Herbert Marcuse

Herbert Marcuse [19. Juli 1898 in Berlin; † 29. Juli 1979 in Starnberg) war ein deutsch-amerikanischer Soziologe und Philosoph jüdischer Herkunft.
] (*Leben
Herbert Marcuse wurde als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten aus Pommern in Berlin geboren. 1916, nach dem Notabitur, wird er zur Reichswehr einberufen. 1917 wird er Mitglied der SPD, 1918 in den Soldatenrat Berlin-Reinickendorf gewählt. 1918 beginnt Marcuse mit dem Studium der Germanistik und der neueren deutschen Literaturgeschichte im Hauptfach, der Philosophie und der Nationalökonomie im Nebenfach, zunächst vier Semester in Berlin, dann vier Semester in Freiburg. Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verlässt Marcuse 1919 die SPD. 1922 promoviert er mit einer Arbeit über den deutschen Künstlerroman.
1928 wird er Assistent des bekannten existentialistischen Philosophen Martin Heidegger. Marcuse bewundert Heideggers "Konkrete Philosophie", kritisiert allerdings auch ihren Individualismus und ihre unhistorische Herangehensweise.
Nachdem er ursprünglich bei Martin Heidegger in Freiburg habilitieren wollte, was ihm aber wohl hauptsächlich durch dessen Verbindung zur NSDAP unmöglich wurde, stößt Marcuse Ende 1932 zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main . Im Jahr 1932 lernt er auch die im Rahmen der ersten MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) erstmals veröffentlichten "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von Karl Marx kennen. Marx' Jugendschriften aus dem Jahre 1844 beeinflussen Marcuses Philosophie sehr, er verfasst 1932 erste Interpretationen der Manuskripte in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". Hier kritisiert er mit Marx den Kapitalismus als ultimative Krise des menschlichen Wesens. Unter kapitalistischen Verhältnissen treten Wesen und Existenz des Menschen auseinander, der Mensch ist entfremdet und kann sich nicht frei entfalten.
Obwohl bei Marx die Wesensphilosophie später in den Hintergrund trat oder, nach anderer Lesart, aufgegeben wurde, blieb sie für Marcuse auch in späteren Werken bestimmend.
Noch vor Hitlers Machtantritt flieht Marcuse 1933 zunächst über Zürich nach Genf, wo sich eine Zweigstelle des Instituts befindet, bevor er 1934 endgültig in die USA emigriert. Die so genannte "Frankfurter Schule" entsteht in den folgenden Jahren in New York, wo Marcuse im ebenfalls nach New York übergesiedelten Institut für Sozialforschung angestellt wird. Die ökonomische Situation des Instituts und das Drängen Horkheimers zwingen Marcuse 1942 dazu, eine neue Stellung in Washington, D.C. am Office of Strategic Services (OSS) anzunehmen (bis 1951). In den Jahren 1951 bis 1954 arbeitet er an den Russian Institutes der New Yorker Columbia University und in Harvard an Studien über den Sowjet-Marxismus.
1954 erhält er seine erste Professur an der Brandeis University für Philosophie und Politologie. 1965 wird Marcuse Professor für Politologie an der University of California, San Diego. Neben seiner Lehrtätigkeit dort nimmt er im gleichen Jahr auch eine außerordentliche Professur an der Freien Universität Berlin an.
In den USA erscheinen seine beiden Hauptwerke Triebstruktur und Gesellschaft 1955 und Der eindimensionale Mensch 1964. Beide Werke und die Schriften zur Repressiven Toleranz 1965 und Autorität und Familie ab 1933 u.a. gehören zu den wichtigsten Büchern der kritischen Theorie und zählen zu den Standardwerken der Studentenbewegung in aller Welt, vorwiegend in den USA und Deutschland.
In den Jahren 1967 und 1969 verbrachte er mehrere Monate in Europa . Marcuse hielt Vorträge mit Diskussionen vor Studenten in Berlin, Paris, London und Rom.
1979 verstirbt Marcuse während eines Deutschlandbesuches in Starnberg.

Nach seinem Tode wurde die Urne von seiner Frau in die USA überführt, die Asche wurde jedoch nicht bestattet, geriet in Vergessenheit und gelangte erst im Jahr 2003 in den Besitz seines Sohnes und seines Enkels. Die Nachkommen entschlossen sich schließlich dazu, Marcuse in seiner Geburtsstadt Berlin bestatten zu lassen. Die Beerdigung fand im Sommer 2003 unter großer Anteilnahme der Medien auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin statt, auf dem auch Bertolt Brecht und Georg Hegel bestattet sind. Im Anschluss richtete das Philosophische Institut der Freien Universität Berlin (FU Berlin) eine Veranstaltung zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses im Auditorium Maximum der FU Berlin aus, wo Marcuse 1967 seinen berühmten Vortrag Am Ende der Utopie hielt.
Marcuse pflegte u. a. Freundschaft zu Barrington Moore Jr.
Hauptwerk: Der eindimensionale Mensch
Marcuse untersucht in seinem 1964 in den USA erschienenen Werk Der eindimensionale Mensch die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, wie es im Untertitel heißt. Er konstatiert sowohl in der Wissenschaft als auch im öffentlichen Diskurs ein eindimensionales und positives bzw. positivistisches Denken. Insbesondere die Wissenschaft flüchte sich aus Furcht vor Werturteilen oder politischer Einmischung in die Empirie und in quantitatives Denken. Grundsätzliche, qualitative Reflexion der gesellschaftlichen Probleme und Aufgabenstellungen fänden in dieser technokratischen Herrschaftswissenschaft nicht statt. Statt die Ungleichheit im Kapitalismus und die nukleare Bedrohung anzugreifen und zu kritisieren, würden diese Probleme nur verwaltet und somit immer neu reproduziert.
Marcuse setzt dem die Negation entgegen: einerseits die Verneinung durch Kritik, andererseits die Weigerung, das Spiel mitzuspielen und die Suche nach dem qualitativ Anderen. Marcuse ist bezüglich der Änderung dieser Verhältnisse sehr pessimistisch und betont die stabilisierende, "affirmative" Kraft des eindimensionalen Denkens.
Das oft aufgegriffene Schlagwort der Großen Verweigerung als Ausweg taucht auf den letzten Seiten auf. Viele Gruppen der ´68er-Bewegung und der alternativen Szenen bezogen sich auf dieses Motiv aber auch auf seine anderen Werke und propagierten ein Aussteigen aus dem kapitalistischem System. Marcuses Utopie liegt darin, eine befreite Gesellschaft vernunfttheoretisch und triebtheoretisch zu begründen, mindestens jedoch die Möglichkeit einer anderen freieren Gesellschaft wach zu halten. In seinem Essay Versuch über die Befreiung (1969), unter dem Arbeitstitel Jenseits des eindimensionalen Menschen geplant, entwickelte Marcuse im Anschluss an Der eindimensionale Mensch eine optimistischere Position.
In seinem 1967 vor Studenten der freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag: Das Ende der Utopie wird dieser Ansatz ausgeführt. In Gesellschaften mit hochentwickelten Produktivkräften besteht demnach die Möglichkeit zu einer Umwälzung, durch die Armut und Elend und entfremdete Arbeit abgeschafft werden können. Anders als Marx beschrieben hatte, kann das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit erscheinen. Marcuse bezeichnet Negation der bestehenden Gesellschaft als Voraussetzung zur Transformation menschlicher Bedürfnisse. Es bedarf einer jenseits der judäo-christlichen Moral stehenden neuen Moral, die die vitalen Bedürfnisse nach Freude und nach dem Glück erfüllt und die ästhetisch-erotischen Dimensionen umfasst. Er befürwortet ein Experiment der Konvergenz von Technik und Kunst sowie von Arbeit und Spiel. Fourier habe die Differenz zwischen einer freien und einer unfreien Gesellschaft erstmals deutlich gemacht, indem er eine Gesellschaft in Aussicht stellte, in der selbst gesellschaftlich notwendige Arbeit im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen organisiert werden kann. In dieser Rede prägt Marcuse den Begriff vom möglichen Ende der Geschichte.
Repressive Toleranz
In seinem 1965 erschienenen Essay zur Repressiven Toleranz, den Studenten der Brandeis University zugeeignet , formuliert Marcuse Gedanken, die großen Einfluss auf die Studentenbewegung in den USA und in Europa hatten. Darin bezeichnet er die zu Beginn der Neuzeit entwickelte Idee der Toleranz als parteiliches Ziel, als subversiven, befreienden Begriff und ebensolche Praxis. Gegenwärtig gäbe es keine Macht, Autorität oder Regierung, die eine befreiende Toleranz umsetzen würde. Im Gegenteil stärke die praktizierte Art von Toleranz beispielsweise die Macht der zerstörerischen Gewalt in Vietnam.
Marcuse formuliert dagegen eine utopische Gesellschaftsvorstellung, in der das Individuum frei in Harmonie mit anderen lebt und öffentliche und private Wohlfahrt für alle gewährleistet ist. Es gelte eine Gesellschaft herbeizuführen, worin der Mensch nicht durch Institutionen versklavt sei. Die gegenwärtig herrschende Toleranz, auch in demokratischen Staaten, akzeptiere eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen.
Nach Marcuse existiert eine objektive Wahrheit, die durch die Diskussion des Volkes in Gestalt von Individuen und Mitgliedern politischer und anderer Organisationen die Politik einer zukünftigen demokratischen Gesellschaft bestimmen soll. Diese Idee der Freiheit schließt für Marcuse eine uneingeschränkte Toleranz gegenüber rückschrittlichen Bewegungen aus. Unparteiische Toleranz schütze in Wirklichkeit die bereits etablierte Maschinerie der Diskriminierung. In seinem Essay legitimiert er dieses Programm mit der Feststellung: Das Telos der Toleranz ist Wahrheit.
Während beispielsweise der Sozialistische deutsche Studentenbund Marcuses Gedanken aufgreift und damit das Streben nach einer besseren neuen Gesellschaftsordnung begründet, werfen Kritiker Marcuse vor, dass er den Gedanken des politischen Pluralismus zugunsten einer Parteilichkeit verwirft. Abgelehnt wird insbesondere Marcuses Forderung, dass Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt werden solle (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten).
Schriften und Nachlass
- Autorität und Familie in der deutschen Soziologie bis 1933, in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris 1936
- Der eindimensionale Mensch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967
- Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Siegmund Freud. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1968 (Zuerst unter dem Titel Eros und Kultur 1957 erschienen)
- Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1966. ISBN B0000BU99D
- Psychoanalyse und Politik. (Vier Vorträge von Herbert Marcuse: "Trieblehre und Freiheit", "Die Idee des Fortschritts im Licht der Psychoanlalyse" 1956, "Das Problem der Gewalt in der Opposition", "Das Ende der Utopie" 1967). Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968. 6. Aufl. 1980 ISBN 3-434-30071-6
- Versuch über die Befreiung, dt. 1973. ISBN 3518103296
Seit 1998 erscheinen auch Bände aus dem Nachlass von Herbert Marcuse, der in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main liegt. Der erste Band "Feindanalysen. Über die Deutschen" wurde im Juli 1998 überraschend auf Platz 1 der Bestenliste gewählt.
- Feindanalysen. Über die Deutschen. Einleitung Detlev Claussen (1998)
- Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Einleitung Oskar Negt (1999)
- Kunst und Befreiung. Einleitung Gerhard Schweppenhäuser (2000)
- Philosophie und Psychologie. Einleitung Alfred Schmidt (2002)
- Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Einleitung Wolfgang Kraushaar (Juni 2004). Der Band wurde im September 2004 auf Platz 5 der Sachbuch-Bestenliste (NDR, Süddeutsche Zeitung, BuchJournal) gewählt.
(Rezensionen in allen großen Print- und Hörfunkmedien. Zum Band »Feindanalysen« Fernsehberichte in 3 Sat und HR 3)
Alle Bände wurden vom Herausgeber Peter-Erwin Jansen, der auch den Nachlass von Leo Löwenthal betreut, mit einem Vorwort und Kommentaren versehen. Sie erscheinen im Verlag zu Klampen, Springe.
Literatur
- Brunkhorst, Hauke ; Koch, Gertrud: Herbert Marcuse : eine Einführung. - Wiesbaden : Panorama, 2005. (Große Denker ). - Lizenz des Verl. Junius, Hamburg. - ISBN 3-926642-61-0
- Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule : Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. - 6. Aufl. - München: Dt. Taschenbuch-Verlag, 2001. - ISBN 3-423-30174-0
- Roger Behrens: Übersetzungen. Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (Studien zu Herbert Marcuse), Ventil Verlag: Mainz 2000) ISBN 3-930559-58-7
- Paul Mattick: Kritik an Herbert Marcuse. Der eindimensionale Mensch in der Klassengesellschaft. Frankfurt 1969.
Weblinks
- Vorlage:PND
- Offizielle Herbert Marcuse Homepage - von Marcuses Familie, mit vielen Informationen und Links, sowie den Texten seiner wichtigsten Werke auf Englisch und Deutsch
- Initiative für Praxisphilosophie und konkrete Wissenschaft - Übersicht zu Marcuses Werk
- Herbert Marcuse – Zum 25. Todestag (2004) - sehr informativer Text von Sven Oliveira Cavalcanti
- http://www.marxists.org/reference/archive/marcuse/
- Feindanalysen. Über die Deutschen. (1942), bei information-philosophie.de
- Wiki-Stammbaum
Personendaten | |
---|---|
NAME | Marcuse, Herbert |
KURZBESCHREIBUNG | deutsch-amerikanischer Philosoph und Soziologe |
GEBURTSDATUM | 19. Juli 1898 |
GEBURTSORT | Berlin |
STERBEDATUM | 29. Juli 1979 |
STERBEORT | Starnberg |