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Hostienfrevel

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Als Hostienfrevel oder Hostienschändung bezeichnete die Propaganda des katholischen Klerus zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert einen angeblichen Missbrauch der geweihten Hostie, fast immer in Verbindung mit einem angeblich vorausgegangenen Hostienraub.

Solche Anschuldigungen erhoben Christen fast nur gegen Angehörige des Judentums, seltener auch gegen Hexen. Sie bezichtigten sie, Hostien aus Kirchen gestohlen bzw. von Christen gekauft zu haben, um diese dann zu „martern". Dies waren - wie auch die etwa 50 Jahre früher aufgekommenen Ritualmord-Legenden - im Hochmittelalter häufige Vorwände für Pogrome oder ihre nachträgliche Rechtfertigung.

Anlass und Hintergrund für Hostienfrevel-Vorwürfe bildete die 1215 dogmatisierte katholische Transsubstantiationslehre, nach der das bei der Eucharistie vom Priester geweihte Brot sich in den realen Leib Jesu Christi verwandelt. Man schrieb der Hostie also nun göttliche Kraft zu. Hinzu kam das 1264 eingeführte Fronleichnamfest.

Vorläufer in Antike und Frühmittelalter

Zur Vorgeschichte der mittelalterlichen Hostienfrevel-Vorwürfe gehört die von einigen Kirchenvätern schon im 3. Jahrhundert ausformulierte Theorie vom Christusmord. Sie lasteten allen Juden an, Jesus Christus böswillig ermordet zu haben, so dass Gott ihre Nachkommen dafür für alle Zeiten verflucht habe. Dies knüpfte an urchristliche Aussagen wie Mt 27,25 an, die einen möglichen Antijudaismus im Neuen Testament repräsentieren.

Seit dem 4. Jahrhundert behaupteten christliche Legenden, Juden versuchten, Christusbilder zu schmähen und zu verletzen. So beschrieb eine Athanasius von Alexandria († 373) zugeschriebene Predigt um 380, wie Juden in Berytos (Beirut) an einem Christusbild die Marterung und Kreuzigung Jesu nachvollzogen hätten. Das Bild habe zu bluten begonnen und Wunder gewirkt, was die jüdischen Augenzeugen zur Taufe bewogen habe.

Dieser angebliche Bilderfrevel sollte anfangs weniger das Judentum herabsetzen als die Christen in ihrem Glauben an die Heilkraft christlicher Ikonen und anderer sakraler Gegenstände bestärken. Er wurde gelegentlich auch anderen als Glaubensfeinden definierten Gruppen, auch „schlechten“ Christen selber, nachgesagt. Die Rolle der schließlich bekehrten Juden bestand hier darin, die Macht des im Bild gegenwärtig wirkenden Christus zu veranschaulichen.

Der Verdacht, dass Juden christliche Bilder und Symbole misshandeln könnten, entstand nicht aus einer konkreten Kenntnis ihrer Religion, sondern aus dem christlichen Glauben selber. So verbot der römische Kaiser Theodosius den Juden - neben erheblichen Benachteilungen ihrer Religionsausübung - 408, am Purimfest ein Kruzifix zu verbrennen. Dieser angebliche jüdische Brauch ist sonst nirgends bezeugt.

Gregor von Tours († 594) erzählte von einem Juden, der in der Kirche ein Christusbild verletzt und dieses dann mit zu sich nachhause genommen habe. Die Wunde des abgebildeten Christus habe jedoch zu bluten begonnen, die Blutspur habe den Täter verraten, so dass dieser sein Verbrechen mit dem Leben habe bezahlen müssen. Hier wurde die frühere Zielaussage der Bekehrung bereits in die Bestrafung des „Frevlers" gewandelt.

Im Frühmittelalter entstanden erste Berichte über Hostienmissbrauch von Juden: Paschasius Radbertus († um 860) erzählte von einem Juden, der am Messopfer des Heiligen Syrus teilgenommen und die geweihte Hostie empfangen habe. Seine sofort einsetzenden entsetzlichen Schmerzen habe nur der Heilige beenden können, worauf der Jude sich habe taufen lassen. Diese Geschichte wandelte Gezo von Tortona gegen Ende des 10. Jahrhunderts ab: Syrus habe den Leib des Herrn im Munde des Juden ergriffen und so seine Heilung bewirkt. - Ähnliche Legenden tauchten vermehrt im Zusammenhang mit dem Abendmahlsstreit im 11. Jahrhundert auf. Dabei spielten Juden jedoch nicht immer die Hauptrolle: Sie dienten meist nur dazu, das Wunder der Realpräsenz Jesu im Altarsakrament zu bekräftigen.

Ausformung im Hochmittelalter

Die dem Athanasios zugeschriebene Legende fand erst im Hochmittelalter weite Verbreitung und wurde nun vielfach abgewandelt und ausgeschmückt. Die Weltchronik des Sigebert von Gembloux († 1112) verlegte sie in das Jahr 765. Nach einem Lanzenstich (vgl. Joh 19,34) sei Blut aus dem Bild geflossen, das die Juden aufgefangen und in die Synagoge getragen hätten. Dort habe es seine Heilkraft bewiesen, worauf die Übeltäter sich hätten taufen lassen. - Hier wurde von Juden als Gruppe geredet und ihr Gottesdienst in die Motivik einbezogen. Damit griffen christliche Kolporteure den bereits fest etablierten Christusmord-Vorwurf auf und unterstellten der gesamten gegenwärtigen Generation der Juden, Christi Passion fortsetzen und seine Ermordung wiederholen zu wollen. Alle Juden galten nun als potentielle religiöse Kriminelle; die einzige Lösung sahen die Tradenten in ihrer Konversion zum Christentum, also ihrer Selbstaufgabe.

Die ältesten bekannten Berichte von angeblichem Hostienraub und Hostienmarter stammen aus dem 13. Jahrhundert. Besonders bekannt wurde der Fall von Paris 1290, den viele damalige Chroniken verzeichnen, darunter das Chronicon des Johannes von Tilrode († 1298). Er schrieb, ein Pariser Jude habe von einer christlichen Magd für 10 Pfund Silber eine geweihte Hostie gekauft. Die versammelte Judengemeinde habe diese dann mit Messern, Stiletten und Nägeln traktiert, aber nicht zerstören können. Erst das größte Messer habe vermocht, die Hostie in drei Stücke zu teilen - dabei sei Blut ausgeflossen. Zuletzt habe man die Stücke in siedendes Wasser gelegt, worauf sie sich in Fleisch und Blut verwandelt hätten. Dieses Wunder habe viele der Versammelten zum christlichen Glauben gebracht - so auch den Verfasser dieses Berichts.

Alle spätere Berichte ähneln in ihrer Grundstruktur diesem Vorbild: Dem heimlichen Diebstahl oder Kauf einer Hostie folgt der kollektive Versuch, diese zu quälen und zu zerstören. Ihre Absicht war zunächst, den nachlassenden Glauben an die Segens- und Heilkraft der Hostie bei Christen zu stärken, indem auf angebliche Bekehrungen von Juden verwiesen wurde. Diesen wurde also indirekt ein Glaube an die Realität der Verwandlung der Hostie in den Leib Christi unterstellt.

Zugleich aber nahmen die Christen an, dass Juden einen angeborenen Hang zum "Gottesmord" hätten: Die zur Folterung der Hostie benutzten Messer und Nägel bildeten die Kreuzigung Jesu ab. Auch das Zerteilen der Hostie stellte ihren Angriff auf die christliche Trinitätslehre dar. Manche Berichte schmückten die Martern mit einer versuchten Verbrennung der Hostie aus, bei der dann Engel oder das Jesuskind erschienen sein sollten.

Im 14. Jahrhundert dienten Legenden dieser Art nur noch zur nachträglichen Rechtfertigung von Pogromen an Juden. Dies begann 1298: Damals kolportierte ein verarmter Ritter namens Rintfleisch eine Hostienschändung im fränkischen Röttingen und behauptete, er sei durch die persönliche Botschaft vom Himmel zum Vernichter aller Juden ernannt worden. Ein halbes Jahr lang zog er mit einer Rotte von Totschlägern durch über 140 fränkische und schwäbische Ortschaften. Sie folterten, schändeten und verbrannten Tausende von Juden und Jüdinnen und töteten deren Kinder. Nur die Bürger von Augsburg und Regensburg schützten ihre jüdischen Einwohner. Auch konnte ein Anteil der Verfolgten nach Polen und Litauen fliehen.

Die nächste Verfolgungswelle traf die jüdischen Gemeinden vom Elsass bis hinüber nach Schwaben und Österreich. 1336 hatten sich verarmte Bauern, Raubritter und wanderndes Raubgesindel zusammengefunden; sie gaben sich den Namen "Judenschläger" und rotteten viele jüdische Gemeinden aus, darunter 1338 auch die von Deggendorf. Dazu schrieb ein anonymer Mönch 1390:

In diesem Jahr [1337] wurde der Leib des Herrn, den die Juden gemartert haben, in Deggendorf gefunden, und sie wurden deswegen im Jahre 1338 verbrannt.

Alle späteren Legenden eines Hostienraubs basierten auf dieser kurzen Rechtfertigung. In den detailliert geschilderten Martern spiegeln sich die Foltermethoden der kirchlichen und weltlichen Behörden, nicht zuletzt der Inquisition. Wo vom versuchten Verbrennen der Hostie die Rede war, wurde nur der Scheiterhaufen für die Juden auf diese selbst projiziert und mit ihrem angeblichen "Verbrechen" an der Hostie gerechtfertigt. Auch Hexen wurden okkulter bzw. satanischer Praktiken mit gestohlenen Hostien bezichtigt.

Dies hatte fast immer verheerende Folgen für die so Beschuldigten und führte zu ihrer Vertreibung und Ermordung. Oft wurden an den Orten des vermeintlichen Hostienfrevels Kapellen oder Kirchen gebaut, nicht selten direkt über der zuvor niedergebrannten Synagoge. Darin wurden "Bluthostien" ausgestellt.

In Klosterneuburg behauptete ein Priester 1298 einen Hostienfrevel von Juden und stellte dazu das Beweisstück einer "blutenden" Hostie selbst her. Dieses konnte ihm eine eigens entsandte bischöfliche Untersuchungskommission nachweisen. Von einer weiteren falschen Anschuldigung berichtet sogar die sonst sehr unkritische, um 1345 verfasste Chronik des Johannes von Winterthur: Eine Christin aus Ehingen (Schwaben) habe um 1330 konsekrierte Hostien gestohlen, um damit Zauberei zu treiben. Sofort wurden die Juden des Ortes dieses Diebstahls verdächtigt; 80 von ihnen seien unschuldig hingerichtet worden.

Wegen solcher Vorfälle warnte Papst Benedikt XII. den König Albrecht von Österreich 1338 vor der Verehrung von "Bluthostien", wie sie in Pulkau in dem Jahr eingeführt wurde. Nikolaus von Kues bemühte sich 1450 darum, diesen Kult vollständig zu unterbinden. Doch gerade in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts nahmen die Anklagen wegen Hostienfrevels enorm zu.

Abklingen und Wirkungsgeschichte seit der Frühen Neuzeit

Seit der Reformation im 16. Jahrhundert traten auch in katholischen Ländern, wo die Transsubstantiationslehre in Kraft blieb, kaum noch Anklagen wegen Hostienfrevels auf: Das reformatorische Verständnis des Abendmahls wirkte hier mäßigend auf den heidnisch-magischen Aberglauben der christianisierten Volksfrömmigkeit ein. Dies galt jedoch nicht für die damals ebenso gängige Anklage auf Ritualmord: Dieses antijudaistische Stereotyp wurde selbst von Päpsten noch im 19. Jahrhundert propagiert und ist in einigen katholisch geprägten Ländern bis heute aktuell.

Siehe auch

Literatur

  • P. Browe: Die Hostienschändungen der Juden im Mittelalter. In: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde, Band 34 (1926). (gibt trotz apologetischer Tendenz eine Übersicht der Fälle)