Rechtfertigung (Theologie)
Rechtfertigung ist ein Zentralbegriff der christlichen Theologie innerhalb der Gnadenlehre. Das Wort ist eine Begriffsübernahme von lat. iustificatio und gr. dikaiosis. Im Neuen Testament kommt das Substantiv nur zweimal vor (Röm 4,25; 5,18), das dazugehörige Verb dikaioun ist aber ein Hauptwort v.a. der paulinischen Theologie.
Rechtfertigung bedeutet die Wiederherstellung von Gerechtigkeit zwischen Gott und den Menschen. Gerechtigkeit (hebr. zedaqah) ist ein Zentralwort schon des Alten Testaments und meint sowohl die Bundestreue Gottes wie den Bundesgehorsam der Menschen (des Bundesvolks), die innere Einstellung wie das äußere (soziale) Verhalten.
Diese in der Schöpfung angelegte Gerechtigkeit ist nach christlicher Grundüberzeugung von Seiten des Menschen unwiederbringlich und mit tödlichen Konsequenzen zerstört worden ("Sündenfall") und kann nur von Gott wiederhergestellt werden. Er hat das einseitig und aus reiner Liebe getan, indem er in seinem Sohn Jesus Christus Mensch wurde, alle Menschen, v.a. die Sünder und die Armen zum nahen Reich Gottes einlud und als Preis und Besiegelung dafür am Kreuz starb. Durch diesen Tod vollstreckte Gott die Strafe für die aus der (Macht der) Sünde resultierenden bösen Taten der Menschen stellvertretend an sich selbst, sodass diese vor Gottes Gericht als vollkommen gerechtfertigt erscheinen können, wenn sie diese Erlösungstat Gottes im Glauben für sich in Anspruch nehmen.
Glauben heißt in dieser Sicht, die durch Jesus Christus ein für allemal geschehene Rechtfertigung annehmen und ihr im Leben entsprechen.
Einzelheiten der Gnadenlehre waren in allen christlichen Epochen umstritten, in der Frühzeit etwa die Frage, ob ein Christ, der nach der Taufe wieder gesündigt hat, erneut gerechtfertigt werden kann. Lösungsversuch war und ist die Buß- und Beichtpraxis.
In der Reformation Martin Luthers wurde die Rechtfertigung zum zentralen Streitpunkt, der für Luther die Grenzlinie der Kircheneinheit markierte und die Spaltung legitimierte. Seit langem hatte die kirchliche Tradition den Gläubigen viele Richtlinien und Vorschriften gegeben, wie sie durch konkrete Werke und Frömmigkeitsübungen die Lebensantwort auf das Rechtfertigungswerk Christi geben sollten (Taten der Liebe, aber auch Reliquienverehrung, Ablasszahlungen u.v.a.). Auch die Messe selbst war als "unblutige Wiederholung" des Opfers Christi und damit als Mitwirkung daran interpretiert worden. Mit der Zeit war das Primärwerk Christi hinter diesen Antwortwerken der Christen und der Kirche nahezu verschwunden.
Luther setzte (mit Berufung auf Paulus) dagegen, dass die Rechtfertigung allein durch Christus geschehen sei und dem Christen allein durch den empfangenden Glauben, nicht durch eigenes Tun zuteil werde. Der Glaube aber werde allein durch das Wort der Christusverkündigung bewirkt, das in der Bibel grundlegend und hinreichend enthalten sei und in der Predigt aktualisiert werde (sola gratia, sola fide, sola scriptura).
Katholischerseits (Konzil von Trient), und auch von den Orthodoxen Kirchen, wurde Luther vorgeworfen, seine Rechtfertigung sei lediglich eine Gerechtsprechung ohne Konsequenzen, keine wirksame Gerechtmachung. Die Sakramente der Kirche aber gäben real Anteil an der "eingegossenen Gnade" (gratia infusa).
Im nachreformatorischen konfessionellen Zeitalter wurde dieser Gegensatz stark betont, und es kam auf beiden Seiten zu Vereinseitigungen. Im Rahmen des ökumenischen Dialogs seit dem frühen 20. Jahrhundert begann dann eine Annäherung, in deren Verlauf sowohl das Anliegen der Reformation wie die Sakramente und die Bußpraxis gegenseitig gewürdigt wurden.
Höhepunkt dieser Annäherung war die ökumenische Vereinbarung über die Rechtfertigungslehre, die von römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Theologen erarbeitet und am 31. Oktober 1999 in Augsburg feierlich unterzeichnet wurde.
Zum Verstehensgrund der Rechtfertigungslehre:
Leider konnte auch die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre nicht zum Verstehensgrund der Rechtfertigungslehre vordringen. Warum eigentlich kann nur der Glaube rechtfertigen, d.h. in das richtige Verhältnis zu Gott bringen? Für die Beantwortung dieser Frage der systematischen Theologie bedarf es stichhaltiger Kriterien.
Verstehensvoraussetzung der christlichen Botschaft ist die Einsicht, dass keine geschaffene Qualität, und damit auch keine moralische oder religiöse Leistung des Menschen, ausreichen kann, um Gemeinschaft mit Gott zu ermöglichen. Die Beziehung der Welt auf Gott ist einseitig; es gibt, in philosophischer Betrachtung, keine reale Relation Gottes auf die Welt, da eine solche Relation Gott in den Bereich der Wechselwirkungen hineinziehen und der Anerkennung der Unbegreiflichkeit, Transzendenz und Absolutheit Gottes widersprechen würde. Gott ist "ohne wen nichts ist" und daher in einem aktualen Sinn allmächtig: Nichts kann ohne ihn sein. Alles, was wir von Gott begreifen, ist das von ihm Verschiedene, also die ganze Welt, und wie diese Welt auf ihn verweist ("Geschöpflichkeit der Welt"). Mit dieser Erkenntnis scheint allerdings Gemeinschaft mit Gott, um die es ja in der christlichen Botschaft geht, zunächst ausgeschlossen zu sein. Die so verzweifelt klingende Frage Martin Luthers - "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" - wird damit verständlich.
Wie ist Gemeinschaft mit Gott überhaupt möglich? Wie ist eine göttliche Offenbarung, gar ein "Wort Gottes" möglich, wenn man die Göttlichkeit Gottes ernst nimmt? Es scheint, dass sich die christliche Botschaft erst öffnet, wenn man sie in dieser radikalen Weise in Frage stellt. Gemeinschaft mit Gott, das "rechte" Verhältnis zu ihm, ist alles andere als platt selbstverständlich. Von der Welt her betrachtet behält der "Zorn Gottes", nämlich keine Gemeinschaft mit Gott haben zu können, das letzte Wort über den Menschen. Nur Gott kann die Gottesferne des Menschen, die Ursünde (peccatum originale), die alle einzelnen Tatsünden verursacht, hinwegnehmen. Doch wie, wenn Gott "in unzugänglichem Licht wohnt"?
Erst die christliche Botschaft kann auf dieses, im Grunde alle Religionen berührende Problem antworten. Die christliche Botschaft versteht sich selbst als "Wort Gottes", also als das Angesprochenwerden von Gott in einem mitmenschlichen Wort der Weitergabe des Glaubens. Der Inhalt von Wort Gottes erläutert sein Geschehen. Im Wort Gottes wird uns verkündet, dass Gott (als Vater) der Welt mit derjenigen Liebe zugewandt ist, mit der er in Ewigkeit sein eigenes göttliches Gegenüber, den Sohn, liebt. Durch das Wort Gottes in Jesus von Nazareth wird offenbar, dass die Welt in die ewige Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, hineingeschaffen ist. Diese Liebe ist der Heilige Geist. Glauben bedeutet damit: Aufgrund des Wortes Gottes gewiss sein zu können, am Gottesverhältnis Jesu Anteil zu haben. Und Glauben im Sinne der christlichen Botschaft kann nur, wer sich nicht mehr von sich aus versteht, sondern wer vom Heiligen Geist erfüllt ist.
Das Maß der Liebe Gottes ist nicht die Welt, sondern Gott. Deswegen ist Gottes Liebe nicht abhängig von irgendwelchen Bedingungen, sondern schlechthin, im Leben und im Sterben, verlässlich. Der Glaube an die unendliche Liebe Gottes lässt den Menschen nicht mehr aus der Angst um sich selbst leben und befreit zu wahrer Menschlichkeit (zu "guten Werken"). Gute Werke, in denen man der Welt gerecht wird, sind nicht der Grund, sondern die Folge der Gemeinschaft mit Gott.