Schachnovelle
Die Schachnovelle wurde zwischen 1938 und 1941 von Stefan Zweig im brasilianischen Exil geschrieben. Es ist sein letztes und gleichzeitig bekanntestes Werk.
Die Erstausgabe erschien 1942 in Buenos Aires in einer limitierten Auflage von 250 Exemplaren. 1944 erschien in New York die erste Übersetzung, ins Englische. In Deutschland hat sich das Buch seit dem Erscheinen der Taschenbuchausgabe 1974 zu einem Dauerbestseller entwickelt. Mittlerweile wurden weit über 1,2 Millionen Exemplare verkauft.
Inhalt
Die eigentliche Geschichte ist eingerahmt durch die Erzählung eines Reporters, welcher an Bord eines Passagierdampfers auf den amtierenden Schachweltmeister trifft. Seinem stetigen Sensationsdrang folgend versucht er nun zu ergründen, weshalb dieser Schachweltmeister, welcher einer einfachen Fischerfamilie aus Ungarn entspringt, zu einem solchen Ruhm in der Schachwelt gelangt ist. Dabei erzählt er beinahe nebenbei die gesamte Biografie des Schachweltmeisters namens Mirko Czentovic. Diese beginnt in Ungarn, wo er als Waise vom einem Pfarrer in Obhut genommen wird, der nun redlich versucht dem doch recht minderbemittelten Jungen einige schulische Grundkenntnisse beizubringen. Doch auch nach jahrelangem Versuchen der Bildungsvermittlung bleibt der Junge weiterhin ein langsamer und ungebildeter Junge ohne ersichtliche Begabung. Doch dies ändert sich schlagartig, als der Junge eher zufällig an einem nicht wirklich ernst gemeinten Schachspiel teilnimmt. Von da an beginnt der Aufstieg des Mirko Czentovic, der ihn im Alter von 20 Jahren zum Weltmeistertitel führt.
Von nun an spielt er Turniere im ganzen Land gegen Geld. Die Tatsache, dass ein einfacher Junge ohne intellektuelle Begabung die gesamte Schachwelt aufmischt und sogar gegen Amateure spielt, bringt ihm die Missgunst der gesamten Zunft und offensichtlich auch des Reporters ein, die ihn allgemein als Stümper darstellen, der eher durch Zufall die Weltmeisterschaft gewonnen hat. Auf diesem Passagierdampfer ist nun auch ein neureicher Ölmillionär, welcher es sich zum Ziel gesetzt hat, gegen diesen einfältig aussehenden Schachweltmeister zu spielen und zu gewinnen. Es kommt daher zu einer bezahlten Schachpartie. Der Schachweltmeister gewinnt selbstverständlich die erste Partie und der ehrgeizige Ölmillionär verlangt Revanche. Doch dann kommt es zu einer plötzlichen Wendung, als ein unbekannter Fremder namens Dr. B in das Geschehen eingreift und das fast verlorene Spiel noch zu einem Remis bringt. Allerdings ist dieser Unbekannte nicht gewillt eine weitere Partie zu spielen, was wiederum den Ehrgeiz des Reporters reizt dem nachzugehen.
Daraufhin erzählt Dr. B ihm sein ganzes Martyrium, das die eigentliche Handlung darstellt. Dieser Dr. B war zu Zeiten des österreichischen Kaisers ein Finanzangestellter des Adels und des Klerus Österreichs und somit mit einer Vielzahl von Geldgeschäften vertraut. Nach dem Einmarsch Hitlers und seiner Armee interessierten sich die Nationalsozialisten für sein Wissen, da Hitler bzw. seine Schergen sich natürlich die Besitztümer der Klöster und des Adels aneignen wollten. Das war dann auch der Grund, weshalb er eingesperrt und intensiv verhört wurde. Das Besondere an dieser Haft war, dass er über Monate allein in ein Hotelzimmer eingesperrt wurde. Um nicht dem Wahnsinn zu verfallen und dabei u. U. noch Mitwisser zu verraten, stiehlt er aus dem Mantel eines seiner Verhörer ein Buch. Dies erscheint zuerst wie eine glückliche Fügung, doch es stellt sich heraus, dass es sich um ein Buch mit den berühmtesten Schachpartien handelt. Um trotzdem einer geistige Betätigung nachzugehen beginnt er die Partien auswendig zu lernen. Nach einigen Monaten kann er sie bereits alle auswendig. Um nun weiterhin einer Beschäftigung nachzugehen, versucht er, gegen sich selbst Schach zu spielen. Um aber gegen sich selbst zu spielen bedarf es einer künstlichen Schizophrenie, welche er durch längere geistige Anstrengung auch erlangt.
Das Problem ist allerdings, dass diese künstliche Schizophrenie eine Eigendynamik entwickelt und das jeweils unterlegene Ich, er bezeichnet seine Persönlichkeiten als Ich-Schwarz und Ich-Weiß, Revanche fordert. Dies führt dazu, dass er in ein sogenanntes „Schachfieber“ kommt und daher aus der Haft entlassen wird.
Nachdem Dr. B durch den Reporter erfährt das es sich bei seinem Gegner um den Schachweltmeister Czentovic handelt, lässt er sich auf eine Partie ein. Diese Partie gewinnt er souverän, aber der Schachweltmeister fordert seinerseits Revanche. Innerhalb dieser Revanchepartie beginnt Dr. B wieder seinem Schachfieber zu verfallen, spielt gegen sich selbst Schach und ist völlig verwirrt, als das reale Schachspiel völlig anders steht als in seinem Kopf. Aus diesem Grund beendet er die Partie und entschuldigt sich auf seine übliche zurückhaltende Art, die er während des Spiels abgelegt hatte. Er verlässt den Raum mit der Erkenntnis, nie wieder eine Schachpartie spielen zu können.
Personencharakteristik
Ich-Erzähler: Ein Passagier, den nur durch Zufall die Gelegenheit ereilt, an diesem ungewöhnlichen Ereignis teilzunehmen und somit auch etwas über das sonderbare Schicksal von Dr.B. zu erfahren. Er ist der Mittelsmann der einzelnen Personen und kann sich so zu jedem Charakter eine eigene Meinung bilden, die dem Leser auch sehr deutlich vermittelt wird.
Mirko Czentovic: Der amtierende Schachweltmeister. Er spielt mit einer Art mechanischer Präzision und hat, freilich auch deswegen, seit Monaten kein Spiel mehr verloren. Über eine Rückblende wird seine Karriere erzählt. Er ist der Sohn eines armen südslawischen Donauschiffers. Nach dem Tod seines Vaters wird er als Zwölfjähriger von einem Pfarrer aufgenommen und erzogen. Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihm nicht, Mirko Bildung zu verschaffen. Er wird als "maulfaules, dumpfes, breitstirniges Kind" beschrieben, dessen Gehirn nur schwerfällig arbeitet. Er verrichtet zwar alle die ihm auferlegten Hausarbeiten, aber mit „totaler Teilnahmslosigkeit“. Als er sein Talent für das Schachspiel entdeckt, tritt er einem Schachklub bei und wird dadurch sehr gefördert. So wird aus dem armen Schifferssohn ein Schachprofi. Der Ich-Erzähler begegnet ihm das erste Mal auf dem Schiff. Er beschreibt ihn als einfältige, arrogante und nur am Geld interessierte Person.
McConnor: Ein Tiefbauingenieur, der durch Ölbohrungen reich geworden ist. Er wird vom Ich-Erzähler eindeutig negativ dargestellt: „Mister McConnor gehört zu jener Sorte erfolgsbesessener Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiel eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persönlichkeitsbewusstseins empfinden [...] er ist es gewöhnt sich im Leben rücksichtslos durchzusetzen“. Weiters wird er mit einprägsamen Vergleichen beschrieben: z. B. „Eindruck eines Boxers kurz vor dem Losschlagen“. Er handelt und lebt nach der Devise: „Ich bezahle die Musik, also bestimme ich auch, was gespielt wird.“ Er fordert Mirko Czentovic gegen Honorar zu einer Schachpartie heraus. Er versteht zwar selbst wenig von Schach, erreicht aber mit Hilfe von Dr. B. ein Remis.
Dr. B.: Er ist das genaue Gegenstück zu Mirko Czentovic: kultiviert, intelligent, redegewandt. Er wird zwar nur mittels weniger Sätze in der Person beschrieben („Der scharfgeschnittene Kopf...“ – „merkwürdige Blässe“ – „wie plötzlich gealtert“), aber dafür werden fast über 30 Seiten verwendet um über seine Gefangenschaft zu berichten. Gegenüber seinem österreichischen Landsmann (=Ich-Erzähler) erweist er sich als aufgeschlossener Gesprächspartner. Ohne wirklich aufgefordert worden zu sein, beginnt er über seine Vergangenheit zu erzählen. Während seiner längeren Isolationshaft erlernte er alle Raffinessen des Schachspiels in einer Anstrengung, sich seine intellektuelle Widerstandskraft zu erhalten und somit nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Die fortgesetzte künstliche Situation des Spiels gegen sich selbst in den Rollen beider Spielgegner führte ihn jedoch in einen Nervenzusammenbruch, den er unter gleichartigen Streß später erneut erleidet. Es zeigt sich, daß er, während er sich durch seinen notvollen Ausweg mithilfe seines Intellekts tatsächlich vor dem Verfall retten konnte, im gleichen Maße Gefangener seines Auswegs geworden ist. Die unverhofft erneut entstandene Grenzerfahrung wird buchstäblich zu einer neuen Erfahrung seiner Grenzen, die sein Wesen, anders als das der anderen Charaktere, empfindlich erfährt und nicht ignorieren kann...
Sprache und Stilmittel
Der Großteil des Textes ist in elaborierter Sprache geschrieben, jedoch versucht der Autor, sich jedem Charakter persönlich anzupassen. Während Zweig bei dem sehr gebildeten Dr. B eine gehobene Sprache verwendet, benützt er bei dem „auf allen Gebieten gleich ungebildeten“ Mirko Czentovic eine einfache Sprache.
Interpretation
Die beiden Hauptfiguren der Novelle werden sehr gegensätzlich charakterisiert: Dr. B. kultiviert und intelligent, Czentovic primitiv, arrogant und habsüchtig, aber auf seinem Spezialgebiet sehr effektiv. Eine naheliegende Interpretation ist daher, dass Dr. B. das zum Untergang verurteilte Bildungsbürgertum seiner Zeit repräsentiert, während Czentovic für den Faschismus steht, wobei diese Interpretation sehr schwierig und keineswegs eindeutig ist. Ebenfalls ist der Grund, weshalb Dr. B. nur unter seinem Initial bekannt ist, auch Gegenstand von Interpretationen. Möglich ist, dass er sich immer noch von der Gestapo verfolgt fühlt.
Indem das Buch zeigt, wie ein Mensch durch Isolation gebrochen werden kann, ist es auch eine Anklage gegen die psychische Folter.
Darstellung des Schachspiels
Stefan Zweig war selbst kein guter Schachspieler und verfügte über keine näheren Kontakte zur Schachszene.
Für viele Schach-Enthusiasten wird der Reiz des Schachspiels kaum dargestellt, denn einerseits ist mit dem Protagonisten Czentovic der Schachspieler an sich in sehr negativer Weise repräsentiert. Auch die andere Hauptfigur wird durch die manische Beschäftigung mit dem Spiel als psychisch geschädigt dargestellt. Schach gewinnt lediglich als Lebenshilfe bei Einsamkeitszuständen eine positive Seite.
Am Anfang der Novelle wird die Kindheit und der Werdegang des Meisters Czentovic erzählt. Er wird als einseitig begabt dargestellt. Dies entspricht nicht der Realität, da die meisten guten Schachspieler vielseitig begabt sind, auch wenn sie sich auf das Spiel spezialisieren müssen, um es bis zur Weltspitze zu bringen. Unrealistisch ist auch die Aussage, dass Czentovic nicht in der Lage ist, eine Partie ohne Ansicht des Brettes zu spielen. Dies gelingt selbst weniger guten Spielern nach einiger Übung; und alle Weltmeister waren dazu problemlos in der Lage.
Dr. B. wird durch das Auswendiglernen einer Partiensammlung und sowie durch das Spiel gegen sich selbst zu einem Spieler, der es mit dem Weltmeister aufnehmen kann. Kaum jemandem wird empfohlen, in dieser Weise das Schachspiel zu erlernen - denn die Finessen von Meisterpartien sind oft nicht gut begreifbar und von zu hohem Niveau für die meisten Neulinge. Jeder Besitzer eines Buchs über Schacheröffnungen weiß außerdem, dass praktisch jede Schachpartie sehr schnell zu Stellungen führt, die nicht mehr im Buch beschrieben sind - schon nach wenigen Zügen stünde Dr. B. vor einer Spielsituation, die er nicht auswendig gelernt hat. Es wird zwar eine Eröffnungsvariante (die Sizilianische Eröffnung) erwähnt, doch was es sich mit den Eröffnungen auf sich hat, wird nicht erklärt.
Im wichtigsten Teil der Erzählung, nämlich der Isolationshaft, spielt Dr. B. gegen sich selber. Dazu erreicht er eine fast perfekte Auftrennung seines Bewusstseins, nämlich in das "Ich Weiß" und "Ich Schwarz", denn er soll ja nicht als Schwarz den Plan durchschauen, den er als Weiß gefasst hat. Abgesehen davon, dass diese Art zu denken bei Schachspielern völlig unüblich ist, ist es sehr fraglich, ob das Gegen-sich-selbst-Spielen einen Anfänger massiv verbessert, da er mangels externer Kritik seine Fehler nicht erkennen kann.
Für Menschen, welche einen Einblick in das Schachspiel suchen, empfiehlt sich die Lektüre der Schachnovelle nicht. Die Novelle gibt, einmal abgesehen davon, dass sich noch recht viele Schachmeister für elitär halten und auch arrogant sind gegenüber schwächeren Spielern, einen unrealistischen Eindruck vom Schachspiel.
Das Schachspiel hat für die verschiedenen Protagonisten eine völlig unterschiedliche Bedeutung. Für Mirko Czentovic, den Weltmeister, ist das Schach ein Mittel zur Selbstbestätigung - und schliesslich seine Verdienstmöglichkeit. McConnor stärkt mit dem Schach spielen sein Ego (neben der Freizeitbeschäftigung), für Dr. B. war Schach schliesslich der Rettungsanker während seiner Isolationshaft. Nur für den Ich-Erzähler ist das Schachspiel eine reine Unterhaltung, nur für ihn ist es eine echte Freude.
Verfilmung
Der nach der Buchvorlage unter der Regie von Gerd Oswald entstandene Film Schachnovelle erschien im Jahre 1960. Als Hauptdarsteller wirkten Curd Jürgens (Dr. B.) und Mario Adorf (Mirko Czentovic) mit.
Literatur
- Stefan Zweig: Schachnovelle, Fischer Taschenbücher, Frankfurt, 110 Seiten, ISBN 3-596-21522-6, 5,95€
- Reiner Poppe: Stefan Zweig, Schachnovelle: Interpretationen und Unterrichtsmaterialien, Beyer-Verlag: Hollfeld, 2. Aufl., 1990, ISBN 3-88805-043-X
- Ingrid Schwamborn: Schachmatt im brasilianischen Exil, die Entstehungsgeschichte der "Schachnovelle", in: Germanisch-romanische Monatsschrift, Neue Folge Band 34, 1984, S. 404-430
- Bruno Landthaler: Das "göttliche" Schach. Die Schachnovelle von Stefan Zweig, in: Menora, Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1996, Frankfurt am Main, 1996, S. 250-264