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Kontrapunkt

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Der Kontrapunkt (von lat. punctum contra punctum = „Note gegen Note“) ist ein Regelwerk für die Stimmführung in polyphonen Musikstücken. Man bezeichnet so eine in der Musik benutzte Tonfolge, die nach den unten aufgeführten Regeln so gestaltet wird, dass sie bei der Verwendung als Stimme in der polyphonen Musik eine Spannung zu der Stimme aufbaut, die das Hauptthema eines Musikstücks enthält.

In Werken der Polyphonie sind die beteiligten Stimmen gleichwertig und voneinander unabhängig (im Gegensatz zur Homophonie, wo es Melodie und Begleitung bzw. Füllstimmen gibt). Dies äußert sich darin, dass sie zur selben Zeit unterschiedliche Rhythmen und Tonhöhenverläufe haben. Man spricht auch davon, dass diese Musik vorwiegend linear bzw. horizontal ausgerichtet ist.

Geschichte

Als der Name Contrapunctus im 14. Jahrhundert aufkam, war die Kunst des mehrstimmigen Satzes schon sehr entwickelt; die als Regulae de contrapuncto auftretenden theoretischen Traktate eines Johannes de Muris, Philippe de Vitry u. a. bringen daher nichts eigentlich Neues, sondern sind Abhandlungen über die vorher Discantus genannte Schreibweise mit veränderter Terminologie. Sie gehen dabei aus von dem Satz: Note gegen Note (punctus contra punctum oder nota contra notam), der von Muris ausdrücklich als fundamentum discantus bezeichnet wird.

Den ungleichen Kontrapunkt nennt Muris Diminutio contrapuncti, eine Auffassung, die noch heute zu Recht besteht.

Notenbeispiel nach Muris (Diminutio contrapuncti):

Notenbeispiel Kontrapunkt nach Muris (Diminutio contrapuncti) aus Meyers Konversations-Lexikon von 1888

Die imitatorischen Formen des Kontrapunktes reichen zurück bis ins 13. Jahrhundert; Walter Odington (1228 Bischof von Canterbury) gibt vom Rondellus die Definition: „Si quod unus cantat, omnes per ordinem recitent“ (Coussemaker, „Script.“, I, 245).

Zu übertriebener Künstelei wurden die Imitationen entwickelt durch die Kontrapunktisten des 15. bis 16. Jahrhunderts und klärten sich schließlich im 17. bis 18. Jahrhundert ab zur Kunstform der Fuge; der strenge Kanon mit schneller Stimmenfolge ist eine extrem determinierte Form des Kontrapunkts, dessen melodische Qualität demzufolge einer besonderen Sorgfalt des Komponisten bedarf.

Von ungleich höherer Bedeutung für die Komposition ist der so genannte doppelte Kontrapunkt, welcher so angelegt ist, dass die Stimmen vertauscht werden können, d. h. die obere zur unteren gemacht wird. Man unterscheidet den doppelten Kontrapunkt in der Oktave, in der Dezime und in der Duodezime, je nachdem, ob er für die Umkehrung durch Versetzung in die Oktave, Dezime oder Duodezime berechnet ist. Eine klare Darlegung der verschiedenen Arten des doppelten Kontrapunktes und des Kanons gibt schon Zarlino in seinen Istitutioni armoniche (1558).

Höhepunkte erlebte die kontrapunktische Satzweise in der Renaissance und später im Werk von Johann Sebastian Bach, Jan Dismas Zelenka, Ludwig van Beethoven, Max Reger und in der Musik des 20. Jahrhunderts u. a. bei Anton Webern und Moondog.

Jedoch behielt der Stylus Gravis, wie etwa bei Palestrina, vor allem in der römisch-katholischen Kirchenmusik lange Zeit seine Bedeutung.

Im 19./20. Jahrhundert befasste sich besonders Ferruccio Busoni mit dem Kontrapunkt.

Lehrbücher des Kontrapunktes im alten Stil (mit Zugrundelegung der Kirchentöne) sind die von Martini, Albrechtsberger, Cherubini, Fétis, Bellermann, Bußler, Fux u. a.; für diese ist die Harmonielehre nur ein Accidens, die Regeln sind im Grunde dieselben wie zu den Zeiten des Discantus, als man von Harmonie noch keinen klaren Begriff hatte (Intervallenlehre statt Harmonielehre).

Dagegen lehnen sich die Werke von Dehn (B. Scholz), Richter, Tiersch u. a. enger an die Harmonielehre an, bei ihnen ist die Harmonielehre die eigentliche Schule und der Kontrapunkt die Probe aufs Exempel, durch die der Schüler lernen muss, diesen instinktiv zu handhaben.

Stimmführungsregeln

Die wichtigsten Prinzipien des Kontrapunkts sind:

  • die einzelnen Stimmen so zu führen, dass sie als selbstständige Objekte wahrgenommen werden können (dies geschieht in erster Linie durch asynchrone bzw. komplementäre Rhythmik);
  • einen ausgeglichenen Wechsel zwischen stufenweiser Bewegung und Sprungbewegung anzustreben;
  • die drei Bewegungsarten Seiten-, Parallel- und Gegenbewegung in einer ausgewogenen Mischung zu verwenden;
  • Elemente, die zur Gruppenbildung neigen, z. B. Sequenzen, Tonwiederholungen, Dreiklangsschritte und Ähnliches sparsam einzusetzen oder ganz zu meiden;
  • die Harmonik des Satzes als Resultat der linearen Fortschreitung der Stimmen aufzufassen und nicht umgekehrt.

Natürlich hat die Selbstständigkeit ihre Grenzen. Da das Ohr einen Zusammenklang mehrerer Töne wie eine schnelle Folge von Tönen nur dann versteht, wenn es sie zur Einheit der Bedeutung eines Klanges zusammenfasst, so wird die selbstständige Bewegung mehrerer Stimmen nur verständlich sein, wenn sie die Auffassung im Sinn derselben Harmonie zulässt.

Dass sich zum Beispiel nicht die eine Stimme in der As-Dur-Tonleiter, die andere aber in der G-Dur-Tonleiter bewegen kann, ist an sich verständlich; doch ist es noch nicht genügend, dass die Fortschreitungen beider im Sinn desselben Klanges geschehen, es muss auch die Stellung dieses Klanges zu anderen in beiden gleich aufgefasst sein.

In der klassischen Harmonielehre, die in ihren Ursprüngen auf die Klassische Vokalpolyphonie Palestrinas zurückgeht, werden unter anderem folgende Stimmführungsregeln aufgestellt.

Gebot der Gegenbewegung

Von den drei Möglichkeiten des Fortschreitens

  1. Bleiben (Prime)
  2. Schritt (Sekunde)
  3. Sprung (Terz oder größeres Intervall)

sollen in den zusammen erklingenden Stimmen bei wechselnder Harmonie immer mindestens zwei gleichzeitig verwendet werden. Bewegt sich der Bass nach unten, ist die Bewegung der Oberstimme nach oben von Vorteil und umgekehrt. Schließen andere Gründe dies aus, sollte versucht werden, eine Gegenbewegung zwischen Bass und Mittelstimmen (im vierstimmigen Satz sind dies Alt und Tenor) zu erzeugen.

Parallelenverbot

Das gleichzeitige Fortschreiten um das selbe Intervall zweier Stimmen, die einen Abstand einer Prime, reinen Quinte oder reinen Oktave haben, ist verboten, da es wegen der starken Verschmelzungstendenz dieser Intervalle die Unabhängigkeit der Stimmen gefährdet. Terzen und Sexten können allerdings parallel geführt werden, es sollte jedoch (je nach Stil) darauf geachtet werden, dass selten mehr als drei Terzen oder Sexten parallel geführt werden. Das beste Mittel, offene Parallelführungen zu vermeiden oder zu korrigieren ist die Gegenbewegung der Stimmen.

Verdeckte Parallelen

Bewegen sich zwei Stimmen gleichzeitig in die selbe Bewegungsrichtung und enden in einer Prim, Quinte oder Oktave, so sollen nach Möglichkeit nicht beide einen Sprung (Intervall einer Terz oder größer) machen, sondern eine einen Schritt (Sekunde). Dies ist besonders wichtig, wenn es sich nur um wenige, drei oder nur zwei Stimmen handelt. Von verdeckten Parallelen spricht man i.d.R. dann, wenn eine Unterstimme schrittweise geht und eine Oberstimme dazu in die selbe Richtung in eine reine Quinte oder Oktave springt. Daher spricht man nicht von verdeckten Parallelen, wenn eine Unterstimme springt und eine Oberstimme dazu in die selbe Richtung in eine Quinte oder Oktave mündet. Im doppelten Kontrapunkt allerdings (d.h. eine Unterstimme muss auch als Oberstimme funktionieren) sind beide Parallelführungen (vor allem in der Zweistimmigkeit) zu vermeiden.

Antiparallelen

Von Antiparallelen spricht man, wenn Ausgangs- und Zielintervall gleich sind, die Bewegungen aber in unterschiedliche Richtungen gehen, z.B. der Bass von C nach G, der Alt von g' nach d'. Auch Antiparallelen sind bei Quinte und Oktave zu vermeiden.

Dissonanzbehandlung

Dissonanzen, zum Beispiel Vorhalte, sollen eingeführt und aufgelöst werden.

Einführung von Dissonanzen

Die Einführung einer Dissonanz geschieht dadurch, dass der später dissonante Ton zunächst in einem konsonanten Zusammenklang steht, bei Fortschreiten der übrigen Stimmen unverändert liegenbleibt und erst durch dieses Fortschreiten der übrigen Stimmen in dem neu entstehenden Klang dissonant wird.

Auflösung von Dissonanzen

Die Auflösung von Dissonanzen erfolgt grundsätzlich stufenweise (das heißt mit Sekundschritt) abwärts. Ausnahme ist etwa der Chopin-Akkord, dessen dissonante Tredezime durch eine Terz zum Grundton aufgelöst wird.

Bestimmte Intervalle

  1. Der Leitton der Dominante steigt zum Grundton der Tonika (bzw. im Trugschluss zur Terz der Tonikaparallelen.
  2. Die kleine Septime des Dominantseptakkords löst sich abwärts in die Terz der Tonika.
  3. Die kleine None des erweiterten Dominantseptakkords löst sich in die Quinte der Tonika, die große None ebenso oder in den Grundton.
  4. Die Sixte ajoutée der Subdominante bleibt liegen, wenn nach ihr die Dominante eintritt.

Mehrfacher Kontrapunkt

Lassen sich die Stimmen so vertauschen, dass jede Stimme sowohl Oberstimme, Mittelstimme als auch Unterstimme sein kann, ohne die jeweiligen kontrapunktischen Regeln zu verletzen, so spricht man vom mehrfachen Kontrapunkt. Sind nur zwei Stimmen vertauschbar, so nennt man dies doppelten Kontrapunkt (bei drei Stimmen dreifachen, usw.). Dabei ist zu beachten, dass sich dabei die Intervalle umkehren, d. h. aus der Quinte wird eine Quarte, aus der Terz eine Sexte. Dies ist insofern von Bedeutung, als im doppelten Kontrapunkt beim Stimmentausch die Quinte zur Unterquarte wird und somit den selben Restriktionen wie die Quarte unterliegt.

Wichtige musikalische Formen, die eine kontrapunktische Satztechnik voraussetzen, sind Kanon und Fuge.

Im musikalischen Satz insgesamt und insbesondere im Kontrapunkt wird die Quarte als dissonant aufgefasst. Die konsonanten Intervalle sind jeweils die große und kleine Terz und Sexte sowie die perfekt konsonanten Intervalle Quinte und Oktave.

Die Methoden und Satzregeln des Kontrapunktes stehen in Abhängigkeit zum Tonsystem, in der abendländischen Musik also den Kirchentonarten oder der Dur- und Molltonalität. Den Versuch einer Verschmelzung hat Hugo Riemann in seiner „Neuen Schule der Melodik“ (1883) gemacht.

Quellen