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Archäologische Untersuchung der „Republik Freies Wendland“

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Bei der Ausgrabung der Republik Freies Wendland handelt es sich die archäologische Untersuchung des ehemaligen Hüttendorfs bei Gorleben in Niedersachsen. Atomkraftgegner hatten nach einer Platzbesetzung am 3. Mai 1980 rund 120 Holzhütten aus Protest gegen den Bau des Atommülllagers Gorleben errichtet und darin die Republik Freies Wendland ausgerufen. Die wissenschaftliche Erforschung des damaligen Protestcamps, unter anderem durch Ausgrabungen, erfolgt in den Jahren 2016 bis 2018 als Promotionsprojekt eines Archäologen der Universität Hamburg. Die Untersuchungen gelten den im Boden verbliebenen Resten der Anlage und den Hinterlassenschaften der Campbewohner. Es handelt sich um das erste Projekt zeitgeschichtlicher Archäologie zur Alltagskultur des späten 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum.

Archäologische Exkursion zum früheren Standort der Republik Freies Wendland, 2017

Lage

Die archäologische Untersuchung erfolgt auf dem Areal des früheren Protestcamps der Republik Freies Wendland. Das Hüttendorf lag innerhalb eines Waldgebietes zwischen dem Ort Trebel und dem Atommülllager Gorleben auf einer großflächigen Lichtung, die im Sommer 1975 nach einer Brandstiftung beim Brand in der Lüneburger Heide entstanden war. Das Protestcamp erstreckte sich auf einer sandigen Brachfläche von etwa 300 × 400 Meter mit verbrannten Baumresten.

Heute (2017) ist das Areal des früheren Protestcamps größtenteils mit jungem Nadelwald bestanden. Ein Teilbereich (etwa 5 %) ist von der Asphaltfläche der einstigen Tiefbohrstelle 1004 bedeckt, die unmittelbar nach der Räumung des Camps 1980 errichtet und bereits in den 1980er Jahren wieder aufgegeben wurde.

Geschichte

Die asphaltierte Tiefbohrstelle 1004 in jungem Nadelwald, 2015

Das Hüttendorf entstand am 3. Mai 1980 bei einer Platzbesetzung durch rund 5000 Atomkraftgegner. Sie waren aus dem gesamten Bundesgebiet angereist, um gegen den Bau des Atommülllagers Gorleben zu protestieren. Die Besetzung erfolgte am Standort der geplanten Tiefbohrstelle 1004, mit der die Physikalisch-Technische Bundesanstalt den Salzstock Gorleben auf seine Eignung als kerntechnisches Endlager untersuchen wollte.

Mit der Besetzung rief das „Untergrundamt Gorleben-Soll-leben“ aus den Reihen der Atomkraftgegner die Republik Freies Wendland als eigenen Staat aus. Die Besetzer errichteten in der Folge ein Hüttendorf mit etwa 120 Hütten aus Holz und Lehm, darunter auch zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen, wie Großküche, Kirche, Krankenstation, Toilettenanlage und Mülldeponie. Das größte Gebäude war das achteckige Freundschaftshaus mit einem Durchmesser von etwa 30 Metern, das rund 400 Personen Platz bot.

Im Protestcamp lebten dauerhaft etwa 500 bis 600 ständige Besetzer, die an den Wochenenden Zulauf durch bis zu 5000 Besucher erhielten. Nach einer 33-tägigen Besetzungsdauer räumte die Polizei am 4. Juni 1980 bei einem der größten Polizeieinsätze der Nachkriegszeit das Protestcamp mit rund 2000 anwesenden Besetzern.

Forschungsvorhaben

Die Ausgrabung der Republik Freies Wendland ist als zweijähriges Promotionsprojekt angelegt, das der Archäologe Attila Dézsi vom Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Universität Hamburg durchführt. Die wissenschaftliche Erforschung des Geländes trägt den Titel:[1]

„Zeitgeschichtliche Archäologie des 20. Jahrhunderts an Orten des Protests. Kritische Archäologie und Community Archäologie der Freien Republik Wendland.“

Sie ist Grundlage für eine Dissertation von Dézsi, wofür ihm die Universität Hamburg ein Stipendium gewährt.[2] Die Forschungen begannen 2016 und sollen 2018 abgeschlossen sein. Dabei kooperiert der Archäologe mit dem in Lüchow ansässigen Gorleben Archiv, dass die Geschichte des Protests gegen das Atommülllager im Wendland dokumentiert.[3] Zu den Forschungen entsteht ein Dokumentarfilm der Wendländischen Filmkooperative.[4]

Ziele und Methoden

Die Untersuchungen beinhalten unter anderem Auswertungen von Bild-, Schrift und Tonquellen, geophysikalische Prospektionen sowie Ausgrabungen. Die Ergebnisse werden miteinander verglichen und gegenübergestellt. In den Forschungsprozess sind Anwohner und Zeitzeugen einbezogen.[5] Ziel ist die Rekonstruktion des Camps und der Erforschung des vierwöchigen Alltagslebens der Besetzer.[6] Anhand von archäologisch untersuchten Gebäudestandorten will der Archäologe Attila Dézsi Erkenntnisse über den Aufbau und die Funktion verschiedener Hütten gewinnen. Dies könne Einblicke in die Sozialstrukturen des Camps geben. Mittels Bodenbefunden und Artefakten sollen auch die Ereignisse der Platzbesetzung und der Platzräumung erforscht werden.[3]

Bei der Erforschung sind in einem sechs Fußballfelder großen Bereich, den das Camp umfasste, einzelne kleinflächige Ausgrabungen vorgesehen. [7] Mit ihnen sollen zum einen tiefere Bodeneingriffe für größere Hütten und Türme gefunden werden. Ebenso sollen die Grabungen dem Auffinden von Hinterlassenschaften der Besetzer dienen, beispielsweise in Form persönlicher Gegenstände und als Gegenstände des täglichen Lebens.[8] Der ausführende Archäologe Attila Dézsi vermutete im Vorfeld, bei den Ausgrabungen auf materielle Kultur, wie „Kanister, Glasflaschen, Kleidung“, zu stoßen. Die Wahrscheinlichkeit dafür erschien ihm groß, denn bei der Räumung des Camps 1980 zerstörten Polizei sowie Bundesgrenzschutz zwar die Hütten mit Planierraupen, ließen aber die Überreste liegen.

Archäologische Untersuchungen

Bei der ersten Begehung des Geländes im Frühjahr 2017 unter Mitwirkung von Sondengängern wurden 450 Gegenstände gefunden, die zu etwa zwei Dritteln aus der Zeit um 1980 stammen. Dazu zählten vor allem Getränkedosen und Kochtöpfe, darunter ein vermutlich bei der Räumung platt gewalzter Topf.[9] Die erste Ausgrabungskampagne fand über etwa zwei Wochen im Oktober 2017 an zwei Grabungsstellen statt. Die Grabungen nahmen Studierende der Universität Hamburg und tageweise frühere Bewohner des Hüttendorfes vor.[3] Zu den Fundstücken zählen verschiedene Alltagsgegenstände, wie Löffel, eine Tassse und Reste von Fensterglas. Zu den freigelegten Befunden gehören die Fahrspur einer Planierraupe und eine vermutlich von der Polizei angelegte Abfallgrube.[10]

Die Ausgrabung wird durch einen Förderpreis für Nachwuchswissenschaftler der Society for Post-Medieval Archaeology unterstützt.[11]

Bedeutung

Der Archäologe Attila Dézsi sieht im früheren Protestdorf einen bedeutsamen Ort der Protest-, Demokratie- und Umweltgeschichte. Dessen Erforschung hält er für wichtig, um die gewonnenen Erkenntnisse an jüngere Generationen weiterzugeben.[12] Auch hält er den Ort bedeutsam, weil das Hüttendorf für die Wende in der Energiepolitik stehe.[7] Das archäologische Eingreifen könne die Rolle der Archäologie in der modernen Gesellschaft reflektieren und dazu dienen, den Ereignisort als kulturelles Erbe zu diskutieren. [13]

Das Forschungsvorhaben ist das erste Projekt zeitgeschichtlicher Archäologie zur Alltagskultur des späten 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum.[14] Es knüpft damit an die aktuellen Entwicklungen der internationalen zeitgeschichtlichen Archäologie an.[1]

Kritik

Das Forschungsvorhaben, das ein Ereignis des späten 20. Jahrhunderts aufgreift, führte zu einer Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Gegenwartsarchäologie und der Äußerung von Unverständnis gegenüber ihren Anliegen.[15]

Commons: Ausgrabung der Republik Freies Wendland – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Beschreibung des Dissertationsprojektes von Attila Dézsi beim Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften der Universität Hamburg
  2. Archäologen erforschen "Republik Freies Wendland" bei NDR.de vom 15. September 2016
  3. a b c Archäologische Erforschung der Freien Republik Wendland bei Gorleben-archiv.de
  4. Nordmedia Produktionsspiegel: Gorleben 7
  5. Reimar Paul: Was dort begraben liegt in taz vom 16. Oktober 2016
  6. Dietrich Mohaupt: Gewaltfreier Protest für eine atomfreie Zukunft bei Deutschlandfunk vom 3. November 2016
  7. a b Archäologe gräbt „Republik Freies Wendland“ aus in Bild vom 17. Februar 2017
  8. Reimar Paul: „Republik Freies Wendland“ soll wissenschaftlich erforscht werden in Weser-Kurier vom 9. Oktober 2016
  9. Jörg Römer: Archäologen erforschen Achtzigerjahre bei spiegel.de vom 21. September 2017
  10. Thomas Janssen: Was bleibt von 30 Tagen? Im Spannungsfeld von Forschung und Mythenbildung: Die Ausgrabung von 1004 bei Gorleben in Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 3. November 2017
  11. ''Pressegespräch: Promotionsprojekt Archäologische Ausgrabung des Protestcamps „Freie Republik Wendland“ bei Gorleben-archiv.de vom 9. November 2017
  12. Ann-Kristin Mennen: Archäologe gräbt "Freie Republik Wendland" aus bei ndr.de vom 18. Januar 2017
  13. 45. Herbsttagung am 23./24. September 2017 bei Heimatkundlicher Arbeitskreis Lüchow-Dannenberg (HALD)
  14. Graben nach den Resten der Freien Republik Wendland bei wendland.net vom 5. Dezember 2016
  15. Jutta Zerres: Der Kaugummi von Renate Künast - oder: Wann beginnt Archäologie? beim Wissenschaftsblog Archaeologik vom 9. Februar 2017

Koordinaten: 53° 0′ 46,4″ N, 11° 20′ 4,3″ O