Feindstrafrecht
Feindstrafrecht bezeichnet ein Sonderstrafrecht für Menschen, die aus der Sicht der Herrschenden Feinde der Gesellschaft oder des Staates sind und deshalb außerhalb des für die Gesellschaft geltenden Rechts stehen.
Das Feindstrafrecht verwehrt diesen Menschen die Bürgerrechte und bekämpft sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Es ist deshalb kein Strafrecht im herkömmlichen Sinn, sondern ein von rechtsstaatlichen Bindungen befreites Instrument zur Gefahrenabwehr.
Jakobs' Lehre vom Feindstrafrecht
In Deutschland wurde die Diskussion um das Feindstrafrecht und seine Existenzberechtigung im Jahr 1985 vom Rechtswissenschaftler Günther Jakobs angestoßen. Resonanz über sein Fachgebiet hinaus erhielt der Bonner Strafrechtsprofessor dann mit seinem 2004 erschienene Aufsatz „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“. Darin vertritt Jakobs die Auffassung, dass derjenige, der die staatliche Rechtsordnung bewusst ablehnt oder sie sogar zerstören will, seine Rechte als Bürger und als Person verliere und deshalb vom Staat mit allen Mitteln bekriegt werden dürfe. Der Terrorist, der die herrschende Gesellschaftsordnung stürzen will, der Gewohnheitsverbrecher, der alle staatlichen Gesetze ignoriert, oder das Mafia-Mitglied, das nur nach den Regeln seines Clans lebt, seien „Unpersonen“ und dürften nicht als Bürger behandelt werden. Vielmehr seien sie als „Feinde“ zu bekriegen.
Jakobs rechtfertigt die Notwendigkeit dieses Feindstrafrecht rechtsphilophisch und verweist dazu auf die von Thomas Hobbes begründetete Vertragstheorie und ihre Interpretation durch Immanuel Kant. Derjenige, der den – gedachten – Gesellschaftsvertrag durch seine Handlungen aufkündigt, verlasse aus freien Stücken die Gesellschaft und begebe sich in den gesetzlosen Naturzustand. Damit verliere er zugleich seine Eigenschaft als Person und werde zum Feind. Als Feind sei er von der Gesellschaft zu bekämpfen.
Mit Hinweis auf die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA behauptet Jakobs auch ein praktisches Bedürfnis für ein Feindstrafrecht. Die Bindungen, die sich der Rechtsstaat gegenüber seinen Bürgern auferlege, seien gegenüber Terroristen „schlechthin unangemessen“.
Schließlich meint Jakobs, dass bereits das geltende deutsche Recht „feindrechtsstrafliche Stränge und Partikel“ enthalte, beispielsweise die Sicherungsverwahrung, die Strafbarkeit der Vorbereitung von Verbrechen und die Kontaktsperre zwischen Verteidiger und Mandanten. Damit sei das Feindstrafrecht rechtlich und gesellschaftlich grundsätzlich anerkannt. Im Interesse der Bürger sei es aber notwendig, das Feindstrafrecht offen als solches zu kennzeichnen und nur auf die Feinde der Gesellschaft anzuwenden.
Feindstrafrecht in der Praxis
Altertum und Mittelalter
Die Germanen verstießen Sippenmitglieder für besonders ehrlos geltende Taten aus ihrer Sippe. Die Täter unterfielen der Friedlosigkeit und galten als vogelfrei.
Im Mittelalter konnten Verbrecher unter bestimmten Voraussetzungen geächtet werden. Damit standen sie außerhalb der Gesellschaft und der Gesetze. Wer einen Geächteten tötete, ging straflos aus.
Deutschland 1933–1945
Ein klassisches Feindstrafrecht wurde von 1933–1945 im nationalsozialistischen Deutschland ausgeübt: Juden, „Asoziale“ und Gegner der nationalsozialistischen Idee wurden zu „Volksschädlingen“ erklärt, für die die Gesetze der deutschen Volksgemeinschaft keine Anwendung fanden. Sie konnten jederzeit von der Gestapo in Schutzhaft genommen werden. Für ihre – schnelle – Aburteilung waren der Volksgerichtshof und andere Sondergerichte zuständig. (Siehe auch: Verordnung gegen Volksschädlinge.)
Ein vergleichbares Sonderstrafrecht galt während des Zweiten Weltkriegs für die so genannten Fremdvölkischen. Beispielsweise unterlagen polnische Staatsbürger der 1941 in Kraft getretenen Polenstrafrechtsverordnung.
Kolumbien und Guantánamo
In Kolumbien wird seit 1990 ein Feindstrafrecht gegen „Drogenterroristen“ angewandt. Die Betroffenen werden oft jahrelang ohne Anklage und ohne Rechtsbeistand in Untersuchungshaft festgehalten, um dann anschließend in Geheimprozessen aufgrund der Aussagen anonymer Zeugen abgeurteilt zu werden. Die Strafverfolgung selbst obliegt vorrangig einer militärischen Spezialeinheit, die nur formal der Staatsanwaltschaft unterstellt ist. Etwa sieben Prozent der verfolgten Straftaten werden mit den Mitteln dieses Feindstrafrechts verfolgt.
Die Klassifizierung von Al-Qaida- und Taliban-Kämpfern als „ungesetzliche Kombattanten“ und ihre Inhaftierung im Lager Guantánamo durch das US-Militär können ebenfalls als Erscheinungsformen eines Feindstrafrechts angesehen werden.
Der Mörder als „Nicht-Mensch“
2004 behauptete ein Berliner Richter in einem Leserbrief an den „Tagesspiegel“, das Folterverbot des Artikels 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention gelte nicht für Personen wie den verurteilte Kindesmörder Magnus Gäfgen. Dieser sei „ein Unmensch, ein Nicht-Mensch und damit ein Niemand. Und Niemand darf bekanntlich der Folter unterzogen werden“.
Literatur
Monografien
- Alejando Aponte: Krieg und Feindtrafrecht. Überlegungen zum „effizienten“ Feindstrafrecht anhand der Situation in Kolumbien. 1. Auflage, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2004, ISBN 3-8329-0612-6.
Aufsätze
- Günther Jakobs: Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht. In: HRR-Strafrecht 3/2004, S. 88–95. [1]
- Jochen Bung: Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person. In: HRR-Strafrecht 2/2006, S. 63–71. [2]
- Rainer Hamm: Feindstrafrecht – Bürgerstrafrecht – Freundstrafrecht. In: Neue Lust auf Strafen. Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Band 27, S. 105 ff. Münster 2005.
- Hauke Brunkhorst: Folter vor Recht – Das Elend des repressiven Liberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2005, S.75–82.
- Dirk Sauer: Das Strafrecht und die Feinde der offenen Gesellschaft. In: Neue Juristische Wochenschrift 24/2005, S. 1703–1705.
- Arndt Sinn: Moderne Verbrechensverfolgung – auf dem Weg zu einem Feindstrafrecht? In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, S. 107–117. [3]