Zum Inhalt springen

Brunnenvergiftung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 13. Mai 2006 um 01:35 Uhr durch Jesusfreund (Diskussion | Beiträge) (Mittelalter). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Als Brunnenvergiftung bezeichnet man die absichtliche Verunreinigung des lebensnotwendigen Grund- und Trinkwassers mit gesundheitsgefährdenden Schad- und Giftstoffen aller Art. Dies galt schon in der Antike, als trinkbares Wasser in Städten und Dörfern meist nur durch Brunnen zugänglich war, als schweres, die Allgemeinheit betreffendes Verbrechen. Es fand als Straftatbestand (Gefährdung der Volksgesundheit) Eingang in das moderne Strafrecht.

Als Vorwurf ist Brunnenvergiftung auch ein altes Stereotyp zur Verleumdung bestimmter Volksgruppen. Sie wurde den Juden im Mittelalter besonders während der Verbreitung der Pest (1347-1350) zugeschrieben und löste europaweit Pogrome an ihnen aus. Der Vorwurf war der klassische Fall einer antijudaistischen Verschwörungstheorie mit tödlichen Folgen für die Betroffenen.

In vielen Ländern der Erde ist trinkbares Wasser knapp oder durch vom Menschen verursachte Umweltschäden gefährdet. Zudem kann die Versorgung damit von privaten oder nationalen Interessen kontrolliert werden. In solchen Regionen ist der Vorwurf bis heute aktuell.

Seit dem 19. Jahrhundert wird der Ausdruck in Europa häufig in tagespolitischen Konflikten verwendet, um eine diskreditierende Argumentationsweise gegnerischer Personen und Gruppen zu kennzeichnen und zu kritisieren.

Antike

Mittelalter

Im Mittelalter lag der Verdacht von heimtückischen Giftanschlägen bei verheerenden Seuchen, die man sich nicht erklären konnte, gleichsam in der Luft. Dass er sich fast ausschließlich gegen Juden richtete, lag an den lange zuvor von kirchlicher Theologie geschaffenen und verbreiteten Judenbildern, die in der Volksfrömmigkeit verankert waren. Sie schrieben den sozial ausgegrenzten Juden Heimtücke, Schadenszauber und Verschwörungen gegen die Christenheit zu. So kam es schon 1161 in Böhmen zu einem damals noch vereinzelten Pogrom an 68 Juden, deren Ärzte die Christen zu vergiften versucht haben sollten.

1321 wurden in Frankreich alle Leprakranken als angebliche Brunnenvergifter interniert und ermordet. Philipp V. rechtfertigte diesen Massenmord an Wehrlosen in einem Edikt vom 21. Juni. Seit dem 11. Juni galten die Juden bereits als Bundesgenossen der Aussätzigen und wurden in südfranzösischen Städten und Regionen - u.a. Tours, Chinon, den Grafschaften Anjou und Touraine - ebenfalls verfolgt und verbrannt. Dabei berief man sich auch auf ein Sendschreiben von Philipp von Valois, Herzog von Anjou: Dieser ziterte einen Brief, den man bei einem Juden Bananias entdeckt habe. Dieser habe ihn an alle orientalischen Herrscher versenden wollen und darin einen angeblichen Pakt der Juden Frankreichs mit den Muslimen bekräftigt. Er habe mit ihnen die Auslieferung Frankreichs im Tausch für Jerusalem verabredet. Daraufhin seien die Aussätzigen mit gewaltigen Mengen Gold und Silber dazu bestochen worden, ein von den Juden zubereitetes Pulver in alle Brunnen, Quellen und Zisternen zu schütten. - Weitere, angeblich von den Mauren abgefangene Briefe sollten diese fingierte Verschwörung bestätigten: So übten Adelige auf den König Frankreichs Druck aus, bis dieser im Juli alle Juden seines Reichs gefangen setzte, um sich ihre Güter anzueignen. Die als Täter geltenden Juden wurden in Paris verbrannt, die überlebenden Juden wurden 1323 nach zweijährigen Prozessen vertrieben. Die Beschuldigung der Leprakranken erhielt man bis dahin schon nicht mehr aufrecht.

Die große, als Schwarzer Tod bezeichnete Pandemie, in deren Kontext den Juden erneut eine diesmal erfolgreiche Brunnenvergiftung vorgeworfen wurde, begann 1347 in der Türkei, griff 1348 über Italien, Spanien, Frankreich und die Schweiz auf Deutschland über und erreichte 1349 Nord- und Osteuropa. Die bis dahin unbekannte Krankheit kostete um 25 Millionen Menschenleben. Nachdem alle versuchten Maßnahmen - Quarantäne und Verbannung Erkrankter, Gegenmittel, teilweise Evakuierungen - sich als untauglich erwiesen hatten, kam es im zweiten und dritten Pestjahr zu großen Pogromwellen. Hunderttausende Juden wurden auf Scheiterhaufen verbrannt oder gerädert. Insgesamt wurden 350 jüdische Gemeinden ausgelöscht.

Voraussetzungen dafür waren:

  • die vorwissenschaftliche Annahme, die Pest sei auf eine Art Verunreinigung von Wasser und Luft mit einem schädlichen Giftstoff zurückzuführen,
  • die antike Tradition der Brunnenvergiftung als militärische Maßnahme im Krieg gegen feindliche Bevölkerung,
  • die gesellschaftliche Isolation und Ausgrenzung der Juden aus den „ehrbaren" Berufsgruppen, ihre Stigmatisierung als Wuchererer und Christusmörder durch den herrschenden christlichen Antijudaismus.

Juden wurden daher schon lange der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit für fähig gehalten. Dies wurde angesichts der Ohnmacht gegenüber der Pest akut.

Nachdem in Narbonne, Carcasonne und Avignon zunächst einige obdachlose Bettler aufgegriffen und hingerichtet wurden, die ein Pulver in Wasserstellen und Häuser gestreut haben sollten, erfolgten in Nordspanien, der Provence und Italien die ersten Übergriffe gegen Juden. In Dauphine wurde dabei erstmals ausdrücklich der Vorwurf der Brunnenvergiftung laut. Beim weiteren Vordringen der Pest wurde immer öfter behauptet, Juden würden seltener von ihr angesteckt als Christen. Dass unter Juden Hygiene, gesunde Ernährung und Medizin aus religiösen Gründen eine größere Rolle als bei anderen Stadtbewohnern spielten und berühmte Ärzte oft Juden waren, bestärkte das Misstrauen gegen sie zusätzlich.

In Lausanne und Chillon am Genfer See wurden vom 15. September bis 18. Oktober 1348 die ersten Juden festgenommen und gefoltert, bis ein jüdischer Arzt den Verdacht einer großangelegten Verschwörung aller Juden zur Vernichtung der Christenheit bestätigte: Er gestand, ein spanischer Jude und ein französischer Rabbiner hätten ein geheimes Gift zusammengebraut und an Judengemeinden aller Länder versandt, um damit die dortigen Brunnen zu vergiften. Solche angeblichen Gifte konnte man jederzeit bei Hausdurchsuchungen anderer jüdischer Ärzte finden.

Der Bailli von Lausanne übermittelte das Geständnis als Sensation nach Freiburg im Breisgau und Straßburg. Sein Vorgehen gegen die örtlichen Juden wurde in Zofingen im Aargauexakt nachgeahmt und von da aus als Muster von anderen Orten übernommen:

  • Hausdurchsuchungen, Giftfunde,
  • Festnahmen, Folter
  • Geständnisse, weitere Festnahmen, Verbrennung aller Juden des Ortes
  • Berichte darüber an andere Nachbarstädte.

Auf diese Weise breitete sich der Vorwurf der Brunnenvergiftung parallel zur Pest rasch in ganz Europa aus. Vielfach wurden Stadträte auch von sich aus gegen Juden tätig und fanden in den Berichten aus anderen Städten dann nur noch die Bestätigung ihrer Verdächtigungen. So wurden im November 1348 die Juden in Bern und Stuttgart verbrannt, ohne direkte Nachrichtenverbindung zwischen diesen Städten. Es folgten Pogrome, häufig ohne Rechtsverfahren, im Allgäu, Augsburg, Nördlingen, Lindau, Esslingen, Horb.

In manchen Städten wie Solothurn wurden getaufte Juden zuerst verschont, dann aber ebenfalls hingerichtet, wenn die Pest nach der Verbrennung der nichtgetauften Juden nicht nachließ. In Basel glaubte man den Gerüchten aus Bern und Zofingen zuerst nicht und verbannte einige Ritter aus der Stadt, die Gewalttaten gegen Juden begangen hatten. Die Zünfte protestierten dagegen und verlangten stattdessen die Entfernung aller Juden aus der Stadt. Dem gab der Rat nach und verbannte im Januar 1349 alle 600 Juden der Stadt in ein eigens errichtetes Holzgebäude auf einer Sandbank im Rhein. 130 jüdische Kinder wurden aus ihren Familien gerissen und zwangsgetauft. Auch getaufte Juden wurden später hingerichtet, nachdem sie durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden waren, sie hätten neben dem Brunnenwasser auch Butter und Wein vergiftet.

Der Straßburger Rat forderte von Zofingen zunächst eine Probe des Giftes an, worauf Zofingen ablehnte und die Erprobung vor Ort zu demonstrieren anbot. Darauf zwangen die Straßburger eine Gruppe ihrer jüdischen Bürger, Wasser aus angeblich vergifteten Brunnen zu trinken. Nach drei Wochen, als niemand daran starb, stellten sie die Versuche ein. Doch dass sie die übrigen Brunnen bewachen ließen, galt in den Orten der Umgebung als Beweis für die Schuld der Juden. Nur der Kölner Rat hielt sich zurück und schrieb den Straßburgern, sie sollten Ausschreitungen gegen Juden möglichst verhindern, solange sie von deren Unschuld überzeugt seien, da Aufstände gegen Juden leicht in Aufstände gegen die Obrigkeit umschlagen könnten.

Doch in beiden Städten erzwangen bewaffnete Handwerker Anfang 1349 die Absetzung von Stadträten, die die Juden schützen wollten, und die Verbrennung aller ungetauften Juden. Ihre eigentlichen Motive nannte der Straßburger Chronist beim Namen: Man habe den Juden vor ihrer Ermordung alle Pfandbriefe wiedergegeben. Ihr Bargeld habe der Rat genommen und unter die Handwerker verteilt:[1] Daz was ouch die vergift, die die Juden dote.

Im März 1349 wurde die große Judengemeinde von Erfurt ausgelöscht, im Juli die in Meiningen. Im selben Monat folgten Frankfurt am Main und Oppenheim. Im August folgten Mainz, Koblenz, Köln: Dort wurden die Juden in ihren Häusern verbrannt und ihre Synagogezerstört. Andernorts wurden die Synagogen zu Kirchengebäuden oder Kapellen umgewandelt, so in Nürnberg und Überlingen. Dort begann man das Münster mit Grabsteinen des jüdischen Friedhofs zu bauen.

Anders als 1321 spielten andere Gruppen nur eine Randrolle: In einigen Orten wurden Bettelmönche, Kräutersammler und andere Außenseiter als Giftmischer verdächtigt. Doch die Juden galten überall als die Hauptschuldigen, auch dort, wo sie gar nicht wohnten und die Krankheit noch nicht ausgebrochen war. Vielfach ging ihre Verfolgung dem Pestausbreuch voraus, so in Fulda. Im deutschen Sprachraum wurden sämtliche Judengemeinden verfolgt, ein Großteil vernichtet; nur Regensburg bildete die einzige Ausnahme. Überlebende wurden von nun an in Ghettos gezwängt und durch Mauern und Tore von der übrigen Stadtbevölkerung abgetrennt. Bis 1519 wurden auch diese geduldeten Restgemeinden aus fast allen Städten vertrieben.

In den der Pestpandemie folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten wurden Juden noch oft bei Seuchen der Brunnenvergiftung bezichtigt, z.B.:

Neuzeit

Gebrauch als Redewendung

Siehe auch

Literatur

  • Karl Höll, Andreas Grohmann: Wasser. Nutzung im Kreislauf. Hygiene, Analyse und Bewertung. 8. Auflage, Gruyter 2002, ISBN 3110129310
  • Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts / Bd 2. Tl 2. 1. Lesung: Allgemeiner Teil (Strafrahmen, Unternehmen einer Straftat). Besonderer Teil (Fortsetzung und Abschluss der Beratungen). de Gruyter 1989, ISBN 3110117290
  • Frantisek Graus: Pest - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. 3. Auflage, Göttingen 1994
  • Alfred Haverkamp (Hrsg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Stuttgart 1982. Darin: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte (S. 27-93)
  1. Rohrbacher/Schmidt: Judenbilder S. 198