Marie-Luise Gansberg
Marie Luise Gansberg, auch Marie-Luise Gansberg[1] (* 4. Mai 1933 in Bremen; † 3. Februar 2003 in Marburg), war eine deutsche Literaturwissenschaftlerin[2]. 1972 wurde sie zur ersten Professorin am Institut für Neuere Deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg ernannt.[3] Gansberg gilt als eine Pionierin der Feministischen Literaturwissenschaft.[4]
Leben
Marie Luise Gansberg studierte ab 1954 Germanistik, Geschichte, Politik und Anglistik in Göttingen, Hamburg, Marburg und Heidelberg. Sie promovierte 1962 mit einer Dissertation zum Prosa-Wortschatz des Realismus bei Friedrich Sengle in Heidelberg. Zum Wintersemester 1962/63 wurde sie dessen Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Heidelberg, ab 1966 bekleidete sie die gleiche Stellung in München.[5] 1970/71 wurde sie Akademische Rätin und 1972–1993 Professorin für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg.
Durch die 68er-Bewegung radikalisiert, verkörperte Gansberg, die als verschlossen galt, einen neuen Typus der Literaturwissenschaftlerin – kritisch, kompromisslos, unangepasst, als Hochschullehrerin ein Klima für die Entstehung von Frauenkulturen erzeugend. Ihre bekannteste Publikation, die Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis (Stuttgart: Metzler 1970, 4., teilw. überarb. Aufl. [10.-13. Tsd.] 1973, 152 S.)[6], entstand in Zusammenarbeit mit dem germanistischen Mediävisten Paul Gerhard Völker (1939–2011)[7]. Das Metzler-Texte-Bändchen wirbelte im wahrsten Sinne des Wortes Staub auf und zählt auch heute noch zu den Klassikern der Marxistischen Literaturwissenschaft und der Literatursoziologie.[8] Zuvor hatten Gansberg und Völker an der von der Münchener Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes im WS 1966/67 veranstalteten "Sozialwissenschaftlichen Reihe des SDS" als Vortragende mitgewirkt, Gansberg sprach über "Deutsche Exilliteratur - ein tabuisierter Tatbestand", Völker über die Frage "Wie reaktionär ist die Germanistik?". Der Feministischen Literaturwissenschaft erschloss Gansberg neue, zum Teil noch stärker tabuisierte Themen,[9] was paradoxerweise zu ihrem „Vergessenmachen“ beitrug, obwohl ihr für ihre Vorreiterrolle innerhalb der Germanistik Anerkennung gebührt.[10] Als einzige Professorin nahm sie 1990 am „3. Siegener Kolloquium Homosexualität und Literatur“ teil und hielt im selben Jahr in Zürich einen Vortrag über "Unnütze Frauen?"[11]
Aus einem dreitägigen Interviewmarathon mit Christa Reinig entstand der Band Erkennen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie Luise Gansberg und Mechthild Beerlage (München: Frauenoffensive Verlagsgesellschaft 1986, 155 S.), der das Bild von Reinig in der Forschung grundlegend veränderte: „… die Gespräche geben zugleich Blicke frei auf das Leben einer Person, die weiblich ist, aus dem Proletariat stammt, eine bedeutende Schriftstellerin ist, die sich herausnimmt, Frauen statt Männer zu lieben, und schließlich auch noch dem radikalen Flügel der Frauenbewegung angehört. Fünf Gründe, um vom Patriarchat in die Pflicht genommen, bestraft zu werden.“
Schriften
- Zur Sprache in Hebbels Dramen, in: Helmut Kreuzer (Hrsg.): Hebbel in neuer Sicht (Sprache und Literatur; 9), Stuttgart: Kohlhammer 1963, S. 59–79. 2., durchges. Aufl. 1969.
- Der Prosa-Wortschatz des deutschen Realismus. Unter besonderer Berücksichtigung des vorausgehenden Sprachwandels 1835–1855, (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 27), Bonn: Bouvier 1964. 2. Aufl. 1966.
- Wilhelm Heinse: Erzählungen für junge Damen und Dichter. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1775. Mit einem Nachwort von Marie Luise Gansberg, Stuttgart: Metzler 1967, DNB 456575375
- Welt-Verlachung und „das rechte Land“. Ein literatursoziologischer Beitrag zu Jean Pauls 'Flegeljahren' , in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), S. 373–398; wiederabgedruckt in: Uwe Schweikert (Hg.), Jean Paul (Wege der Forschung; 336), Darmstadt: Wiss. Buchges. 1974, S. 353–388.
- Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft, in: Marie Luise Gansberg u. Paul Gerhard Völker, Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis, 4., teilw. überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 1973, S. 7–39, 135-141.
- Ästhetische Taktlosigkeit als weibliche Schreibstrategie, in: Inge Stephan, Sigrid Weigel u. Kerstin Wilhelms (Hg.), Wen kümmert’s, wer spricht. Zur Literatur und Kulturgeschichte von Frauen aus Ost und West, Köln u. Wien: Böhlau 1991, S. 185–194.
- Erotische Liebe und mütterliche Fürsorge: Charlotte Wolffs späte Konzeption lesbischer Liebe/Sexualität, in: Gerhard Härle, Maria Kalveram u. Wolfgang Popp (Hg.), Erkenntniswunsch und Diskretion. Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur. 3. Siegener Kolloquium Homosexualität und Literatur, Berlin: Verlag rosa Winkel 1992, S. 167–178.
- Daß ich immer eine Fremde war und sein werde. Außenseiter als Interpretationsmuster in Charlotte Wolffs sexualwissenschaftlicher und literarischer Produktion, in: Inge Stephan, Sabine Maja Schilling u. Sigrid Weigel (Hg.), Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 1994 (Literatur, Kultur, Geschlecht. Große Reihe; 2), S. 159–172.
- Irmtraud Morgner in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin: Duncker & Humblot 1997, S. 121–123, ISBN 3-428-00199-0
Tondokumente
- Vorläufige Anmerkungen zur deutschsprachigen Lesbenliteratur. Der Vortrag wurde auf dem Symposium „Facetten deutschsprachiger Lesbenforschung“, Berlin 25.-27. Oktober 1991, im Rahmen der Veranstaltung „T/EXTASY: Literaturwissenschaft“ gehalten (Standort/Archiv: belladonna, Kultur, Bildung und Wirtschaft für Frauen e. V., Bremen, Signatur: T-83.6).
Literatur
- Marie Luise Gansberg, in: Kürschners deutscher Gelehrten-Kalender. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart 12/1 (1976), S. 853.
- Catalogus professorum Academiae Marburgensis. Bearbeitet von Inge Auerbach (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 15/2), Bd. 2: Von 1911–1971, Marburg: Elwert 1979, S. 681.
- Rainer Rosenberg: Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich, in: ders., Inge Münz-Koenen u. Peta Boden (Hg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien, Berlin 2000, S. 153–179, hier S. 162.
Einzelnachweise
- ↑ Die Schreibung der Vornamen mit Bindestrich ist die amtliche, siehe die Meldekarte zu "Marie-Luise Gansberg", Staatsarchiv Bremen: 4,82/1.
- ↑ Uni Marburg – Todesfälle (PDF; 26 kB)
- ↑ Aufgrund der hessischen Personalstrukturreform ernannte man 1972 auch Monika Rössing-Hager zur Professorin der Universität Marburg (Institut für Germanische Sprachen und Literaturen). Bis zum Beginn der 80er-Jahre waren Gansberg und Rössing-Hager die einzigen aktiven Professorinnen in den Fachbereichen 8 und 9. Allererste Professorin an der Philipps-Universität war die Sprachwissenschaftlerin Luise Berthold (1891–1983) (vgl. Luise Berthold: Erlebtes und Erkämpftes. Ein Rückblick, Marburg: Selbstverlag 1969). Ihr folgte die Pädagogin Elisabeth Blochmann (1892–1972), die wie Berthold 1952 den Professorinnenruf erhielt.
- ↑ Katrin Gut: Feministische Literaturwissenschaft, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin u. New York/NY 1997, S. 575–577.
- ↑ Dem Personen- und Vorlesungsverzeichnis der LMU München SS 1966 ist zu entnehmen, das Gansberg einen Lehrbeauftrag „für neuere deutsche Literaturgeschichte, Übungen zur Textkritik, Stilistik und Methodik“ (S. 105) innehatte; zur Personalstruktur des Seminars für Deutsche Philologie siehe ebd. S. 166.
- ↑ Vgl. die Besprechung von Karl Heinz Götze in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 14 (1972), Nr. 72, S. 352–355.
- ↑ Marie-Luise Gansberg, Hans-Wolf Jäger, Paul Gerhard Völker und Werner Weiland verfassten 1969 das sogenannte Assistenten-Flugblatt, Völker war zu dieser Zeit Lehrbeauftragter für Ältere deutsche Literatur, vgl. Jörg Schönert: Walter Müller-Seidel in Konfliktkonstellationen an den Seminaren für Deutsche Philologie der LMU München in den Jahren um 1970 (2011), verfügbar auf der Webseite http://www.walter-mueller-seidel.de/materialien.php
- ↑ Fotis Jannidis: „Marxistische Literaturwissenschaft“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin u. New York/NY 1997–2003, Bd. 2, S. 541–546, hier S. 545; vgl. auch ebd. in Bd. 1 den Artikel „Emanzipatorisch“ von Karl-Heinz Hucke u. Olaf Kutzmutz, S. 434–443, hier S. 434: „Dieser Begriffswandel [von Emanzipation] ist entscheidend geworden für die Rede von einer emanzipatorischen Literatur in den 1970er Jahren, für die die Methodenkritik der Germanistik von Gansberg/Völker richtungsweisend war.“
- ↑ Vgl. das Aprilheft des Rundbriefs Frauen in der Literaturwissenschaft Nr. 13 (1987) mit der Projektmitteilung „'Unnütze Frauen’ – Alleinstehende, Spinster, Alte Frau, Lesbierin – Negativ-Figuren der Literatur?“
- ↑ Zum Beispiel findet Marie Luise Gansberg keine Erwähnung bei Katrin Gut (siehe oben) und Ulla Bock: Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschsprachigen Hochschulen 1984–2014 (Politik und Geschlechterverhältnisse; 55), Frankfurt/M.: Campus 2015.
- ↑ Unnütze Frauen? "Alte Jungfer", "Alte Frau", "Lesbe" in der Literatur. und was aus ihnen noch werden kann. Referat von Prof. Dr. Marie Luise Gansberg, Giessen. Veranstaltung in der Paulus-Akademie Zürich, Ausschreibung Paulus Akademie
Personendaten | |
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NAME | Gansberg, Marie Luise |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Literaturwissenschaftlerin |
GEBURTSDATUM | 4. Mai 1933 |
GEBURTSORT | Bremen |
STERBEDATUM | 3. Februar 2003 |
STERBEORT | Marburg |