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Callcenter

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Als Callcenter wird ein Unternehmen oder eine Organisationseinheit bezeichnet, in dem Marktkontakte telefonisch aktiv (outbound) oder passiv (inbound) hergestellt werden. In einem Callcenter wird neben Serviceangeboten auch häufig Telefonverkauf als Form des Direktmarketing operativ umgesetzt.

Aufgaben

Callcenter können vielfältige Aufgaben erfüllen. Sie dienen zu Informationszwecken (Hotline, Produktinformationen, Helpdesks, etc.), Kundendienst, Beschwerdemanagement, Marktforschung, Meinungsforschung, Auftrags- und Bestellannahme (z. B. Versandhäuser, Ticket Services) oder auch als Notfall-Service (ADAC) und dem Verkauf mit Vertragsabschluss (ggf. mit Signatur per Telefax). In jüngster Zeit werden jedoch gerade diese Aktionen vom Gesetzgeber stärker reguliert und eingeschränkt und der aktive Anruf ohne Kundenaufforderung stärker verfolgt.

Die Call-Center-Branche ist groß: Allein in Deutschland arbeiten im Jahr 2004 rund 250.000 Menschen in diesem Dienstleistungsbereich.

Arten und Struktur

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Inbound-Callcentern, die nur extern eingehende Anrufe entgegennehmen, Outbound-Callcentern, die ausschließlich von sich aus Personen kontaktieren, sowie Callcentern, in denen beide Formen gleichzeitig vorkommen.

  • Im Inbound ruft der Kunde das Callcenter an. Es handelt es sich dabei z.B. um Bestellungen, Informationsanforderung, Störmeldungen oder Beschwerden seitens der Kunden.
  • Im Outbound werden Kunden bzw. potentielle Kunden im Rahmen umfangreicher Telefonmarketing-Aktionen gezielt angerufen. Zwecke sind z.B. die Erhebung statistischer Daten, Bedarfs- und Ansprechpartner-Ermittlung (das so genannte Pre-Sale), um Verkauf oder einfach nur zur Adressaktualisierung.

Komponenten von Callcentern

Die Arbeitsumgebung eines Callcenters ist im Allgemeinen ein Großraumbüro mit vielen abgeteilten Arbeitsplätzen, an denen die Mitarbeiter mit Headsets vor Computer-Terminals sitzen und die Anrufer bedienen. Aber auch konventionelle Büros mit zwei bis drei Mitarbeitern können im Falle anspruchsvoller Servicehotlines als Callcenter bezeichnet werden.

Mitarbeiter

Die Telefonistin/nen eines Callcenters werden Agenten genannt. Über ihnen stehen die Teammanager (Teamleiter), die sowohl organisatorische Aufgaben wahrnehmen, als auch Trainings und Coachings durchführen, falls kein eigener Trainer zur Verfügung steht. Als Supervisoren bezeichnet man z.T. die Ebene über dem Teammanager, oft aber auch Angestellte, die keine disziplinarischen Aufgaben inne haben, sondern vielmehr die Agenten an der ACD überwachen und das Callvolumen steuern. Callcenter mit mehreren Aufträgen beschäftigen in der Regel Projektleiter, die die Arbeit der Teammanager und Supervisoren koordinieren.

Die übliche Anstellungsform der Agenten ist eine flexible, um die sich permanent ändernde Nachfragesituation zu bedienen. Es wird oft mit geringfügig Beschäftigten, alleinerziehenden Müttern, Hausfrauen oder Studenten gearbeitet. Durch diverse externe Faktoren (Wetter, Sport, Wahlen, Werbung, saisonale Schwankungen im Versandhandel, etc.) sinkt oder steigt das Call-Aufkommen des Inbound-Geschäfts drastisch in kürzester Zeit. Ein Drittel der Angestellten arbeiten hier z.B. Vollzeit und hat umfassende Erfahrung und hohe Qualifikationen vorzuweisen. Diese Gruppe wächst stetig und wird auch weitaus höher bezahlt, da es einen steigenden Bedarf in diese Richtung gibt und kaum freie Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

Andere Callcenterformen, z.B. im Outboundgeschäft zur Terminvereinbarung oder Storno-Rückgewinnung arbeiten sehr gleichmäßig mit einer klar vorgegebenen Call-Anzahl pro Schicht und Soll-Quoten.

Siehe auch: Callcenteragent

Callcenter werden seit einigen Jahren häufig in Regionen mit niedrigen Lohnkosten eingerichtet, im ländlichen Raum oder an Standorten von Universitäten. Multinationale Konzerne haben vor allem in Irland, Belgien und den Niederlanden ihre zentralen Callcenter gegründet, um von dort aus den gesamten europäischen Markt abzudecken.

Telekommunikationstechnik

Eine TelekommunikationsanlagePBX (Private [Automatic] Branch Exchange) genannt – verbindet via Telefonleitungen das öffentliche Telefonnetz mit den Telefonen im Callcenter.

Zwischen der PBX und den Agenten befindet sich als Kernstück des Callcenters die ACD-Anlage (Automatic Call Distribution), die die Aufgabe hat, alle eingehenden Anrufe gleichmäßig auf die verfügbaren Agenten aufzuteilen. Im Regelfall wird die Verteilung nach dem FIFO- ("first in first out") und dem "longest idle"-Prinzip vorgenommen. Das bedeutet, dass der ankommende Anruf, der als erster in der Telekommunikationsanlage registriert wurde, an denjenigen Mitarbeiter weitergeleitet wird, dessen letztes Gespräch am längsten zurückliegt. Es ist jedoch auch möglich andere Verteilungsregeln festzulegen (z.B. Unterscheidung nach unterschiedlicher Priorität der Anrufer, Verteilung bestimmter Rufnummern an bestimmte Mitarbeitergruppen, etc.).

Wenn kein Agent freisteht, um einen ankommenden Anruf entgegenzunehmen, leitet die ACD den Anrufer automatisch an eine Warteschlange (Queue) weiter – hier wird er von einer aufgezeichneten Stimme darum gebeten, solange zu warten, bis ein Mitarbeiter frei geworden ist, der seinen Anruf entgegennehmen kann.

Neben der reinen Anrufverteilung ist eine weitere Aufgabe der ACD-Anlage die Erstellung umfangreicher Statistiken, aus denen wichtige Kennzahlen gewonnen werden, die sowohl für die Personalplanung als auch für die Steuerung der optimalen Auslastung eines Callcenters genutzt werden. So wird beispielsweise die Anzahl der eingehenden, entgegengenommenen und abgebrochenen Anrufe gespeichert, die zur Errechnung der Kenngröße "Erreichbarkeit" dienen. Weiterhin wird die Zeit erfasst, die Anrufer in der Warteschlange auf Weiterleitung zu einem Agent warten müssen – hieraus kann die Kenngröße "Servicelevel" abgeleitet werden. Die Gesamtdauer der einzelnen Anrufe ist abrufbar ("Wie lange dauert ein durchschnittliches Gespräch") und etliche weitere Daten. Die werden nachträglich ausgewertet und sind in der Regel auch "online", die Agenten im Callcenter sehen, wie viele Anrufer momentan in der Queue stecken.

Häufig verwenden Callcenter eine IVR (Interactive Voice Response), die dazu dient, die Agenten von Routineauskünften zu befreien sowie bestimmte Anfragen direkt an die richtige Mitarbeitergruppe weiterzuleiten, und so den (fehleranfälligen) Weg der Weiterverbindung durch einen Menschen einspart. Eine aufgezeichnete Begrüßung bietet Anrufern dann verschiedene Möglichkeiten, die per Tastendruck oder Sprache ausgewählt werden können. Die IVR kann insbesondere bei häufig vorkommenden Nachfragen nach bestimmten Informationen (z.B. Kontostandabfrage) ein Gespräch mit einem Agenten komplett ersetzen.

Ein CTI-System (Computer Telephony Integration) verbindet die PBX des Callcenters mit einem Computersystem. Ist der Anrufer identifiziert – z.B. durch seine Telefonnummer oder die Eingabe seiner Kontonummer/PIN ins IVR-System – so können sämtliche über den Kunden gespeicherten Daten am Bildschirm des Agenten angezeigt werden. Der Agent kann nachvollziehen, was der Anrufer mit anderen Mitarbeitern besprochen hat, ohne dass der Kunde seinen Wunsch erneut vortragen bzw. der Agent mit seinen Kollegen Rücksprache halten muss. Dies hat eine erhebliche Beschleunigung der Prozesse zur Folge.

Mitarbeiterauslastung vs. Erreichbarkeit

Die Erreichbarkeit eines Callcenters hängt unmittelbar von der Anzahl der eingesetzten Mitarbeiter ab. Zu viele Agenten heißt Überdeckung, d.h. Überkapazitäten, unrentabel/ unausgelastete Mitarbeiter ohne Motivation.

Zu wenige Agenten – Unterdeckung – verschlechtern die Servicequalität zumal in Nachfragespitzen. Anrufe, die nicht angenommen werden können ("lost calls"), revidieren die eingesparten Kosten im Personaleinsatz durch möglicherweise entgangene Umsätze.

Hohe Auslastung: Agenten telefonieren (fast) pausenlos, weil Anrufe in der Queue sind. Das senkt den Servicelevel. Der sollte möglichst hoch sein. Kein wirtschaftlich arbeitendes Unternehmen kann in kurz auftretenden Spitzenzeiten jeden Anruf direkt annehmen. Wo die Agenten einen längeren Zeitraum arbeiten, wäre nach den Spitzenzeiten sofort eine Unterdeckung da. Teilweise werden die Wartezeiten nach Wichtigkeit oder potenzieller Kaufkraft des Anrufers selektiert, z.B. Anrufer aus statistisch kaufkraftstarken Wohnorten besser bedient.

Bei der Kapazitätsplanung müssen die Kosten der Mitarbeiterauslastung gegen die "Wartekosten", die dem Kunden mangels Erreichbarkeit des Callcenters entstehen, abgewogen werden.

Operative Personalplanung

Die operative Personalplanung sieht in Call Centern im Regelfall wie folgt aus:

  • Prognose des Anrufaufkommens je Zeitabschnitt
  • Ermittlung der erforderlichen Anzahl von Agenten je Zeitabschnitt unter Berücksichtigung eines vorgegebenen Servicelevels
  • Planung der erforderlichen Schichten
  • Zuordnung der Agenten zu den Schichten

Hieran schließt sich eine Echtzeitplanung an, die es ermöglicht kurzfristige Verschiebungen in der Planung vorzunehmen und so z.B. Toilettenpausen der Agenten oder Besprechungen zu berücksichtigen.

Bei der operativen Personalplanung muss ein erhebliches Datenvolumen verarbeitet werden. Diese Verarbeitung ist nur rechnergestützt sinnvoll möglich. Man nutzt hierzu sogenannte "Workforce Management Systeme".

Wissenschaft

Zur Berechnung der benötigten Callcenteragenten wird üblicherweise die vom dänischen Mathematiker Agner Krarup Erlang entwickelte Erlang C-Formel verwendet. Die Berechnung der benötigten Telefonleitungen, kann mit der Erlang B-Formel errechnet werden.

Kritik an Erlang C

Obwohl die Anwendung des Erlang C-Modells weit verbreitet ist, gibt es zahlreiche Kritikpunkte. Die Realität unterscheidet sich in vielen Punkten vom Modell.

Der Anrufer wird nicht unbegrenzt lange in der Queue warten, sondern nach eine gewissen Zeitspanne auflegen.
  • Begrenzter Warteraum
Der Warteraum ist durch die Anzahl der vorhandenen Leitungen im Call Center begrenzt. Sind diese belegt, hört der Anrufer ein Besetztzeichen.
Ab einem gewissen Servicelevel-Schwellenwert (80-90%) bringt der Einsatz zusätzlicher Mitarbeiter nur noch marginale Verbesserungen der Erreichbarkeit. Dies wird als Ertragsgesetz bezeichnet.
  • Unproduktivität
Pausenzeiten der Mitarbeiter werden nicht berücksichtigt.
  • Sensitivität der Formel
Die Erlang-C Formel kann schon bei kleinen Variationen der Parameter λ, μ und c deutlich unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Dies ist besonders der Fall, wenn a nahe bei c liegt.
  • Dynamische Ankunftsraten
Oft trifft die Annahme der Ankunftsverteilung nicht zu. Kurz nach einem Werbespot tritt eine massive Häufung von Anrufen auf.
Die Agenten sind im Regelfall nicht alle auf einem Wissenstand, sondern haben bestimmte "Spezialgebiete".
  • Heterogene Anrufer
Oftmals bilden die Anrufer keine homogene Gruppe, sondern mehrere heterogene Gruppen - beispielsweise bei "Premium-Kunden".

Diese Ungenauigkeiten führen in der Summe im Regelfall zu einer Überdeckung (es werden mehr Agenten beschäftigt, als benötigt).

Alternativen zum Erlang-C Modell

Es werden verschiedene auf Erlang-C basierende Algorithmen in Workforce-Management Systemen verwendet, die bessere Ergebnisse liefern. In der Regel sind diese Algorithmen jedoch nicht veröffentlicht.

Es existieren bessere Warteschlangenmodelle, die jedoch nicht weit verbreitet eingesetzt werden. In zunehmendem Maße werden stattdessen Simulationsprogramme eingesetzt.

Beispiel

Ein typisches Projekt im Telefonmarketing mit Hilfe eines Callcenters für den Verkauf eines hochpreisigen Produktes oder einer erklärungsbedürftigen Dienstleistung muss in mehrere, zeitlich versetzte Stufen unterteilt werden. Bei einem Business-to-Business-Verkauf eines Getränkeautomaten könnte dies so aussehen:

  1. Call zur Adressaktualisierung und Ermittlung des Ansprechpartners (des Entscheiders): z.B. Geschäftsleiter, Kantinenpächter
  2. Call mit dem Entscheider. Bedarfsermittlung und das Sammeln von Marketingdaten. Das ist die so genannte Qualifizierung (Informationssammlung über vorhandene Produkte, Anforderungen, Investitionsplanung usw.).
  3. Oft wird danach schriftlich Informationsmaterial per Brief, Fax oder E-Mail versendet, in der Regel direkt durch das ausführende Callcenter.
  4. Call an alle positiv qualifizierten Ansprechpartner mit dem Ziel, das Produkt oder die Dienstleistung zu verkaufen.
  5. Nachfass-Call an alle Interessenten, Nichtreagierer, Calls auf Wiedervorlage: nach mehreren Monaten, um z.B. den anstehenden Ersatzbedarf abzudecken

Projekt-Abwicklung: Es werden die Adressen definiert, die angerufen werden sollen. Das Volumen und die Kapazität (Calls/Tag) werden festgelegt. Für jede Stufe wird ein schriftlicher Gesprächsleitfaden erarbeitet. Weiter wird die Vergütung des Callcenters ausgehandelt. Bei verkaufsorientierten Projekten ist eine Provisionsregelung unumgänglich. Ggf. werden die Agenten am Produkt geschult. Während der Calls werden dem Auftraggeber tagesaktuelle Erfolgsstatistiken übermittelt. So kann in laufende Aktionen zeitnah eingegriffen werden.

Literatur

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    In: Gass, S. I. und C. M. Harris (Hrsg.), Encyclopedia of Operations Research and Management Science (2. Aufl.). Boston u.a.: Kluwer. S. 73-76
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  • Pinedo, M., Seshadri, S. und J. G. Shanthikumar (2000). Call Centers in Financial Services: Strategies, Technologies, and Operations.
    In: Melnick, E.L., Nayyar, R., Pinedo, M. und S. Seshadri (Hrsg.), Creating Value in Financial Services: Strategies, Technologies, and Operations. Boston u.a.: Kluwer. S. 357-388
  • Wiencke, W. und D. Koke (1997). Call Center Praxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
  • Kleemann, Frank und Matuschek, Ingo (Hrsg.)(2003), Immer Anschluss unter dieser Nummer. Rationalisierte Dienstleistung und subjektivierte Arbeit in Call Centern. Berlin: edition sigma
  • Schümann, F., Tisson, H., Call Center Management, Gabler, Wiesbaden 2006.

Siehe auch