Abendmusiken
Die Abendmusiken sind die traditionsreichste Folge von Kirchenmusikveranstaltungen in der Hansestadt Lübeck. Sie waren die ersten regelmäßigen Kirchenmusikveranstaltungen außerhalb des Gottesdienstes und kosteten keinen Eintritt, weil sie von der örtlichen Wirtschaft gesponsort wurden.
Entstehung
Die Abendmusiken wurden von Franz Tunder in seiner Zeit als Organist an der Lübecker Marienkirche (1641-67) begründet. Der Ursprung dieser Konzerte ging nicht von der Kirchengemeinde, sondern von der Kaufmannschaft aus, indem die „Commerzierenden Zünfte“ sich vor der Börse im nebenan gelegenen Lübecker Rathaus eine „Zeit-Kürzung“ durch sein Orgelspiel geben ließen. Tunder erweiterte die zunächst reinen Orgelkonzerte um Streichinstrumente und Gesang.
Blüte
Dietrich Buxtehude, Tunders Nachfolger als Organist an St Marien, übernahm diese von seinem Amtsvorgänger begründete Tradition und baute die Veranstaltungsreihe während seiner Amtszeit an dieser Kirche (1668-1707) weiter aus. Auf seine Initiative hin wurden 1669 die Sängeremporen im Mittelschiff der Kirche eingebaut. Seit 1673 wird der Begriff der Abendmusiken dann allgemein gebräuchlich. Buxtehude erweiterte das Programm um Chor und Orchester und nahm hierzu die Hilfe seines Schwagers Samuel Frank in Anspruch, der Kantor des Katharineums war. Es wird heute von bis zu 80 mitwirkenden Musikern ausgegangen, wobei Buxtehude 7 Ratsmusiker von der Stadt kostenlos beigestellt wurden. Für die gegebenfalls notwendig werdende Bezahlung aller weiteren mußte er zunächst selbst aufkommen. Der Organist trug also das Veranstalterrisiko, die entstehenden Unterdeckungen wurden jedoch regelmäßig durch Spenden und Zuschüsse privater und der Stadt abgedeckt.
Ablauf
Die Abendmusiken fanden zunächst an Donnerstagen statt, wurden jedoch bald auf die fünf Sonntage vor Weihnachten gelegt, an denen sie um 16 Uhr begannen.
Die Veranstaltungen können vom Ablauf her nicht mit heutigen Konzertveranstaltungen verglichen werden. Wegen der Finanzierung durch den Rat, die Kaufmannskorporationen, die Zünfte und Spenden der Familien des Patriziats hatten die Veranstaltungen einen außerordentlichen Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten, nahmen nach den Berichten durchaus einen tumultartigen Verlauf und erforderten den ganzen Einsatz des Sicherungspersonals, das in Form der Ratswache von der Stadt ohne Kosten zur Durchführung der Abendmusiken abgestellt wurde. Die Sponsoren saßen erhöht auf dem Lettner und hatten so zweifelsfrei einen verbesserten Kunstgenuß bei gleichzeitigem Überblick über das turbulente Geschehen im Kirchenschiff. Anläßlich seines Besuchs bei Buxtehude in Lübeck im Jahr 1705 wird auch Johann Sebastian Bach an den Abendmusiken dieses Jahres teilgenommen haben.
Fortführung
Auch auf Buxtehude folgenden Marienorganisten Johann Christian Schieferdecker (1707-32), Johann Paul Kunzen (1732-57), Adolf Karl Kunzen (1757-81) und Johann Wilhelm Cornelius von Königslöw (1781-1833) setzten die Abendmusiken fort und trugen mit jeweils eigenen Kompositionen zum Inhalt der Konzerte bei. Unter v. Königslöw, der zunächst auch eigene Kompositionen beiträgt, wandeln sich dann die Abendmusiken um 1791 mit der Aufführung des Messiah von Georg Friedrich Händel mehr zur reproduktiven Vermittlung von Oratorien. Auch der kirchliche Hintergrund tritt zugunsten einer Verweltlichung zurück, ab 1800 finden die Konzerte Freitags in der Börse im Rathaus statt. 1801 beschränkt der Rat die Zahl der jährlichen sonntäglichen Kirchenmusiken für ganz Lübeck auf nur 30 von maximal 1 1/2 Stunden Dauer, die nach einem festgelegten Schlüssel den einzelnen Hauptkirchen zugewiesen werden.
Die damalige Popularität der Veranstaltungen ist heute daran zu ermessen, dass das erste Lübecker Adressbuch von 1798 die Abendmusiken in der Organistenzeit v. Königslöws in seinen Vermischten Lokalnotizen expliziet aufführt und beschreibt: Geistliche Oratorien, welche um die Adventszeit an fünf Freytag-Abenden in der Börse, und Sonntags Abends in der St. Marien Kirche jährlich aufgeführt, und wozu alsdann verschiedne Texte und Kompositionen geliefert werden.
Das Ende
In der Nachfolge Buxtehudes setzte sich die Tradition kontinuierlich und ungebrochen bis 1810 fort. Dann erlosch sie zunächst nicht nur infolge der schweren wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Lübecker Franzosenzeit sondern auch durch eine Verschiebung des geistigen Interesses infolge der bürgerlichen Aufklärung.
Die Erneuerung
Erst im Jahr 1926 nahm der Marienorganist Walter Kraft die Tradition der Abendmusiken als Veranstaltung und als Komponist wieder auf. Sein Nachfolger Stender führt die Abendmusiken als Konzertreihe im Sommer bei Kerzenschein bis heute fort.
Abendmusik als Werkbezeichnung
Der Name „Abendmusiken“ wird auch für die von Dietrich Buxtehude und seinen Nachfolgern anlässlich dieser Konzerte geschaffenen Werke verwendet. Keines dieser offenbar oratorienartigen Musikstücke Buxtehudes ist erhalten – lediglich eine zweifelhafte Komposition mit dem Titel „Das Jüngste Gericht“ liegt vor.
Literatur
- Dietrich Buxtehude: Castrum Doloris - Templum Honoris. Die "Extraordinairen Abendmusiken" Lübeck 1705, Faksimile Lübeck 2002. ISBN 3933652146
- Fritz Jung:Die Musik in Lübeck in Geschichte der freien und Hansestadt Lübeck hrsg. von Fritz Endres, Lübeck 1926, S. 171-209 (179ff)
- Arndt Schnoor, Volker Scherliess: Theater-Music in der kirche. Zur Geschichte der Lübecker Abendmusiken. Lübeck 2003. ISBN 3-933652-15-4