen Sprachlehre. St. Petersburg [repr. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1969]
- Comrie, B. (1981): The languages of the Soviet Union. Cambridge: CUP
- Doerfer, G. / W. Hesche / H. Scheinhardt (1980): Lamutisches Wörterbuch. Wiesbaden: Harrassowitz
- Hauer, Erich (1952–55): Handwörterbuch der Mandschusprache. Wiesbaden: Harrassowitz
- Malchukov, Andrei L. (1995): Even. (Languages of the World, Materials, 12) München / Newcastle: LINCOM Europa
- Masica, Colin P. (1976): Defining a linguistic area: South Asia. Chicago, IL / London: Chicago UP
- Nikolaeva, Irina & Maria Tolskaya (2001): A grammar of Udihe. (Mouton Grammar Library) Berlin / New York, NY: Mouton de Gruyter
- Ning, Jin (1993): Sibe-English Conversations. Wiesbaden: Harrassowitz
- Norman, Jerry (1978): A concise Manchu-English lexicon. Seattle, WA / London: Washington UP
- Ramsey, S. Robert (1987): The languages of China. Princeton
- Роббек, В.А. (1989): Язык эвенов березовки. Ленинград: Наука
- Schiefner: [Artikel], in: Bulletin der Petersburger Akademie. St. Petersburg 1859
- Sotavalta, Arvo A. (1978): Westlamutische Materialien. (Soumalais-Ugrilaisen Seuran Toimituksia, 168) Helsinki
- Stary, Giovanni (1990): Taschenwörterbuch Sibemandschurisch-Deutsch. Wiesbaden: Harrassowitz