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Minimalistisches Programm

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Überblick

Zurückgehend auf den Titel eines Artikels von Noam Chomsky (Chomsky 1992, A Minimalist Program for Linguistic Theory) bezeichnet der Begriff eine Weiterentwicklung der gemeinhin als Generative Grammatik bekannten Syntaxtheorie. Dabei stellt das Minimalistische Programm (im folgenden: MP) eine radikale Abkehr von einer Reihe vormals zentraler Prinzipien dar - insbesondere ist hier der vollständige Verzicht auf eine Differenzierung zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur zu nennen, außerdem werden syntaktische Bewegungsphänomene nicht mehr über Rektion und Bindung (Government and Binding), sondern über eine Reihe von Ökonomieprinzipien erklärt. Insgesamt zielt das MP darauf ab, die strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme als das direkte Resultat komplexer Interaktionen der Verarbeitungsmechanismen anderer kognitiver Systeme zu erklären.

Organisation der Grammatik

Grundsätzlich wird im MP davon ausgegangen, dass sich jeder grammatische Satz einer Sprache als eine sogenannte Derivation beschreiben lässt. Ausgangspunkt jeder Derivation ist die Numeration, wobei darunter eine ungeordnete Menge derjenigen Lexeme verstanden wird, aus denen der Satz konstruiert werden soll (also z.B. "Hans","kauft","Auto","ein" für den Satz "Hans kauft ein Auto"). Die eigentliche Derivation besteht nun aus einer Reihe von sequentiell ablaufenden Operationen auf dieser Menge und den auf diese Weise gebildeten strukturierten Untermengen: die Operation Select wählt zunächst zwei Elemente aus der Numeration aus, die dann mittels der Operation Merge zu einem Objekt höherer Ordnung (z.B. einer Phrase) verknüpft werden; anschließend werden mittels der gleichen beiden Operationen weitere Elemente hinzugefügt, wobei über die Operation Move unter bestimmten Bedingungen auch bereits integrierte Elemente verschoben werden können. Merge erzeugt dabei nur solche Objekte, die eine im weitesten Sinne X'-konforme (siehe X-Bar-Theorie) Struktur haben (in neueren Arbeiten zum MP wird diese Annahme allerdings meist nicht mehr gemacht; siehe Bare Phrase Structure). An einem bestimmten Punkt in der Derivation (Spell-Out) wird die erzeugte Lexemfolge an das Artikulatorisch-Phonetische System (eine der beiden Interface-Ebenen) übergeben, also ein hörbarer akustischer Output produziert; die Derivation als solche kann aber noch weitergehen (dann stattfindende Operationen sind zwangsläufig kovert), bis die vollständige Derivation schließlich das Intentional-Konzeptuelle System erreicht.

Beispiel:

Numeration: "Hans", "kauft", "Auto", "ein", INFL
 Derivation:
 * Select - "Auto", "ein"
 * Merge  - "Auto", "ein" -> DP[ein Auto]
 * Select - "kauft", DP[ein Auto]
 * Merge  - "kauft", DP[ein Auto] -> V'[kauft DP[ein Auto]]
 * Select - "Hans", V'[kauft DP[ein Auto]]
 * Merge  - "Hans", V'[kauft DP[ein Auto]] -> VP[Hans V'[kauft DP[ein Auto]]]
 * Select - INFL, VP[Hans V'[kauft DP[ein Auto]]]
 * Merge  - INFL, VP[Hans V'[kauft DP[ein Auto]]] -> I'[INFL[VP[Hans V'[kauft DP[ein Auto]]]]]
 * Move   - Hans -> IP[Hans I'[INFL[VP[t V'[kauft DP[ein Auto]]]]]]

Merkmale

Jedes Lexem wird im MP prinzipiell als eine Menge von unterschiedlichen Merkmalen aufgefasst. Dabei wird zunächst zwischen semantischen, phonologischen und grammatischen Merkmalen unterschieden. Merkmale können interpretierbar oder nicht-interpretierbar sowie stark oder schwach sein.

  • Semantische Merkmale (z.B. Animatheit) sind immer interpretierbar.
  • Phonologische Merkmale (im wesentlichen die Lautfolge, mittels derer das Lexem akustisch realisiert wird) sind niemals interpretierbar.
  • Grammatische Merkmale sind teilweise interpretierbar (z.B. Tempus) und teilweise nicht-interpretierbar (z.B. Kasus).

Nicht-interpretierbare schwache Merkmale müssen aus der Derivation getilgt werden, bevor diese an das Intentional-Konzeptuelle System übergeben wird, nicht-interpretierbare starke Merkmale sogar noch vor Spell-Out (also vor der Übergabe an das Artikulatorisch-Phonetische System). Derivationen, die nur interpretierbare Merkmale enthalten, konvergieren, Derivationen, die nicht-interpretierbare Merkmale enthalten, kollabieren. Grammatische Merkmale können nur im Rahmen von Merkmalsüberprüfung gelöscht werden, phonologische Merkmale werden im Rahmen von Spell-Out aus der Derivation entfernt.


Merkmalsüberprüfung

Nicht-interpretierbare grammatische Merkmale wie z.B. Kasus müssen im MP spätestens bei Erreichen der Ebene der logischen Form (wenn es sich um schwache Merkmale handelt), teilweise auch bereits vor Spell-Out (wenn es sich um starke Merkmale handelt) aus der Derivation getilgt werden. Das ist nur in bestimmten strukturellen Konfigurationen (Checking Configurations) möglich - im allgemeinen geht man davon aus, dass hierfür nur sogenannte Spezifizierer-Kopf-Relationen in Frage kommen:

Beispiel:

  XP
 /  \
ZP  X'
   / \
  X  YP

In obigem Beispiel besteht eine solche Relation zwischen X (dem Kopf der Phrase) und ZP (dem Spezifikator). Tragen der Kopf und sein Spezifikator ein identisches nicht-interpretierbares Merkmal, so wird es aus der Derivation getilgt. Ganz konkret:

Beispiel:

                   vP
                 /    \
                /      \
               /        \
              /          \
             /            \
            /              v'
           /             /   \
          /             /     \
         /             /       \
        /             /         \
       /             /          VP
      /             /          /  \
     /             /          /    \
    /             /          /      \
   NP            v          NP      V'
   |           /   \        |       |
   |          V    v        |       V
   |          |    |        |       |
Der Mann  sieht[i] 0     die Frau   t[i]
[Nom]              [Nom] [Akk]      [Akk]

Die Kasus-Merkmale beider NPs können jeweils getilgt werden; die Objekts-NP (die Frau) befindet sich in einer Spezifizierer-Kopf-Relation mit dem lexikalischen Verb (sieht), die Subjekts-NP befindet sich in einer Spezifizierer-Kopf-Relation mit einem phonetisch leeren, affixalen leichten Verb (0) mit agentivischer Lesart, an das das lexikalische Verb adjungiert wird. Die Annahme der Existenz leichter Verben ist unabhängig durch dreistellige Prädikate motiviert (Peter gab Lisa das Buch), insbesondere solcher mit alternierender ergativischer / kausativer Struktur (The ball rolled down the hill / They rolled the ball down the hill). Tatsächlich werden teilweise noch eine ganze Reihe weiterer funktionaler Projektionen angenommen (AgrO, AgrS, AgrIO, T, etc.), wobei zu diesem Thema innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft gegenwärtig rege diskutiert wird. Die Überprüfung starker grammatischer Merkmale ist der primäre Grund für overte syntaktische Bewegung.

Literatur

Einführungen:

  • Grewendorf, G. : Minimalistische Syntax. Tübingen; Basel: Francke, 2002.
  • Radford, A.: Syntax: A minimalist introduction. Cambridge University Press, 1997.
  • Adger, D.: Core Syntax: A minimalist approach. Oxford University Press, 2003.

Primärliteratur:

  • Chomsky, N. : A minimalist program for linguistic theory, 1992. In: Hale and Keyser 1993.
  • Hale, K. and Keyser, S.J. : The view from building 20. MIT Press, 1993.