Freiwirtschaft
Freiwirtschaft ist eine Wirtschaftstheorie nach Silvio Gesell mit dem Ziel stabiler Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit. Dies soll erreicht werden durch die Schaffung einer Wirtschaftsordnung ohne Geldzins und Bodenrente in Privathand, auch Natürliche Wirtschaftsordnung (NWO) genannt. Geldzins und Bodenrente bewirken nach freiwirtschaftlicher Auffassung einen ungerechten und sich ständig verstärkenden Umverteilungsprozess von Vermögen von den Ärmeren zu den Reicheren. Verwirklicht werden soll das Ziel durch die Einführung eines Geldes mit gesichertem Umlauf, Freigeld genannt, und durch Überführung des Bodens in Gemeinschaftseigentum mit zugleich privater Nutzung gegen Entrichtung ständiger Nutzungsabgaben an die Gemeinschaft, bezeichnet als Freiland. Mit diesen Maßnahmen würde der Geldzins sinken und im Durchschnitt schließlich um Null herum pendeln, und die Bodenrente, die systemisch nicht zu beseitigen ist, laufend an die Gemeinschaft abgeführt werden. Freiwirtschaft beabsichtigt eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus.
Der Ausdruck Natürliche Wirtschaftsordnung geht zurück auf Gesells Hauptwerk Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld von 1916.
Ideengeschichte
Silvio Gesell entwickelte seine Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und veröffentlichte seine wichtigsten Thesen erstmals im Jahre 1916 in dem Buch "Die natürliche Wirtschaftsordnung". Die Freiwirtschaftslehre distanziert sich dabei sowohl vom Kapitalismus als auch vom Sozialismus. Damit ähnelt die Freiwirtschaft sehr dem Wirtschaftsmodell, das Rudolf Steiner in seiner "Dreigliederung des sozialen Organismus" fordert ("Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben"). Obwohl sich Rudolf Steiner explizit gegen die Geldreformvorstellungen Gesells wandte, ähneln sich die Vorstellungen hinsichtlich eines "neutralen Geldes". Es gab deshalb auch immer Berührungspunkte, auch personeller Art, zwischen den beiden Bewegungen.
Die Nationalsozialisten griffen anfangs einige Schlagworte der Zinskritik auf und propagierten etwa die "Brechung der Zinsknechtschaft", allerdings nicht als grundsätzliche Kritik des Geldsystems, sondern gegen das Judentum gerichtet. Die nationalsozialistische Wirtschafts- und Geldpolitik in Deutschland zeigte keinerlei freiwirtschaftlichen Elemente.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Freiwirtschaft als mögliche Grundlage einer neuen Wirtschaftsordnung intensiv diskutiert. Im Jahre 1949 startete die Schweizer Freigeldbewegung eine Volksinitiative 'zur Sicherstellung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung (Freigeldinitiative)'. Diese Initiative wurde durch die Volksabstimmung vom 15. April 1951 abgelehnt, stattdessen befürworteten die Wähler den Gegenentwurf der Bundesregierung.
Die Freiwirtschaftslehre wird von der universitären Wirtschaftswissenschaft und den Vertretern moderner Wirtschaftstheorien weitgehend ignoriert bzw. inhaltlich abgelehnt.
Grundlagen der Freiwirtschaft
Hauptziel
Hauptziel der Freiwirtschaft ist eine von Monopolen, Bodenrente und Geldzins befreite Marktwirtschaft. Bodenrente und Geldzins werden von der Freiwirtschaft als "arbeitslose Einkommen" angesehen, für welche die empfangsberechtigten Boden- und Kapitaleigentümer keine Arbeitsleistung aufwenden müssen. Diese Tatsache wird als ungerechte Bereicherung auf Kosten von Arbeitenden verstanden. Nach freiwirtschaftlichen Beispielrechnungen müssen heute rund 30 % der Preise, Mieten und Steuern von den Verbrauchern zur Deckung von Renten- und Zinsforderungen aufgewendet werden. Dementsprechend strebt die Freiwirtschaft in erster Linie eine Bodenreform und eine Geldreform an, um Bodenrente und Geldzins der Allgemeinheit zuzuführen. Dadurch sollen vor allem eine Absenkung des allgemeinen Zinsniveaus, aber auch eine größere Stabilität der Wirtschaft erreicht werden. Neuere freiwirtschaftliche Strömungen lehnen auch Konzepte des geistigen Eigentums zu weiten Teilen ab, besonders das Patentrecht, da es wie beim Landbesitz zu einem arbeitslosen Einkommen auf Kosten der schaffenden komme, und solcherartiges geistiges Eigentum kein beliebig vermehrbares Gut sei.
Die Freiwirtschaft hat ursprünglich keine ökologische Zielsetzung. Jedoch zeigen Berechnungen, dass die Absenkung des Zinsniveaus die Energiegewinnung aus erneuerbaren Energieträgern verbilligen würde, weil der dafür erforderliche hohe Einsatz von Sachkapital weniger teuer sein würde.
Menschenbild der Freiwirtschaft
Die Freiwirtschaftslehre achtet die Kreativität, die Initiative und den Einsatz des Einzelmenschen als Triebfeder des Wirtschaftens. Zur Entfaltung dieser Eigenheiten muss ihm eine gebührende Freiheit zugebilligt werden und gewährleistet sein. Dem gegenüber stehen die Bedürfnisse der Mitmenschen, der menschlichen Gemeinschaft als Ganzes wie auch der Natur, in welche der Einzelne eingebunden und von denen er abhängig ist und die er deshalb zu achten hat. Beide Bereiche – das Bedürfnis nach Freiheit und das Bedürfnis nach Bindung – sind zueinander gegensätzlich und müssen miteinander im Gleichgewicht stehen, wenn eine friedliche und harmonische Lebensgestaltung möglich sein soll. Daher kann aus Sicht der Freiwirtschaftslehre weder der Liberalismus und Neoliberalismus mit ihrem Kapitalismus, welche auf die Freiheit des Einzelnen und die Vorherrschaft des Privateigentums setzen, noch der Sozialismus, der die Gleichheit der Menschen betont und zugleich auf zentrale Lenkung vertraut, die bis zur Abschaffung des Privateigentums gehen kann, eine befriedigende Gesellschaftsordnung darstellen. Zwischen beiden Extremen will Freiwirtschaft durch die Anwendung ihrer Grundsätze das erforderliche Gleichgewicht herstellen. Sie befürwortet dabei Privateigentum an den von Einzelnen oder Menschengruppen geschaffenen Gütern, lehnt es jedoch am Boden und an Gemeinschaftsleistungen ab.
Ethische Grundsätze
Die Ziele der Freiwirtschaft folgen zwei ethischen Grundsätzen.
- Wer innerhalb einer Gemeinschaft einen wirtschaftlichen Vorteil genießt, soll ihr dafür eine angemessene Gegenleistung erbringen.
- Wo dieser Grundsatz nicht erfüllt ist, sind Wirtschaft und Gesellschaft nicht im Gleichgewicht. Er ist anzuwenden auf das Geld, das seinem Besitzer den Vorteil der Zahlungsfähigkeit und der Auswahl verschafft, ohne dass es ihn etwas kostet. Hier gilt Geld als ein von der Gesellschaft zur Verfügung gestelltes rechtliches Verkehrsmittel der Wirtschaft.
- Von der Natur und der Gesellschaft geschaffene Werte dürfen nicht Privateigentum sein, sollen jedoch gegen regelmäßiges angemessenes Entgelt an die Gemeinschaft der privaten Nutzung zur Verfügung stehen.
- Dieser Grundsatz ist anzuwenden auf Boden und Naturschätze, zu denen auch Wasser und die Luft gehören. Wo er nicht beachtet wird, bestehen nicht zu rechtfertigende Vorrechte der Privateigentümer. „Rechtfertigen“ heißt in diesem Zusammenhang, dass der Zahlung an einen Empfänger, um gerechtfertigt zu sein, eine angemessene Gegenleistung dieses Empfängers gegenüber stehen muss oder ein Verlust, den er nicht selbst zu verantworten hat.
Aufgabe des Staates ist es nach freiwirtschaftlicher Auffassung unter anderem, diese Grundsätze gesetzlich zu verankern und auf ihre Einhaltung zu achten. Damit sollten sich die Ziele der Französischen Revolution von 1789 – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – verknüpfen lassen zu dem umfassenden Gesamtziel Gleiche Freiheit für alle!, um die Kluft zwischen Menschen mit Bedarf ohne Geld und Menschen mit Geld ohne Bedarf zu überwinden und Chancengleichheit herzustellen. Diese Chancengleichheit ist die Voraussetzung, um die heute in fortgeschrittenen Ländern bestehende politische Demokratie (allgemeines, freies, gleiches, direktes und geheimes Wahl- und Stimmrecht) durch eine wirtschaftliche Demokratie der Güterverteilung zu ergänzen und ihr so erst den nötigen Unterbau zu verschaffen.
Wirtschaftliche Grundsätze
Die Freiwirtschaftslehre erkennt nur die menschliche Arbeit als Produktionsfaktor an. Die beiden anderen in der offiziellen Wirtschaftwissenschaft anerkannten Produkionsfaktoren Boden und Kapital sieht sie lediglich als Hilfsfaktoren zur Unterstützung der Arbeit und zur Steigerung ihrer Produktivität. Beide allein können nur unter Einsatz menschlicher Arbeit einen Ertrag abwerfen. Daher sind aus freiwirtschaftlicher Sicht nur der Arbeitslohn, nicht aber Bodenrente und Geldzins in privater Hand gerechtfertigt.
Reformbestrebungen
Geldreform
Die bestehende Geldordnung und ihre Nachteile
Das heutige Geld erfüllt gleichzeitig drei Geldfunktionen: eine Zahlungsfunktion, eine Wertmessfunktion und eine Wertaufbewahrungsfunktion. Die Wertaufbewahrungsfunktion ermöglicht dem Geldbesitzer, selbst über den Zeitpunkt des Geldausgebens zu entscheiden und verleiht Geldbesitzern nach freiwirtschaftlicher Auffassung eine wirtschaftliche Vormachtstellung in der Gesellschaft. Diese wirkt sich nach freiwirtschaftlicher Sicht in einer marktmäßigen Überlegenheit der Geldbesitzer über die Anbieter von Arbeitskraft und Waren aus. Geld könne von den Geldbesitzern prinzipiell ohne Nachteile vom Wirtschaftskreislauf zurückgehalten, gehortet werden.
Unter Geld werden hier die flüssigen Zahlungsmittel verstanden, die unmittelbar zum Zahlen geeignet sind, also Bargeld und Bankguthaben mit Überweisungsmöglichkeit. Kurz- und langfristige Anlagen, also auch reine Spargelder fallen nicht darunter, zum Teil jedoch Konten mit Mischcharakter, die sowohl als Spar- wie auch als Zahlungskonten geführt werden. Horten von Buchgeld bedeutet das Umlagern von Geld in kurzfristig verfügbare Anlagen wie Festgeld, gelegentlich Parken genannt. Es findet dann statt, wenn das Zinsniveau unter ein Maß absinkt, das Geldanlegern zu niedrig erscheint. Horten ist es dagegen nicht, wenn Geld längerfristig angelegt wird und somit für Kredite zur Verfügung steht. Die Freiwirtschaft unterscheidet ebenso wie die neoklassische Theorie zwischen Fremdkapitalkosten (Zins) und Eigenkapitalkosten und Übergewinn (Gewinn nach Zinsen), während der Marxismus diese Unterscheidung nicht kennt und beides unter dem Begriff Mehrwert zusammenfasst.
Im politischen Bereich werden die Freiwirtschaftler von den Linken misstrauisch als rechtsstehend betrachtet, von den Rechten dagegen als linksstehend abgelehnt. Dagegen sehen sich die Vertreter der Freiwirtschaft aufgrund ihrer angeblich tieferen Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge, die zur wünschenswerten Überbrückung der Gegensätze führen könne, als politisch in der Mitte stehend und versuchen dies teilweise auch durch ihre Namensgebung zu verdeutlichen. Dies kommt in Wörtern wie liberalsozial, liberalsozialistisch, sozial-liberal oder freisozial zum Ausdruck.
Siehe auch
- Johannes Ude, katholischer Priester und Theologieprofessor, Anhänger der Freiwirtschaftslehre und Verfolgter des Naziregimes
Literatur
- Gesell, Silvio: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld
- Creutz, Helmut: Das Geld-Syndrom - Wege zu einer krisenfreien Wirtschaftsordnung
- Huber, Joseph: Vollgeld. Beschäftigung, Grundeinkommen und weniger Staatsquote durch eine modernisierte Geldordnung, Berlin, Duncker & Humblot, 1998
- Kennedy, Margrit: Geld ohne Zinsen und Inflation (ISBN 3-44212-341-0)
- Lietaer, Bernhard A.: Das Geld der Zukunft
- Onken, Werner: Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Leben und Werk (ISBN 3-87998-439-5)
- Rost, Norbert: Experimentelle Überprüfung der Aussagen der Freiwirtschaftstheorie. (Diplomarbeit, 2003) (PDF zum Download)
- Senf, Bernd: Der Nebel um das Geld. Zinsproblematik – Währungssysteme – Wirtschaftskrisen. Ein Aufklärungsbuch (7. Auflage 2004) (ISBN 3-87998-435-2)
- Senf, Bernd: Die blinden Flecken der Ökonomie – Wirtschaftstheorie in der Krise. dtv
- Suhr, Dieter: Geld ohne Mehrwert – Entlastung der Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten. Fritz Knapp Verlag, Frankfurt/Main, 1983
- Suhr, Dieter: Optimale Liquidität – Eine liquiditätstheoretische Analyse und ein kreditwirtschaftliches Wettbewerbskonzept. (zusammen mit Hugo Godschalk). Fritz Knapp Verlag, Frankfurt/Main, 1986
- Werner, Hans-Joachim: Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung – 100 Jahre Kampf für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. ISBN 3893250220
- Wirth, Roland: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus – Eine Neubewertung der Freiwirtschaftslehre aus wirtschaftsethischer Sicht (St. Gallen 2003) (ISBN 3-258-06683-3)
Weblinks
- Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung, ein Deutsch/Schweizer Verein, der die Einfuehrung von Freiwirtschaft zum Ziel hat
- ein Netzwerk von Regiogeld-Systemen
- Umfangreiche Materialiensammlung
- Joseph Huber: Reform der Geldschöpfung - Wiederherstellung des staatlichen Geldregals durch Vollgeld
- Freiwirtschaft ORGanized-Wiki
- systemfehler.de Archiv
- Dieter Suhr: Geld ohne Mehrwert
- Silvio Gesell, Tauschtheoretiker, Kaufmann, Kredittheoretiker, Freigeldtheoretiker von Ernst Dorfner
- Kritik der freiwirtschaftlichen Geld- und Zinstheorie
- Politische Ökonomie des Antisemitismus (1995) - von Robert Kurz
- Warum eine Freiwirtschafts-Sammlung in einer anarchistischen Bibliothek? Zum Verhältnis von Anarchismus und Freiwirtschaft - von Markus Henning
- Die Irrtümer der Freiwirtschaft - Liberale Kritik