Orakel von Delphi
Das Orakel von Delphi war eine berühmte griechische Pilger- und Weissagungsstätte des antiken Griechenlands in Phokis.
Es war die wichtigste Kultstätte der hellenistischen Welt. Sie galt lange Zeit sogar als Mittelpunkt der Welt. Der genaue Ort wurde durch den Omphalos angezeigt.
Mythologie
Dem Mythos zufolge ließ Zeus zwei Adler von je einem Ende der Welt fliegen, die sich in Delphi trafen. Seither habe dieser Ort als Mittelpunkt der Welt gegolten.
Die Erdmutter Gaia vereinigte sich mit dem Schlamm, der nach dem Ende des Goldenen Zeitalters von der Welt übrig blieb, und gebar die geflügelte Schlange Python (auch oft als „Drache“ bezeichnet). Python hatte hellseherische Fähigkeiten und lebte an dem Ort, der später Delphi heißen sollte.
Hera, die Frau des Zeus, war eine Enkelin Gaias. Gaia prophezeite ihrer eifersüchtigen Enkelin, dass Leto, ihre Nebenbuhlerin und eine der Geliebten Zeus', dereinst Zwillinge gebären würde, die größer und stärker als alle ihre Kinder seien. So schickte sie Python los, um Leto zu verschlingen, noch bevor diese ihre Kinder zur Welt bringen konnte. Diese Intrige wurde von Zeus verhindert, und Leto gebar Artemis und Apollon.
Eine der ersten Taten Apollons war die Rache an Python für den Anschlag auf seine Mutter. Er stellte Python bei Delphi und tötete sie. Durch das vergossene Blut Pythons übertrugen sich deren hellseherischen Fähigkeiten auf den Ort. So wurde Delphi der Kontrolle Gaias entrissen und befand sich fortan unter dem Schutze Apollons.
Geschichte

Der Kult in Delphi, das bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. Pytho hieß, war dem Apollon geweiht, wobei ursprünglich allerdings die Erdgöttin Gaia verehrt worden war. Der genaue Zeitpunkt der Übernahme des Heiligtums durch Apollon ist nicht mehr feststellbar, doch bereits bei Homer wird von einem Apollonkult in Delphi gesprochen. Funde zeigen einen Aufstieg des Heiligtums ab dem 8. Jahrhundert v. Chr.
Auf kultische Verehrung der Gaia ist es zurückzuführen, dass Apollon nicht durch einen Priester, sondern durch die Pythia sprach. Diese saß auf einem Dreifuß über einer Erdspalte. Dem Mythos nach stiegen aus dieser Erdspalte Dämpfe, die die Pythia in einen Trancezustand versetzten. Frühe geologische Untersuchungen ließen es zunächst zweifelhaft erschienen, dass in Delphi echte Gase aus der Erde austraten. Es wurde daher angenommen, dass der Mythos aus einem spirituellen Hauch physikalische Gase gemacht hat. Neue Forschungen des amerikanischen Geologen Jelle de Boer von der Wesleyan University (Connecticut) 2004 konnten nach umfangreichen Laboranalysen plausibel belegen, dass in Delphi das Gas Ethylen die Trance der Priesterin bewirkt haben könnte.
Das Ende des Delphischen Orakels kam durch den christlichen Kaiser Theodosius I., der um 390 n. Chr. die Orakelstätte aufhob.
Ablauf des Orakels
Das Orakel von Delphi sprach zunächst nur einmal im Jahr am Geburtstag des Apollon, dem siebenten Tag des Monats Bysios, später am siebten Tag jeden Monats im Sommer. Im Winter legte es für drei Monate eine Pause ein. Nach griechischer Vorstellung hielt sich der Gott in dieser Zeit bei den Hyperboreern auf, einem sagenumwobenen Volk im Norden. Das Orakel wurde währenddessen von Dionysos regiert. Bevor das Orakel sprach, bedurfte es eines Omens: Ein Oberpriester besprengte eine junge Ziege mit eisigem Wasser. Blieb sie ruhig, fiel das Orakel für diesen Tag aus, und die Ratsuchenden mussten einen Monat später wiederkommen. Zuckte sie zusammen, wurde sie als Opfertier geschlachtet und auf dem Altar verbrannt. Nun konnten die Weissagungen beginnen. Begleitet von zwei Priestern begab sich die Pythia zur heiligen Quelle Kastalia, wo sie nackt ein Bad nahm, um kultisch rein zu sein. Aus einer zweiten Quelle, der Kassiotis, trank sie dann einige Schlucke heiligen Wassers. Begleitet von zwei Oberpriestern und den Mitgliedern des Fünfmännerrates ging die Pythia anschließend in den Apollontempel. Sie wurde nun vor den Altar der Hestia geführt, wo aus einer Erdspalte die berauschenden Ethylen-Dämpfe aufstiegen. Die Aussage der Pythia wurde von den Priestern gedeutet und formuliert. Die endgültige Antwort hatte aber nichts mit der Pythia zu tun, sondern basierte auf den Erkenntnissen der Priesterschaft, die überall in Griechenland ihre Informanten hatten und damit zu den bestinformierten Leute im antiken Griechenland gehörten. Allerdings wurden nur die begüterten Klienten individuell beraten und bekamen ausführliche, wenn auch oft rätselhafte Antworten. Die Ärmeren mussten mit einem Binärorakel (Ja-Nein-Orakel) vorlieb nehmen. Sie durften deshalb auch nur solche Fragen stellen, die sich mit Ja oder Nein beantworten ließen. Die Pythia griff dann in einen Behälter mit weißen und schwarzen Bohnen und nahm eine von ihnen heraus: Weiß bedeutete Ja, Schwarz Nein.
Berühmte Delphische Orakelsprüche

Ödipus
Der Legende nach prophezeite das Orakel von Delphi dem König von Theben, Laios, dass sein Sohn ihn dereinst töten und seine Frau heiraten werde. Darauf ließ er dem Neugeborenen die Füße durchstechen und zusammenbinden und ihn von einem Hirten im Gebirge aussetzen. Der Hirte übergab das verstoßene Kind dem Königspaar von Korinth, welches es adoptierte und nach seinen geschwollenen Füßen Oidipus (altgriech.: „Schwellfuß“) nannte. So wuchs Ödipus in Korinth auf, ohne von seiner Herkunft zu wissen. Als ihm ein Orakel verkündete, dass er seinen Vater töten werde, verließ er aus Sorge um seinen vermeintlichen Vater Korinth und machte sich auf den Weg nach Theben.
Unterwegs begegnete er an einer Wegekreuzung dem mit kleinem Gefolge reisenden Laios; dieser hielt Ödipus für einen Räuber und wollte ihn nicht durchlassen, woraufhin Ödipus ihn und die meisten seiner Gefolgsleute erschlug. Somit erfüllte sich eine der zwei Prophezeiungen. Anschließend gelang es Ödipus, das Rätsel der Sphinx zu lösen und so Theben von der Sphinx zu befreien. Zur Belohnung wurde er als Nachfolger des Laios zum König von Theben ernannt und bekam Iokaste, seine Mutter, zur Frau. Somit erfüllte sich die zweite Prophezeiung.
Von ihrer Verwandtschaft nicht wissend, hatten die beiden in der Folgezeit vier Kinder miteinander. Als nach einigen glücklichen Jahren in Theben eine Seuche ausbrach, verkündete das Orakel von Delphi, der Mörder des Laios müsse gefunden werden. Ödipus untersuchte den Fall und fand heraus, dass er selbst der gesuchte Mörder war und seine eigene Mutter geheiratet hatte. Darauf erhängte sich Iokaste und Ödipus blendete sich.
Gyges
Der lydische König Gyges von Sardes ließ sich vom Orakel von Delphi seine Herrschaft bestätigen, nachdem er um 685 v. Chr. seinen Vorgänger Kandaules ermordet hatte. Dafür bedankte sich Gyges mit großzügigen Goldgeschenken für das Orakel. Doch laut Herodot sagte ihm die Pythia auch, dass Kandaules in der fünften Generation nach ihm, Gyges, gerächt werde. So geschah es tatsächlich, denn der König Krösus (siehe dazu den nächsten Abschnitt) war ein Nachfahre des Gyges und der fünfte König seiner so genannten Mermnaden-Dynastie – diese endete jedoch dann mit Krösus und seinem gescheiterten Perserfeldzug.
Außerdem soll sich der sehr reiche Gyges für den glücklichsten Menschen der Welt gehalten haben. Dies konnte ihm das Orakel von Delphi auf Nachfrage jedoch nicht bestätigen, sondern antwortete, dass Agelaos, ein unbekannter und armer Dorfbewohner in Arkadien, viel glücklicher sei.
Krösus
Krösus, der sprichwörtlich reiche letzte König von Lydien, wollte die Zuverlässigkeit von sieben Orakeln prüfen (neben Delphi z. B. das Orakel von Dodona oder von Siwa). Boten sollten am hundertsten Tag nach ihrer Abreise jedes der Orakel befragen, was Krösus gerade tue. Wie Herodot berichtet, gab nur die Pythia die richtige Antwort, und das auch noch wie zumeist in einem wohlgesetzten Vers im Hexameter, hier in entsprechender Übersetzung:
Duft von Schildkröte ward mir bewusst, dem gepanzerten Tiere,/Die in ehernem Kessel gekocht wird, und Stücke von Lammfleisch,/Erz ist darunter gelegt, und Erz wird ruh'n auf dem Kessel.
Tatsächlich hatte Krösus, um etwas schwer Vorhersehbares zu tun, an diesem Tag ein Lamm und eine Schildkröte in einem abgedeckten metallenen Gefäß gekocht. Sofern die Geschichte nicht legendarisch ist, wird daher vermutet, dass das Delphische Orakel mit Spionen gearbeitet habe.
Übel hereingefallen ist Krösus dann allerdings mit dem Orakel, das er ersuchte, bevor er 546 v. Chr. gegen den Perserkönig Kyros II. aufbrach, und das auf griechisch lautete: Kroisos Halyn diabas megalen archen katalysei, oder in lateinischer Übersetzung: Croesus Halyn penetrans magnum pervertet opum vim, in deutscher Prosa: Wenn Krösus den Halys (heute: Kizilirmak) überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören. Krösus bezog diese Weissagung auf das Perserreich, es war aber leider sein eigenes.
Themistokles
Themistokles erhielt 480 v. Chr. vom Delphischen Orakel die Weisung, Athen mit hölzernen Mauern zu verteidigen. Diese deutete er richtig als Schiffe und konnte so die Perser in der Seeschlacht von Salamis besiegen.
Chairephon / Sokrates
Berühmt ist auch die Antwort, die der Athener Chairephon auf die Frage erhielt, ob es einen weiseren Menschen als Sokrates gebe. Das Delphische Orakel entschied, dass kein Mensch weiser als Sokrates sei. Dieser erklärte diese Antwort damit, dass er sich stets bewusst sei, dass er nichts wisse, und genau dies sei die Voraussetzung für die Erlangung von Weisheit. Viele nennen deshalb Sokrates neben den Sieben Weisen den achten Weisen von Delphi.
Alexander der Große
Alexander der Große soll in Delphi um Rat gebeten haben, doch Pythia vertröstete ihn: Das Orakel finde nur zu den von den Göttern bestimmten Zeiten statt. Da er in Eile war, soll er Pythia mit Gewalt in den Tempel gezerrt haben. Daraufhin soll sie lediglich gesagt haben: „Du bist doch unüberwindlich!“.
Pyrrhus
Pyrrhus konnte die Römer 280/279 v. Chr. zweimal nur unter sehr großen eigenen Verlusten besiegen (daher der sprichwörtliche Pyrrhussieg). Vor dieser Unternehmung hatte er das Delphische Orakel um Rat gefragt und folgenden doppeldeutigen lateinischen Hexameter von der Pythia erhalten:
Aio te, Æacide, Romanos vincere posse./Ibis redibis nunquam per bella peribis.
Pyrrhus deutete dies (die nachfolgende deutsche Übersetzung in Prosa): Ich sage, Aeacide (Nachkomme des Aiakos, des Großvaters des Achilles), du kannst die Römer besiegen. Du wirst gehen und zurückkehren und niemals in Kriegen umkommen.
Grammatisch können die Sätze jedoch auch bedeuten (doppeldeutiger Subjekts- bzw. Objektsakkusativ im AcI, doppeldeutige Stellung von numquam):
Ich sage, dass die Römer dich, Aeacide, besiegen können. Du wirst gehen und niemals zurückkehren; in Kriegen wirst du umkommen.
Und so trat es ein. Pyrrhus musste sich aus Italien zurückziehen und fiel 272 v. Chr. im Straßenkampf in Argos.
Die Spende des armen Bauern
Mit dem Orakel von Delphi verbindet sich auch eine Geschichte, die der biblischen Geschichte vom „Scherflein der Witwe“ (Mk 12,41–44) inhaltlich verwandt ist: Ein reicher Kaufmann aus Magnesia wollte wissen, ob er die größten Opferspenden dargebracht habe, und erfuhr, dass der arme Bauer Klearchos aus Methydrion in Arkadien durch seine regelmäßigen bescheidenen Gaben weit Größeres geleistet habe.
Julian Apostata
Das letzte bekannte Orakel erteilte die Pythia 362 n. Chr. dem Arzt Oribasisus, der es im Auftrag des heidnischen Kaisers Julian Apostata aufsuchte. Er wollte wissen, ob das Orakel in einer sich dem Christentum zuwendenden Welt noch Zukunft hätte. Pythia sprach ein letztes Mal:
Künde dem König, das schöngefügte Haus ist gefallen. Phoibos Apollon besitzt keine Zuflucht mehr, der heilige Lorbeer verwelkt, seine Quellen schweigen für immer, verstummt ist das Murmeln des Wassers.
Pythia hatte die Zeichen der Zeit tatsächlich besser gedeutet als Julian Apostata: Dieser fiel bald darauf im Kampf und konnte das Heidentum nicht mehr wiederherstellen.

Die apollonischen Weisheiten – Erkenne dich selbst, Du bist, Nichts im Übermaß
Der Überlieferung zufolge sollen am Eingang des Tempels von Delphi die Inschriften „Erkenne dich selbst“ (gnôthi seautón, γνῶθι σεαυτόν) und „nichts im Übermaß“ (medèn ágan), angebracht gewesen sein. Insbesondere die erste, bekanntere Aufforderung deutet die eigentliche Absicht des Kultes, bzw. der verehrten Gottheit an, nämlich die Auflösung individueller Probleme und Fragestellungen durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit. Die Erkenntnis der „Innenwelt“ diente damit als Zugang zur Problemlösung in der „Außenwelt“.
Die zweite Inschrift (medèn ágan, „Nichts im Übermaß“/„Alles in Maßen“) mahnt zur Bescheidenheit im eigenen Tun.
Die Existenz dieser Inschriften ist nicht durch archäologische Funde, sondern aus der schriftlichen Überlieferungen bekannt. So lässt z. B. Platon in „Phaidros“ und primär in „Symposion“ den griechischen Philosophen Sokrates über die Bedeutung dieser Inschriften referieren.
Weit weniger bekannt ist, dass nach einer Überlieferung Charmides sowie, etwa 500 Jahre später, auch Plutarchs, zu diesen beiden Weisheiten noch eine dritte, „Du bist“ (eî), gehört. Inwieweit diese das Portal zierte, ist ungewiss. Nach Plutarchs Erzählung war sie vermutlich eher eine gesprochene Antwort der Besucher des Tempels auf die Inschriften. Durch ihre Bedeutung kann sie jedoch legitim als „dritte apollonische Weisheit“ gelten.
Während später der selbstreflexorische Teil von „gnôthi seautón“ in den Vordergrund trat, war „gnôthi seautón“ im Ursprung möglicherweise als Begrüßungswort des Apollon an die Besucher gedacht. Hier schreibt Plutarch: "Beim Eintreten spricht der Gott sozusagen jeden von uns mit seinem „Erkenne dich selbst“ an, was zumindest so gut ist wie „Heil!“."
Als Antwort darauf erwiderte der Besucher dem Gott „Du bist“.
Plutarch: " Wir antworten dem Gott mit „eî“ (Du bist), indem wir ihm die Designation übertragen, die wahr ist und in sich keine Lüge birgt und zu ihm allein gehört und zu keinem anderen, nämlich die des Seins …"
Somit richtete sich „Du bist“ ursprünglich nicht an einen selbst, ist also im Ursprung kein Bestandteil einer Selbstreflexion. Dieser Ausspruch diente der Huldigung des Gottes Apollon, beziehungsweise der Göttlichkeit an sich. Erst später wurde er zur Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Existenz umgedeutet.