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Erpresserischer Menschenraub

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Der erpresserische Menschenraub ist ein Straftatbestand des deutschen Strafrechts. Er zählt zu den Straftaten gegen die persönliche Freiheit und ist im 18. Abschnitt des Strafgesetzbuchs in § 239a normiert.

DIe Norm enthält zwei Tatbestände, den Entführungs- und Bemächtigungstatbestand sowie den Ausnutzungstatbestand, die jeweils verschiedene Tatbestandsmerkmale besitzen. Ersterer stellt das Entführen und das Sich-Bemächtigen eines Menschen zwecks Durchführung einer Erpressung (§ 253 StGB) unter Strafe. Letzterer behandelt das Ausnutzen einer bestehenden Zwangslage eines Menschen zu einer Erpressung. Der erpresserische Menschenraub besitzt Verbrechenscharakter und wird als Offizialdelikt von Amts wegen verfolgt.

Laut Kriminalitätsstatistik wurden 2014 in Deutschland 88 Fälle von erpresserischem Menschenraub erfasst, wovon 80 aufgeklärt wurden.[1]

Entstehungsgeschichte

Der Paragraf wurde im Juni 1936 von den Nationalsozialisten als erpresserischer Kindsraub ins StGB aufgenommen.[2] Grund hierfür war die Entführung eines Kindes unter Nachahmung des Lindbergh-Falls. Danach wurde ausschließlich mit dem Tod bestraft, wer ein Kind unter 18 Jahren entführte, um dies zu einer Erpressung einer anderen Person auszunutzen.

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde der Straftatbestand in anderer Form am 4. August 1953 im Rahmen des dritten Strafrechtsänderungsgesetzes ins StGB übernommen.[3] Neben sprachlichen Veränderungen wurde die Todesstrafe, da diese unzulässig war, durch ein Mindeststrafmaß von drei Jahren ersetzt. Am 16. Dezember 1971 wurde infolge einiger aufsehenerregender Entführungsfälle der Schutzbereich der Norm auf alle Menschen erweitert und die Norm zum erpresserischen Menschenraub umbenannt. Eine weitere Änderung folgte am 16. Juni 1989. Im Zuge dessen wurde das Mindeststrafmaß auf fünf Jahre erhöht und den Anwendungsbereich der Norm erweitert. Während die bis dahin gültige Fassung ein Dreipersonenverhältnis voraussetzte, genügt in der neuen Fassung ein Zweipersonenverhältnis. Die Personenverschiedenheit zwischen Entführungs- und Erpressungsopfer wurde aufgehoben, sodass die entführte und die erpresste Person identisch sein können.[3][4] Dies führte zu einer vielfach kritisierten Überschneidung des Tatbestands des § 239a mit dem der Erpressung.[5][3]

Die letzte Änderung der Norm erfolgte im Rahmen des sechsten Strafrechtsreformgesetzes von 1998, wobei sich der Tatbestand inhaltlich nicht veränderte. Stattdessen wurden lediglich sprachliche Überarbeitungen vorgenommen.[3]

Wortlaut

Der Tatbestand des schweren Menschenraubs ist in § 239a StGB normiert. Der Wortlaut der Norm lautet seit dem 1. April 1998 wie folgt:

(1) Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Erpressung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.

(3) Verursacht der Täter durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.

(4) Das Gericht kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern, wenn der Täter das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis zurückgelangen läßt. Tritt dieser Erfolg ohne Zutun des Täters ein, so genügt sein ernsthaftes Bemühen, den Erfolg zu erreichen.

Aufgrund der Mindeststrafandrohung von fünf Jahren stellt das Delikt ein Verbrechen im Sinne von § 12 StGB dar. Der Versuch ist daher trotz fehlender expliziter Anordnung in der Norm strafbar.

Die Norm schützt mehrere Rechtsgüter. Primäres Schutzgut ist die persönliche Freiheit des Opfers. Daneben wird die Freiheit des Dritten, dessen Sorge durch eine Erpressung ausgenutzt werden soll, geschützt.[6][7] Nachrangig schützt die Norm auch das Vermögen des Erpressten.[6][8]

Tatbestand

Objektiver Tatbestand

§ 239a enthält zwei Tatbestände, die hinsichtlich des Strafmaßes gleichwertig sind.

Der erste Tatbestand ist in § 239a Absatz 1 Alternative 1 normiert und wird häufig als Entführungs- und Bemächtigungstatbestand bezeichnet. Innerhalb dieses Tatbestands kommen zwei Tathandlungen in Betracht, das Entführen und das Sich-Bemächtigen eines anderen Menschen. Eine Entführung liegt vor, wenn der Täter das Opfer durch einen Ortswechsel in eine hilflose Lage versetzt.[9][10] Eine hilflose Lage ist eine Situation, in der das Opfer dem Täter preisgegeben ist.[11][12] Diese Ortsveränderung muss vom Täter vorgenommen werden, ein bloßes Veranlassen einer Ortsveränderung genügt nicht.[13] Sie muss ferner gegen den Willen des Opfers erfolgen, ein freiwilliges Handeln des Opfers führt zum Tatbestandsausschluss.[14]

Unter Sich-Bemächtigen ist entweder die Begründung neuer oder der Missbrauch bereits bestehender physischer Gewalt über das Opfer zu verstehen.[15][13] Ein Ortswechsel ist dabei nicht erforderlich.[8] Ein Einverständnis des Opfers steht der Bemächtigung entgegen.[16] Jedoch darf dieses nicht durch eine Nötigung erzwungen oder missbräuchlich erteilt worden sein.[13]

Der zweite Tatbestand beinhaltet das Ausnutzen einer hilflose Lage eines Menschen zu einer Erpressung. Dieser Ausnutzungstatbestand ist einschlägig, wenn der Täter eine Person entführt oder sich ihrer bemächtigt, den Entschluss zu einer Erpressung aber erst später fasst. Erforderlich ist zumindest der Versuch einer Erpressung.[17][18]

Tatobjekt ist in beiden Fällen ein beliebiger anderer Mensch.[6] Das Delikt kann auch durch Unterlassen in Garantenstellung begangen werden.[19]

Subjektiver Tatbestand

Neben dem Vorsatz hinsichtlich aller objektiver Tatbestandsmerkmale erfordert der erpresserische Menschenraub die Absicht, die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung auszunutzen.[20] Das Delikt besitzt daher eine überschießende Innentendenz.[19] Die Absicht zur Erpressung muss bereits bei Begehung der Tathandlung - der Entführung oder dem Bemächtigen - vorliegen.[21] Es ist umstritten, ob statt der Erpressung auch die Absicht zur Ausnutzung zu einem Raub in Betracht kommt. Der Bundesgerichtshof (BGH) bejaht dies.[22][23]

In Zwei-Personen-Verhältnissen wird der Tatbestand restriktiv ausgelegt und um das Kriterium einer stabilen Zwangslage erweitert. Für eine stabile Zwangslage müssen Bemächtigungsakt und Nötigungsakt zeitlich auseinanderfallen, beide Akte dürfen also nicht auf einer einheitlichen Nötigung beruhen. Diese enge Auslegung ist erforderlich, da nach dem Wortlaut des § 239a jede Freiheitsberaubung mit Raubabsicht, etwa wenn der Täter sein Opfer packt und in eine dunkle Ecke zerrt, um es dort zu berauben, auch ein erpresserischer Menschenraub wäre. Dies hätte zur Folge, dass die vergleichsweise hohe Mindeststrafe des § 239a einschlägig würde, was dem geringeren Unrecht der Tat nicht gerecht werden würde.[21][19]

Wegen solcher Probleme und der schwierigen Abgrenzungsmöglichkeiten zur Geiselnahme und zum erpresserischen Menschenraub wird der § 239a StGB von der Rechtslehre kritisch betrachtet.

Privilegierung und Qualifikation

In § 239a Abs. 2 StGB wird ein minder schwerer Fall des erpresserischen Menschenraubs normiert. Er wurde vom Gesetzgeber vorgesehen, um die notwendigen Verhandlungen zwischen Entführer und Polizei nicht unnötig durch die heraufgesetzten Strafandrohungen zu erschweren. Auch der minderschwere Fall kann aber im Höchstmaß mit 15 Jahre Freiheitsstrafe belegt werden. Vom gleichen Zweck getragen ist § 239a Abs. 4 StGB, der dem Täter trotz Vollendung der Tat bei tätiger Reue eine Strafmilderung einräumt.

§ 239a Abs. 3 StGB normiert eine Erfolgsqualifikation, den erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge. Dieser setzt eine erhöhte Fahrlässigkeit (siehe § 18 StGB) hinsichtlich des Todeserfolgs, die als Leichtfertigkeit bezeichnet wird, voraus.[24] Der Tod muss unmittelbar aus einem tatspezifischen Risiko, beispielsweise einem riskanten Fluchtversuch des Opfers oder einem Befreiungseinsatz der Polizei, resultieren.[25]

Statistik

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Erfasste Fälle des erpresserischen Menschenraubs in den Jahren 1987–2015.

Das Bundeskriminalamt gibt jährlich eine Statistik über alle in Deutschland gemeldeten Straftaten heraus. Seit 1993 wird das gesamte Bundesgebiet erfasst. In den Statistiken von 1991 und 1992 wurden die alten Bundesländer und das gesamte Berlin erfasst. Frühere Statistiken erfassen lediglich die alten Bundesländer.

2015 wurden 68 Fälle von erpresserischem Menschenraub erfasst. Dies ist eine Verringerung gegenüber dem Vorjahr, in dem 88 Fälle erfasst wurden. Die Aufklärungsquote lag mit 86,8 % auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr.[26]

Polizeiliche Kriminalstatistik für gefährliche und schwere Körperverletzung in der Bundesrepublik Deutschland[26]
erfasste Fälle mit Schusswaffe
Jahr insgesamt pro 100.000 Einwohner Versuche geschossen gedroht Aufklärungsquote
1987 66 0,1 18 (27,3 %) 3 37 69,7 %
1988 50 0,1 13 (26,0 %) 3 20 74,0 %
1989 54 0,1 10 (18,5 %) 4 26 74,1 %
1990 50 0,1 21 (42,0 %) 1 16 76,0 %
1991 53 0,1 13 (24,5 %) 2 15 92,5 %
1992 80 0,1 26 (32,5 %) 1 29 73,8 %
1993 107 0,1 34 (31,8 %) 2 29 64,5 %
1994 106 0,1 30 (28,3 %) 3 23 75,5 %
1995 112 0,1 19 (17,0 %) 4 33 92,0 %
1996 126 0,2 25 (19,8 %) 4 35 86,5 %
1997 133 0,2 32 (24,1 %) 5 39 78,2 %
1998 149 0,2 29 (19,5 %) 4 43 84,6 %
1999 103 0,1 20 (19,4 %) 1 26 82,5 %
2000 90 0,1 18 (20,0 %) 1 21 83,3 %
2001 90 0,1 14 (15,6 %) 2 24 83,3 %
2002 88 0,1 15 (17,0 %) 2 25 79,5 %
2003 102 0,1 27 (26,5 %) 2 18 83,3 %
2004 94 0,1 18 (19,1 %) 1 18 85,1 %
2005 95 0,1 20 (21,1 %) 0 20 89,5 %
2006 90 0,1 22 (24,4 %) 0 27 77,8 %
2007 73 0,1 18 (24,7 %) 0 12 79,5 %
2008 71 0,1 12 (16,9 %) 1 21 85,9 %
2009 89 0,1 26 (29,2 %) 3 23 84,3 %
2010 81 0,1 15 (18,5 %) 2 15 92,6 %
2011 85 0,1 20 (23,5 %) 0 15 82,4 %
2012 82 0,1 15 (18,3 %) 0 12 74,4 %
2013 85 0,1 17 (20,0 %) 2 17 80,0 %
2014 88 0,1 21 (23,9 %) 1 15 88,6 %
2015 68 0,1 20 (29,4 %) 2 12 86,8 %

Literatur

Einzelnachweise

  1. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen PKS14.
  2. RGBl. I S. 493.
  3. a b c d Mitsch, 2015, S. 672.
  4. Wessels/Hillenkamp, 2015, S. 401.
  5. Rheinländer, 2000, S. 8.
  6. a b c Lackner/Kühl, 2014, S. 1159.
  7. Helmut Satzger: Erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB) und Geiselnahme (§ 239b StGB) im Zweipersonenverhältnis, in: Jura 2007, S. 115.
  8. a b Wessels/Hillenkamp, 2015, S. 402.
  9. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 39, S. 332.
  10. Kindhäuser, 2013, S. 157.
  11. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 24, S. 90.
  12. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 22, S. 178.
  13. a b c Kindhäuser, 2013, S. 158.
  14. Mitsch, 2015, S. 675.
  15. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 26, S. 72.
  16. BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht - Rechtsprechungsreport, 2007, S. 77.
  17. BGH, Strafverteidiger, 2007, S. 356.
  18. BGH, NJW Spezial, 2012, S. 250.
  19. a b c Lackner/Kühl, 2014, S. 1160.
  20. Wessels/Hillenkamp, 2015, S. 403.
  21. a b Kindhäuser, 2013, S. 159.
  22. BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht, 2002, S. 32.
  23. BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht, 2003, S. 604.
  24. Kindhäuser, 2013, S. 160.
  25. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 33, S. 324.
  26. a b PKS-Zeitreihen 1987 bis 2015. Bundeskriminalamt, 23. Mai 2016, abgerufen am 14. Januar 2017.