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Pierrot Lunaire

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Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire, op. 21, − allgemein bekannt unter dem Namen Pierrot lunaire − ist ein Melodrama von Arnold Schönberg.

Werkgeschichte

Der Komponist Schönberg wurde zu Beginn des Jahres 1912 von der Diseuse Albertine Zehme, verheiratet mit einem Leipziger Rechtsanwalt, um die Vertonung eines Vortragstextes gebeten. Schönberg, der bei diesem Auftrag in der Auswahl der Gedichte, der musikalischen Bearbeitung und der Einstudierung völlig frei war, schuf die Komposition innerhalb der Zeit vom 2. März bis 6. Juni 1912.[1] Schönberg wählte für sein Werk den gleichnamigen französischen Gedichtzyklus von Albert Giraud aus dem Jahr 1884 in der freien deutschen Übertragung von Otto Erich Hartleben, die 1892 in einem Privatdruck in Berlin erschien. 1911 gab der Münchner Verlag Georg Müller eine auf 400 Exemplare limitierte Neuauflage heraus. [2]

Werkbeschreibung

Das Werk Pierrot lunaire besteht aus 21 ausgewählten Gedichten für Sprechstimme und Kammerensemble (Klavier, Flöte [auch Piccolo], Klarinette [auch Bassklarinette], Geige [auch Bratsche] und Violoncello).

Die 21 Gedichte sind in drei Gruppen aufgeteilt und tragen folgende Titel:

  • Teil 1: Mondestrunken, Colombine, Der Dandy, Eine blasse Wäscherin, Valse de Chopin, Madonna, Der kranke Mond
  • Teil 2: Nacht, Gebet an Pierrot, Raub, Rote Messe, Galgenlied, Enthauptung, Die Kreuze
  • Teil 3: Heimweh, Gemeinheit, Parodie, Der Mondfleck, Serenade, Heimfahrt, O alter Duft.
Musikerensemble der Erstaufführung 1912: Albertine Zehme (Rezitation), Hans W. de Vries (Flöte), Karl Essberger (Klarinette), Jakob Malinjak (Geige), Hans Kindler (Cello), Eduard Steuermann (Klavier)

Die Komposition ist zwar atonal, aber noch nicht in der Zwölftontechnik notiert. Diese Technik entwickelte Schönberg in späteren Jahren.

An der Einstudierung war Hermann Scherchen beteiligt, der auch auf der Tournee durch elf deutsche und österreichische Städte einen Teil der Aufführungen dirigierte. Nach 25 Proben war die Generalprobe vor geladenem Publikum am 9. Oktober 1912 angesetzt. Die Uraufführung von Pierrot lunaire fand am 16. Oktober 1912 im Berliner Choralion-Saal statt, unter der Leitung des Komponisten und mit der Auftraggeberin Albertine Zehme als Rezitatorin, der Schönberg das Werk „in herzlicher Freundschaft“ widmete. Den Klavierpart spielte Eduard Steuermann.[3]

Die Aufführung am 24. Februar 1913 im Rudolfinum in Prag endete in einem Konzertskandal, der eine der schreckhaft-traumatischen Erfahrungen Schönbergs wurde, die der Komponist zeitlebens in Erinnerung behielt und die ihn zu späteren Garantieforderungen für ein störungsfreies Musizieren bei weiteren Pierrot-Konzerten veranlasste.[4]

Die Groß- bzw. Kleinschreibung des "lunaire" im Titel wird in Notenausgaben und auf Tonträgern unterschiedlich gehandhabt. Sowohl das Arnold Schönberg Center Wien als auch die Universal Edition listen das Werk mit Minuskel.

Rezeption

Nach Anton Weberns Eindruck war die Uraufführung ein großer Erfolg für die Aufführenden und für Schönberg. Das Werk stieß bei der Kritik auf Ablehnung, während ein Teil der Hörer, fasziniert von den neuen Klängen, mit Beifall reagierte.[5] Salka Viertel, die Schwester von Eduard Steuermann, beschreibt dieses Konzert in ihren Memoiren Das unberechenbare Herz: „Da der Flötist kahlköpfig war, flehte Frau Zehme Schönberg an, niemand außer ihr solle vom Publikum gesehen werden. Schönberg entwarf daraufhin ein ausgeklügeltes System von Wandschirmen, welches die Musiker verbarg, Frau Zehme jedoch erlaubte, seinen Taktstock zu sehen. Das Publikum begrüßte den Pierrot − in riesiger Halskrause unter dem angemalten ängstlichen Gesicht und kokett dargebotenen Beinen − mit unheilvollem Murmeln. Ich bewunderte es, wie Frau Zehme ihre Nervosität beherrschte und ohne auf das Zischen und Buhrufe zu achten, mutig ein Gedicht nach dem anderen vortrug. Es gab natürlich auch fanatischen Beifall der jüngeren Zuhörer, aber die Mehrheit des Publikums war empört.“

In Herwarth Waldens Kunstzeitschrift Der Sturm beschrieb Alfred Döblin die Uraufführung: „Das Konzert von Schönberg im Choralionsaal letzte Woche ist von einigen, der Mehrzahl der Berliner Musikkritiker zu groben Exzessen der Witzlosigkeit benutzt worden. Und man kann nicht sagen, dass die, die gar nicht schrieben, damit einen besseren Witz gemacht haben. Die Herren scheitern eben an der kleinsten Aufgabe. Sobald man sie zu einem selbständigen Urteil zwingt, versagen sie; was nicht im Trott der Konservatoriumsliteratur liegt, die einige von ihnen sicher vorzüglich gelernt haben, bleibt unverstanden. Subalterne Intelligenzen; mit der alleinigen Fähigkeit zur Pensionsberechtigung. Theoretisch ist diese Musik unangreifbar. Bleibt Schönberg. Ich habe ihn zum ersten Mal gehört. Hördauer vierzig Minuten, zu wundervollen Texten des Albert Giraud. Sie fesselt ungemein, diese Musik; es sind Klänge, Bewegungen drin, wie ich sie noch nicht gehört habe; bei manchen Liedern hatte ich den Eindruck, dass sie nur so komponiert werden können.“

Igor Strawinsky hatte die vierte Aufführung besucht und meinte sich 1936 zu erinnern, dass ihm das Stück als Rückfall in den überwunden geglaubten Beardsley-Kult vorgekommen sei, gleichwohl hatte er es seinerzeit sofort nach St. Petersburg zur Übernahme empfohlen. Schönberg erhielt von Giacomo Puccini ein Lob, während der US-amerikanische Kritiker James Huneker[6], ebenfalls bei der vierten Veranstaltung, gelitten hatte.[7]

Presseberichte von der Prager Aufführung vom 24. Februar 1913:

„Gestern hat Herr Arnold Schönberg, der vielumstrittene Neuerer, seiner Lehren auch hier verkündet. Ob mit Erfolg oder nicht, ist schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß auf einer Seite begeisterter Beifall ertönte, während auf der anderen Zischen und Pfeifen, im Kammermusik-Verein bisher unbekannt gewesene Ausdrucksmittel, in Erscheinung traten.“

Richard Batka, Prager Tagblatt[8]

„Der Kammermusikverein – sonst die Stätte für schönes Können und Gönnen – wurde gestern zur Stätte häßlich schrillen Streites. Man hat in den der Harmonie geweihten Hallen des Rudolfinums eine solche Disharmonie niemals erlebt. Als Kleinroland erschien Arnold Schönberg auf dem Platze und forderte das Publikum mit seiner Lanze heraus... In Wien hat Schönberg am letzten Sonntag ein anderes Werk, seine Gurrelieder, unter Zustimmung des gesamten Publikums aufführen lassen; kommt er auch uns mit diesen seinen besseren Sachen, wird ihm hier niemand grollen.“

Prager Abendblatt[9]

Der Musikwissenschaftler H. H. Stuckenschmidt bezeichnet Pierrot Lunaire als „eines der repräsentativsten Werke des zwanzigsten Jahrhunderts“.[10]

Filmisches Remake von Bruce LaBruce 2013

Im Jahr 2013 veröffentlichte der Filmemacher Bruce LaBruce eine Fimversion von Pierrot Lunaire (51 min), die den Stoff in einen zeitgenössischen Kontext überführt. Pierrot ist hier ein Transmann, der als solcher von Columbines Vater abgelehnt wird. Die Geschichte, die LaBruce in den Stoff einwebt, basiert auf realen Ereignissen, die sich in den späten 70er Jahren in Toronto zutrugen. Ein Transmann (bzw. eine biologische Frau, die sich als Mann kleidet und empfindet) verliebt sich in eine junge Frau, die nichts von seiner Transsexualität ahnt. Als die junge Frau ihrem Vater ihren Freund vorstellt, demaskiert dieser ihn als "nicht-männlich" und verbietet seiner Tochter den weiteren Kontakt zu ihm. Voll Wut und Rage beweist der Transmann daraufhin dem Vater und der Geliebten seine "wahre" Männlichkeit. [11]

Der Film ist wie ein Stummfilm mit Zwischentiteln angelegt, die auch die Titel der Gedichte enthalten, und ist vorwiegend schwarz-weiß gedreht. In der Tonspur ist Schönbergs Pierrot lunaire zu hören, die Schauspielerin Susanne Sachsse, die auch Pierrot verkörpert, rezitiert bzw. singt den Text. Der Film wurde in Berlin gedreht.[11]

LaBruce formuliert mit dem Film auch Gesellschaftskritik, im Film wird der Vater als "Kapitalist" bezeichnet.[12]

Eine weitere Ebene im Film ist die psychoanalytische – thematisiert werden der Kastrationskomplex und der Penisneid. Der Penis erscheint als Machtsymbol, der im Film von einer Glory-Hole-Guillotine abgeschnitten wird. Pierrot agiert in gewisser Weise gegen das Patriarchat, indem er den Penis abschneidet. Der permanent präsente Mond symbolisiert den weiblichen Anteil von Pierrot. Ein Nachtclubtänzer tritt als körperlich-männlicher Schatten von Pierrot in Erscheinung.[12]

Eine weitere Ebene ist die der Literaturzitate. LaBruce rekurriert auf Shakespeare und urbane sowie antike Mythen.[12]

Der Film Pierrot Lunaire basiert auf der Theateradaption von Schönbergs Werk, die LaBruce 2011 auf Anfrage des Dirigenten Premil Petrovic im Berliner Theater Hebbel am Ufer unter dem Titel Pierrot Lunaire: Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds ‘Pierrot lunaire’ inszenierte. Der Film enthält auch Film- und Tonaufnahmen aus dem Theaterstück. Schönbergs Stück wurde vom Construction Site New Music Ensemble interpretiert.[11] Zusätzlich ist im Film in den Nachtclubszenen Techno zu hören, der ebenso wie Schönbergs Musik eine Revolution in der Musik darstellte.[12]

Der Film wurde 2014 mit dem Teddy Award ausgezeichnet.[13]

Besetzung des Films

  • Pierrot Lunaire: Susanne Sachsse
  • Columbine: Paulina Bachmann bzw. Maria Ivanenko in der Theaterversion
  • Vater von Columbine: Boris Lisowski
  • Pierrots Schatten bzw. Nachtclubtänzer: Mehdi Berkouki bzw. Luzio Vega in der Theaterversion
  • Taxifahrer: Krisha Kumar Krishnan
  • Pole Dancer: Amit Elan, Krassen Krastev, Tony Weiss aka Anthony Weiss
  • Regie: Bruce LaBruce
  • Kamera: Ismail Necmi
  • Produzenten: Jürgen Brüning, Bruce LaBruce

Schönbergs Pierrot lunaire wurde gespielt vom Construction Site New Music Ensemble

  • Marina Nenadovic: Flöte, Piccoloflöte
  • Veljko Kelnkovski: Klarinette, Bassklarinette
  • Mirjana Neskovic: Violine, Bratsche
  • Srjdan Sretenovic: Cello
  • Neda Hoffmann: Klavier
  • Susanne Sachsse: Gesang
  • Dirigent: Premil Petrovic

DVD

  • Arnold Schönberg: Pierrot lunaire, mit einer Dokumentation von Matthias Leutzendorff und Christian Meyer. Harmonia mundi, BelAir DVD THE 10130, 2012

Literatur

  • Eberhard Freitag: Schönberg. 12. Auflg., Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, ISBN 3-499-50202-X
  • Markus Lüpertz: Pierrot Lunaire. Katalog der Ausstellung 7. Juni - 12. Juli 1986. Mit zehn Gedichten aus dem Zyklus "Pierrot Lunaire" von Albert Giraud. Reinhard Onnasch Galerie, Berlin 1986

Einzelnachweise

  1. Eberhard Freitag: Schönberg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 79.
  2. Eberhard Freitag: Schönberg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 80.
  3. Besetzung auf dem Plakat der Uraufführungsveranstaltung bei Eberhard Freitag: Schönberg. S. 83
  4. Arnold Schönberg: Sämtliche Werke, Abteilung VI Reihe B, Band 24, 1. Pierrot lunaire, op. 21, Schott Musik International, 1995. S. 279
  5. Josef Rufer: Schönberg in Berlin. In: Akademie der Künste Berlin: Arnold Schönberg. Kongreß 1974. S. 7
  6. James Huneker in der englischen Wikipedia en:James Huneker
  7. Eberhard Freitag: Schönberg. S. 83f
  8. Arnold Schönberg: Sämtliche Werke, Abteilung VI Reihe B, Band 24, 1. Pierrot lunaire, op. 21, Schott Musik International, 1995. S. 279.
  9. Arnold Schönberg: Sämtliche Werke, Abteilung VI Reihe B, Band 24, 1. Pierrot lunaire, op. 21, Schott Musik International, 1995. S. 280–281.
  10. Aspekte-Festival Salzburg 2008
  11. a b c Pierrot Lunaire, in: Film File, Programme 2014, Forum Expanded, Website der Berlinale
  12. a b c d Interview Bruce LaBruce 'Pierrot Lunaire', in: Youtubekanal des Teddy Award, Upload vom 11. Februar 2014
  13. Pierrot Lunaire, in: Website des Teddy Award