Gottesgnadentum
Das Gottesgnadentum ist eine Begründung für monarchische Herrschaftsansprüche. Der Begriff entwickelte sich aus dem lateinischen Titelzusatz Dei gratia („von Gottes Gnaden“).
Mittelalter
Byzanz

Das byzantinische Staatsdenken gründete sich in der Überzeugung, dass das universale römische Reich die von Gott eingesetzte irdische staatliche Macht in der Welt war. Die göttliche Vorsehung hatte die diesseitige Welt, der orbis, durch den Kaiser Augustus zu diesem Weltreich zusammengefasst und so die Sicherung des höchsten irdischen Gutes, des Friedens und der Kultur, in die Hand eines einzigen gelegt. Dies geschah, um die Botschaft des wahren Friedens und der wahren Kultur, die zu dieser Zeit Christus der Menschheit brachte, verbreitet werden konnte. Zudem basierte es auf der Tatsache, dass das Byzantinische Reich als Nachfolger des oströmischen Reiches ununterbrochen die Tradition dieses augustinischen Weltreiches fortführte und dessen Universalitätsanspruch aufrechterhielt. Das römische Reich hatte sich nach dem Untergang des weströmischen Staates 476 nach Osten verlagert. Die fortschreitende Gräzisierung seit dem 7. Jh. ließ es zu einem Reich der Griechen werden. Der römische Staatsgedanke blieb jedoch wesensbestimmend. Da sich Byzanz als Fortführung des Imperium Romanum fühlte, war derjenige, der zum römischen Reich gehört, Römer im Sinne des Reichsbürgergesetzes des Caracalla von 212, wer außerhalb des römischen Reiches stand, also die Angehörigen der „Völker“, waren Barbaren. Die römische Tradition war verbunden mit der christlichen Religion, dem Glauben an die Erlösung durch Christus und seine Wiederkunft am Ende der Zeiten. Die Universalität des römischen Reiches unter Christus war völkerunabhängig. Die politische Vorstellungswelt der Byzantiner beruhte nicht auf Philosophemen und Theoremen, sondern vorrangig auf diesen einen Glauben, der Jenseits und Diesseits, Religiöses und Weltliches verband. Konstantin der Große hatte das christliche Weltreich geschaffen, in dem er die grundlegenden Auffassungen des Christentums mit dem römischen Weltreichs- und Weltkaisergedanken verband. Damit hatte die Welt ihre endgültige und gottgewollte Ordnung, das römische Reich sollte die Menschheit in dem einem christlichen Glauben und einem Reiche bis zur Wiederkunft Christi für immer vereinigen. Römische und christliche Züge verbanden sich endgültig unter Theodosius I. Im Zuge dessen hatte sich eine neue, spezifisch christlich-römische Kaiseridee gebildet. Der Gottkaiser der Antike war zum christlichen Kaiser von Gottes Gnaden geworden. Der Basileus galt als Stellvertreter Christi auf Erden bis zum Jüngsten Gericht und war daher über alles Irdische erhaben. Der Kaiser ist der einzige vor Gott für die Verwaltung des Reiches Christi auf Erden Verantwortliche. Er ist Mittler zwischen Christus und der Menschheit. An der Spitze des Reiches stehend, vereinte er die ganze Fülle der irdischen Macht in sich. Er musste aber auch die große Verantwortung übernehmen, für Erhaltung von Frieden und Recht sowie Erhaltung und Mehrung des Reiches zu sorgen. Zudem sollte er die Bekämpfung der Barbaren vorantreiben und die Einheit des Glaubens bewahren, denn die byzantinische Reichsidee kennt keine Gewaltenteilung zwischen Staat und Kirche. Der Kaiser ist auch oberster Herr der Kirche. Ebenso ist er oberster Heerführer und Herr des Rechts, also oberster Richter und Gesetzgeber. Der Überzeugung, dass der Basileus alleiniger Stellvertreter des einen wahren Glaubens auf Erden war, machte es Byzanz natürlich unmöglich, einen weiteren Kaiser auf der Welt anzuerkennen. Wenn sich also Barbarenfürsten, auch die Franken, ohne Akklamation und Zustimmung des römischen Kaisers in Konstantinopel Kaiser nannten, so bedeutete dies für Byzanz Usurpation eines den Barbaren nicht zustehenden Titels und eine Verletzung des römischen Staatsrechts. Die Einsetzung von Barbaren-Kaisern durch den Papst war für Byzanz vollkommen unzulässig. Die byzantinische Staatstheorie bewertete die westlichen Initiativen zu allen Zeiten als Usurpationen.
Karolinger und Ottonen
Das Konzept des Gottesgnadentums hat seinen Ausgangspunkt bei den karolingischen Königen des Frankenreichs. Deren Vorgänger aus der Dynastie der Merowinger gründeten ihren Herrschaftsanspruch noch allein auf das Geblütsrecht und das Königsheil, das vom rechtmäßigen König auf seine leiblichen Nachkommen übertragen wurde. Pippin der Jüngere, der erste Karolinger auf dem fränkischen Thron, der seinen merowingischen Vorgänger abgesetzt hatte, benötigte daher eine neue Herrschaftslegitimation. Er holte die Zustimmung des Papstes zum Dynastiewechsel ein und ließ sich im Jahre 754 in einer sakralen Krönungszeremonie nach dem Vorbild der biblischen Herrscher Israels zum König salben. Seit dieser Salbung, einer Neuerung im Akt der der Königserhebung, enthalten die fränkischen Königsurkunden die Formel Dei gratia.
Die Vorstellung von einer durch göttliche Gnade verliehenen Herrschaft fußt auf dem spätantiken christlichen Königsbild des rex iustus, des „gerechten Königs“, das auf Augustinus von Hippo (De civitate Dei) zurückgeht.[1] Die durch Pippin begründete fränkischen Tradition wurde von seinem Sohn, Karl dem Großen fortgeführt. Insbesondere nach seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 sah er seine Herrschaft – auf der Basis antiker und christlicher Vorstellungen – durch göttliches Recht legitimiert. Davon zeugen Titulaturen wie a deo coronatus imperator, „von Gott gekrönter Kaiser“. Karl verstand sein Reich als eine Einheit von Staat, Kirche und Religion.
Otto I. ließ 936, im Jahr seiner Thronbesteigung, die Formel Dei Gratia in das ostfränkische Königssiegel einfügen. In der um das Jahr 1000 geschaffenen Reichskrone des Heiligen Römischen Reichs verweist der alttestamentliche Sinnspruch Per me reges regnant „Durch mich regieren die Könige“ (Buch der Sprichwörter 8,15) auf das Gottesgnadentum ihrer Träger. Auch im Krönungseid der deutschen Könige klang die Überzeugung vom Gottesgnadentum an. Er beginnt mit der Formel „Nos divina favente clementia rex Romanorum [...]“ – „Wir, durch die Gunst der göttlichen Gnade König der Römer [...]“.
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Sakramentar Karls des Kahlen, um 870: Gottes Hand hält die Krone über das Haupt Karls des Kahlen
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Liuthar-Evangeliar, um 1000: Darstellung des Gottesgnadentums Kaiser Ottos III.
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Perikopenbuch Heinrichs II.: Christus selbst verleiht Heinrich II. und seiner Gemahlin Kunigunde die Königswürde
Das christlich fundierte Legitimationskonzept des Gottesgnadentums erwies sich als überzeugender als die schon in vorchristlicher Zeit bei den Germanen nachweisbare Idee des Königsheils. Die Idee des Gottesgnadentums ließ dieses allmählich in den Hintergrund treten, auch wenn sich die pagane Vorstellung von den besonderen Heilkräften, die die Götter dem legitimen König verliehen, nie ganz verloren. In der Vorstellungswelt der römischen Antike hatten die Kaiser zu Lebzeiten die Rolle eines Pontifex Maximus, also die Rolle eines Mittlers zwischen den Göttern und den Menschen; nach dem Tode konnten sie aufgrund des Kaiserkultes selbst zu Göttern (Divi) aufsteigen (Apotheose).
Salier und Staufer
Salische und staufische Kaiser des Heiligen Römischen Reichs versuchten die christliche Vorstellung, dass der Herrscher von Gott über seine Untertanen eingesetzt sei, zur Begründung der Auffassung zu nutzen, dass der weltliche Herrscher gegenüber dem Papst über einen eigenständigen Herrschaftsanspruch verfüge (Zweigewaltenlehre).[2]
Das Gottesgnadentum wird im Neuen Testament konkretisiert. Der Brief des Paulus an die Römer (Röm 13,1–7, Pflichten gegenüber dem Staat EU) erläutert die christliche Vorstellung, dass jede staatliche Gewalt von Gott verliehen und Widerstand gegen diese Gewalt ein Verstoß gegen den Willen Gottes sei:
„Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen.“
Neuzeit
Luther und der Absolutismus
In seiner 1525 verfassten Schrift Wider die Mordischen und Reuberischen Rotten der Bawren rechtfertigte Martin Luther das gewaltsame Vorgehen der Fürsten gegen die Bauern, die sich im Deutschen Bauernkrieg erhoben hatten und bestimmte Freiheitsrechte einforderten, mit dem im Römerbrief verbürgten Gottesgnadentum der Fürsten. Im gleichen Jahr legte Luther in der Schrift De servo arbitrio dar, dass der Mensch gegen die von der Gnade Gottes vorgesehenen Herrschaftsverhältnisse nicht aufbegehren dürfe, denn dies widerspräche der Prädestination.
Damit lieferte Luther eine Grundlage für das Herrschaftsverständnis des Absolutismus: Aufgrund des Gottesgnadentums sei ein Herrscher weder absetzbar noch in einer anderen Weise an der Ausübung seiner Regentschaft zu hindern. Dieses Herrschaftsverständnis war in Europa bis in die Zeit der Französischen Revolution maßgebend. Prominente Vertreter waren etwa die Bourbonen in Frankreich, das Erzhaus Habsburg oder die russischen Zaren.
England
In England rang das Parlament in einer jahrzehntelangen Entwicklung dem Königtum Befugnisse ab, bevor es sich in der Glorious Revolution von 1688/89 mit der Bill of Rights zum Träger der Staatssouveränität machen konnte (siehe Parlamentarismus, Parlamentssouveränität).
Vereinigte Staaten von Amerika
in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776) wurde das monarchische Gottesgnadentum mit der von Thomas Jefferson verfassten Formel all men are created equal („Alle Menschen sind gleich erschaffen“) negiert. Denselben Gedanken hatte 1776 schon Thomas Paine in der Schrift Common Sense vertreten. Er beruht etwa auf der im 1. Buch Mose beschriebenen Gleichheit der ersten Menschen und findet sich in der naturrechtlich argumentierenden Staatsphilosophie John Lockes. Die Sklaverei in den Vereinigten Staaten widersprach allerdings dem Gleichheitssatz. Auch Rassismus ist mit dem Gleichheitssatz unvereinbar.
Deutscher Bund und Deutsches Reich

Der Romantiker und Protestant Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, dem die deutschen Volksvertreter mit der Paulskirchenverfassung 1849 ein deutsches Erbkaisertum antrugen, lehnte ab, weil die Rolle des Monarchen von der Idee des Gottesgnadentums bestimmt sei. Ein demokratisch legitimierter Kaiser, der über einem souveränen Volk thront – solche aufgeklärten Gedanken wies Friedrich Wilhelm zurück und trug damit zum Scheitern der bürgerlich-demokratischen und nationalen Bestrebungen der Märzrevolution in Deutschland bei. Teilweise haben die Fürsten der Zeit den Zusatz V.G.G. für „von Gottes Gnaden“ auf Umschriften ihrer Münzen ergänzt, um die Behauptung eines Gottesgnadentums zu unterstreichen. Der Wegfall des Zusatzes V.G.G. auf einem Taler des Königreichs Hannover im Revolutionsjahr 1848 führte dazu, dass dieser vom Volksmund als „Angsttaler“ bezeichnet wurde.
König Ludwig II. von Bayern griff noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die voraufklärerische Vorstellung vom Gottesgnadentum zurück, als er im Schloss Neuschwanstein den Thronsaal nach der Form einer byzantinischen Kirche errichten ließ und anstelle eines Altars einen Thron setzen wollte, der jedoch nie fertiggestellt wurde.
Das letzte deutsche Staatsoberhaupt, das sich auf das Gottesgnadentum berief, war Wilhelm II. Sein imperialer Wahlspruch lautete Gott mit uns.
Gegenwart
Als Titel in konstitutionellen Monarchien
Die Monarchen von Dänemark, Liechtenstein, Monaco und des Vereinigten Königreichs führen in ihrem großen Titel bis heute den Zusatz „von Gottes Gnaden“. Eine mehr als zeremonielle Rolle spielt dieser Titel allerdings nicht mehr, da die Politik aller dieser Länder vorwiegend von gewählten Parlamenten und Regierungen bestimmt wird.
Nach Artikel 56 der spanischen Verfassung von 1978 wird der spanische König zwar einfach als Rey de España bezeichnet, doch ebenso wird ihm das Recht zugestanden, alle traditionellen Titel der Krone weiter zu führen (podrá utilizar los demás que correspondan a la Corona). So ist auch der König von Spanien ein König „von Gottes Gnaden“. Der Titel des spanischen Diktators Francisco Franco war bis zu seinem Tod „Führer Spaniens von Gottes Gnaden“.
Auch gegenwärtig prangt auf den britischen Münzen der Zusatz D.G. (für: Dei Gratia) hinter dem Namen von Königin Elisabeth II.
Bewertung
Im Zeitalter der konstitutionellen Monarchien ist zu unterscheiden zwischen der Legitimation eines absoluten Herrschers und der Frage, wer das Staatsoberhaupt eingesetzt hat. Ein gläubiger Monarch, der seine Stellung der Erbfolge verdankt, versteht sein Amt als „von Gott“ gegeben. Diese Auffassung von Legitimität im Sinn der rechtmäßigen Erbfolge war in der Zeit der Restauration nach den napoleonischen Umwälzungen maßgeblich für die Wiedereinsetzung der alten Dynastien.
Nach Ricarda Huch ist Gottesgnadentum keine Rechtfertigung für eine absolutistische Macht „von oben nach unten“, abgeleitet etwa aus deistischen Gottesvorstellungen. Im Heiligen Römischen Reich hätten die Fürsten ihre Interpretation des Römerbriefs und des Gottesgnadentums dazu genutzt, ihre Macht gegen Kaiser, andere Stände und die Bevölkerung absolutistisch auszuweiten.[3] Ausweislich der Hiskija-Bildplatte in der ottonischen Reichskrone ist das Gottesgnadentum auch oder insbesondere als ein Zeitgeschenk Gottes zu verstehen: Ecce adiciam super dies tuos XV annos – „Wohlan, ich will zu deinen Lebensjahren noch 15 Jahre hinzufügen“ (Jesaja 38,5).
Einzelnachweise
- ↑ Karl Bosl: Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter. In: Paul Wilpert, Willehad P. Eckert (Hrsg.): Antike und Orient im Mittelalter. Vorträge der Kölner Mediaevistentagungen 1956–1959. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1962, ISBN 3-11-002395-4, S. 13 (online)
- ↑ Björn Riecken: Gottesgnadentum ( vom 11. November 2010 im Internet Archive), Artikel im Glossar Christliche Legitimation von Herrschaft mit weiteren Literaturhinweisen, abgerufen am 29. März 2012
- ↑ Vgl. die Kritik von Ricarda Huch an den deistischen und absolutistischen Vorstellungen der Fürsten in: dies.: Stein. Der Erwecker des Reichsgedankens, Berlin: Atlantis 1925, 3. Auflage 1932, S. 9-16 (Auszüge online auf pkgodzik.de; PDF; 74 kB)
Literatur
- Thomas Benner: Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898. Tectum-Verlag, Marburg 2001, ISBN 3-8288-8227-7 (Zugleich: Leipzig, Universität, Habilitations-Schrift, 2001).
- Thomas Buske: Von Gottes Gnaden. Könige und alle Menschen Preußen ein Paradigma. Schmidt, Neustadt a.d. Aisch 2000, ISBN 3-87707-544-4.
- Georg Flor: Gottesgnadentum und Herrschergnade. Über menschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht (= Bundesanzeiger. Beilage 43, 119a). Bundesanzeiger, Köln 1991, ISBN 3-88784-287-1.
- Fritz Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 7. Auflage, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1954. Darmstadt 1980, ISBN 3-534-00129-X.